# taz.de -- Armut und Inflation: Ein freudloses Leben | |
> Nahrung, Energieverbrauch, soziales Leben – wer von Armut betroffen ist, | |
> leidet enorm unter der Inflation. Vier Menschen erzählen aus ihrem | |
> Alltag. | |
Bild: „Bei Tomaten dachte ich, dass ich mir das eigentlich nicht mehr leisten… | |
Die Preise für Essen und Energie steigen und setzen damit vor allem | |
Menschen unter Druck, die von Armut betroffen sind. | |
## „Das Schlimmste ist die soziale Isolation“ | |
Ich muss nicht hungern. So schlimm ist es bei mir noch nicht. Wenn ich | |
wirklich Hunger hätte, könnte ich meine Nachbarin anrufen, sie würde mich | |
zum Essen einladen. Oder meinen Sohn, der ist berufstätig. Aber das tue ich | |
nicht gern. | |
Ich war Krankenschwester, habe unterrichtet und verschiedene | |
Zusatzausbildungen gemacht. Im Mai 2016 bin ich in Rente gegangen, arbeite | |
aber hier und da in kleinen Jobs, als Komparsin bei der Oper oder für | |
Filmproduktionen. Das Geld reicht trotzdem nicht. Vor einem Jahr wurde ich | |
an den Augen operiert und brauche seitdem dringend eine Brille, die kann | |
ich mir aber nicht leisten. | |
Seit die Inflation so hoch ist, kann ich auch kein Eis mehr essen gehen. | |
1,80 Euro für eine Kugel kann ich mir einfach nicht leisten. Einmal die | |
Woche gehe ich zur Tafel, da ist die Lage [1][seit dem Kriegsausbruch] | |
schlimm geworden. An einem Tag habe ich zwei Stunden angestanden und dafür | |
drei Möhren und ein bisschen Brot bekommen. Dafür muss man einen Euro | |
bezahlen. Einmal habe ich auch einen Salat bekommen, da habe ich mich sehr | |
gefreut, aber schon beim Aufmachen hat er gestunken, weil er schon verfault | |
war. Es ist ein freudloses Leben. Ich kaufe mir Kartoffeln und ernähre mich | |
die ganze Woche davon. Das ist manchmal schwer zu akzeptieren. | |
Aber das Schlimmste ist die soziale Isolation. Wenn die Leute irgendwo | |
Essen gehen, kann ich nicht mitgehen. Meine Hobbys wie Theater, Tanzkurse | |
oder Zeitungsabos musste ich aufgeben. Die gesellschaftliche Zurückweisung, | |
die man erfährt, ist wirklich deprimierend. | |
Laura Bauer, 71, Berlin | |
## „Ich esse immer die Reste von meinem Kind“ | |
Ich bin 28, meine Tochter ist 11 Jahre alt. Neben Hartz IV, Kindergeld und | |
Geld von der Unterhaltsvorschusskasse haben wir den Lohn, für den ich ein | |
paar Mal im Monat in einer Diskothek als Servicekraft arbeite. 13 Euro pro | |
Stunde. Wenn man davon Miete und die gestiegenen Gaskosten abrechnet, | |
bleibt am Ende nicht viel übrig. Mit der Inflation ist die Lage noch | |
schlimmer geworden, Freizeit ist jetzt gar nicht mehr drin. [2][Mit dem | |
9-Euro-Ticket] bin ich wenigstens etwas mobiler geworden, sodass ich auch | |
mal in die Stadt fahren kann. Kino oder Konzerte sind dann trotzdem nicht | |
mehr drin, das habe ich früher gerne gemacht. | |
Meine Tochter hat vor Corona immer in der Schule zu Mittag gegessen, das | |
musste ich nicht bezahlen, weil ich Hartz IV beziehe. Nachdem sie zu Hause | |
unterrichtet werden musste, stiegen die Lebensmittelpreise für einen | |
Wocheneinkauf extrem an, durch die Inflation jetzt noch mehr. | |
Meine Tochter isst gerne Erdbeeren, Himbeeren und Tomaten, und bei den | |
Tomaten dachte ich, dass ich mir das eigentlich nicht mehr leisten kann, 3 | |
Euro dafür auszugeben. Ich will aber auch nicht, dass meine Tochter auf | |
Obst und Gemüse verzichten muss. Daher verzichte ich dann auf eine Mahlzeit | |
– ich esse immer die Reste von meinem Kind. Dabei würde ich liebend gerne | |
mal wieder einen selbstgemachten Salat essen. | |
Die Politik müsste intervenieren und Sozialleistungen der Inflation | |
anpassen. Also Erhöhung des Arbeitslosengeldes II, Rentenerhöhung, | |
Unterstützung von Studierenden und Azubis und so weiter. Die Leute können | |
einfach nicht mehr. | |
Vor dem Krieg gab es auch Lebensmittelspenden. Heute muss man sich in eine | |
Warteliste eintragen, um sie zu bekommen. Da wir es ja trotzdem noch | |
irgendwie schaffen, trage ich mich nicht in die Liste ein. Es gibt immer | |
Menschen, die es schlimmer trifft als einen selbst. | |
Jasmin Rohling, 28, Landkreis Osnabrück | |
## „Wir haben ständig Sorge, dass etwas kaputtgeht“ | |
Meine Frau und ich leben in ländlicher Umgebung. Sie ist examinierte | |
Altenpflegerin, ich habe lange als Koch gearbeitet. Gesundheitlich bedingt | |
sind wir beide seit mehreren Jahren erwerbslos, und so hängen wir hier auf | |
dem Dorf fest. | |
Als gelernter Koch kann ich gesund und preiswert kochen, aber die Einkäufe | |
werden von Monat zu Monat teurer, obwohl wir weniger kaufen. Salate haben | |
wir uns diesen Winter beispielsweise komplett verkniffen. Bewusst | |
einzukaufen ist für uns finanziell nicht leistbar. Was über die | |
Discounterwurst hinausgeht, ist schlicht nicht drin. | |
Wir haben ständig Sorge, dass etwas kaputtgeht. Dann wissen wir nicht, wo | |
wir das Geld für Ersatz hernehmen sollen. Wir haben sehr alte Geräte. Diese | |
sorgen wiederum für hohe Energiekosten, weil sie viel verbrauchen. Auch ist | |
unsere Wohnung in einem erschreckenden energetischen Zustand, Isolierung | |
ist fast nicht vorhanden. | |
Die Preissteigerung für das Heizöl merken wir erst in einem Jahr, wenn die | |
Abrechnung kommt. Beim Strom hatten wir eine erste, halbwegs gnädige | |
Erhöhung. Die Preisgarantie gilt aber nur bis Ende des Jahres und wir | |
machen uns große Sorgen darüber, was danach kommt. | |
Durch unsere finanzielle Situation sind wir schon seit Jahren vom | |
kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Leben weitestgehend | |
ausgeschlossen. Das 9-Euro-Ticket haben wir gar nicht gekauft, denn es | |
fahren keine öffentlichen Verkehrsmittel, die uns zum drei Kilometer | |
entfernten Bahnhof bringen würden. Darauf sind wir beide wegen unserer | |
gesundheitlichen Situation zwingend angewiesen. | |
Thomas Rindt, 62, Niedersachsen | |
## „Mitte des Monats weiß ich nicht mehr, wie ich zur Arbeit kommen soll“ | |
Ich bin alleinerziehende Mutter und arbeite in Teilzeit als Betreuerin in | |
der Pflege. Meine Arbeitsstelle ist 40 Minuten mit dem Auto entfernt. Wir | |
leben auf dem Land und öffentliche Verkehrsmittel sind hier nicht gut | |
vertreten. | |
Ich bemerke die Inflation deshalb vor allem daran, dass ich Mitte des | |
Monats nicht mehr weiß, wie ich zur Arbeit kommen soll, weil der Sprit so | |
teuer geworden ist. Das Auto kostet mich mittlerweile über die Hälfte | |
meines Einkommens. Durch eine sehr hohe Stromnachzahlung ist die bald | |
kommende Einmalzahlung, die das abfedern soll, bereits weg. | |
Bei Lebensmitteln müssen wir uns auch einschränken. Zum Beispiel kaufen wir | |
keine Butter mehr. Frisches Obst und Gemüse sind ebenfalls nicht mehr so | |
oft drin. Beim Fleisch ist es besonders schwer: Die Überlegung, woher ein | |
Produkt kommt, können wir uns nicht mehr leisten. Aber selbst die | |
Discounter sind deutlich teurer geworden. | |
Ich habe mir von der OneWorryLess Foundation, einer Organisation, die von | |
Armut betroffenen Menschen hilft, Lebensmittelgutscheine schicken lassen, | |
weil wir sonst nicht über die Runden gekommen wären. Ohne die Stiftung | |
hätte ich auch keinerlei Möglichkeit, mit den Geschenken anderer Eltern | |
mitzuhalten. Hochwertige Kleidung ist ebenfalls nicht leistbar – aber wer | |
billig kauft, kauft zweimal. | |
Auch Bekannte, die etwas besser verdienen, haben zunehmend Schwierigkeiten. | |
Das ist das Problem: Viele Menschen können sich die Situation einfach nicht | |
vorstellen. „Du gehst doch arbeiten, also musst du ja genug Geld haben.“ | |
Aber auch erwerbstätige Menschen sind betroffen, weil die Löhne zu niedrig | |
sind. | |
Wiken Bronst, 46, Schleswig-Holstein | |
22 Jun 2022 | |
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[2] /Unterwegs-mit-dem-9-Euro-Ticket/!5858335 | |
## AUTOREN | |
Shoko Bethke | |
Josa Zeitlinger | |
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