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# taz.de -- Kleidung und ihre Produktionsbedingungen: Auf Kante genäht
> Textilfabriken in Bangladesch und Pakistan können gefährliche
> Arbeitsplätze sein. KiK-CEO Patrick Zahn will das ändern und war vor Ort.
> Eine Reportage.
Bild: Die Arbeiter:innen dieser Textilfabrik in Dhaka produzieren billige Kleid…
Kaum angekommen, stürmt Patrick Zahn die Treppen hoch. Etwas außer Puste
tritt der Chef des deutschen Textildiscounters KiK im achten Stockwerk
hinaus auf das flache Betondach der Fabrik. Draußen herrschen 35 Grad, die
Luft ist feucht, die Sonne scheint grell auf Dhaka, die Hauptstadt von
Bangladesch.
„Jetzt den Schlauch anschließen“, verlangt ein mitgereister KiK-Manager.
„Feuerwehr“ und „Rettung“ steht auf Englisch auf den gelben Westen der
beiden Arbeiter, die den Schlauch ausrollen, die Düse aufsetzen, sich in
Position stellen. Ein dritter öffnet das Ventil. Meter für Meter schwillt
die Leitung an, bis ein armdicker Strahl bräunlichen Wassers über das Dach
schießt. Zufriedenheit. Das hat geklappt.
Zahn, hellblaues Freizeithemd, hochgekrempelte Ärmel, Sportschuhe, ist auf
Kontrollbesuch in Dhaka. Er lässt sich erklären, was die Eigentümer der
Fabrik tun, um Brände zu vermeiden und zu bekämpfen. „Nun wollen wir einen
elektrischen Schaltschrank sehen“, fordert sein Mitarbeiter. Die 20-köpfige
Gruppe steigt das Treppenhaus wieder hinab.
In Deutschland ist KiK für sehr günstige Bekleidung bekannt. Eine
Herrenhose bekommt man in den Geschäften schon für 6,99 Euro, T-Shirts ab
3,99 Euro, Sportschuhe ab 9,99 Euro. Von diesem Billigimage ist nichts zu
spüren, als die KiK-Delegation einige ihrer Lieferanten in Asien besucht.
Im Gegenteil: Patrick Zahn tritt hier als anspruchsvoller Kunde auf, der
Qualität einfordert. Er drängt darauf, dass die Fabriken, die die
KiK-Textilien herstellen, Millionen Euro in die Sicherheit ihrer
Beschäftigten investieren.
Zahn bearbeitet ein Trauma. Vor neun Jahren stürzte die Fabrik [1][Rana
Plaza in Dhaka ein]. Mehr als 1.100 Tote. Vor zehn Jahren [2][brannte Ali
Enterprises in Karatschi], Pakistan, ab. 259 Tote. Wie ist die Situation
heute? Kann das überhaupt zusammenpassen – [3][billige Klamotten und gute
Arbeit]?
Ventilatoren surren unter den niedrigen Decken. Neonlicht erleuchtet lange
Reihen von Nähmaschinen. Dutzende Arbeiter:innen sitzen eng
hintereinander, mehrere Herstellungslinien nebeneinander. Dazwischen Berge
von Stoffen, Stapel von Einzelteilen, die am Ende zu Kleidungsstücken
zusammengefügt werden. Hunderte Male täglich zieht jede:r Beschäftigte
dieselben zwei, drei Nähte, gibt die Stücke an die Kolleg:innen weiter,
die die nächsten Schritte ausführen. Kurze, präzise Handgriffe, alles geht
sehr schnell. Schwere Arbeit, die leicht aussieht. Bis zu elf Stunden
täglich, sechs Tage pro Woche.
Ein Arbeiter öffnet jetzt den Schaltschrank in einer Ecke des
Produktionsgeschosses. Zahns Leute schauen sich die Verdrahtung an. Reicht
sie für die Stromstärke, in welchem Zustand sind die Sicherungen? KiK hat
von seinen Zulieferern in den vergangenen Jahren verlangt, die Elektrik zu
modernisieren, denn Kurzschlüsse können Brände auslösen. Nun wird der Strom
im gesamten Stockwerk gekappt. Das Rauschen der Propeller und Maschinen
verstummt.
Leuchten die Schilder über den Notausgängen trotzdem, damit das Personal
bei Bränden den Weg nach draußen findet? Und funktionieren die Alarmsirenen
in allen Stockwerken? Abgehacktes, lautes Tröten. Okay. Zahn nickt. Hört
sich gut an.
Weiter zum Check der Feuerlöscher im Erdgeschoss. Vorbei an den Näherinnen
und Nähern, die die Fremden fasziniert und ein bisschen ängstlich
betrachten, hetzt der Tross. Mit dabei immer ein paar Arbeiter:innen, die
eilfertig Papiertücher reichen, wenn den Besucher:innen der Schweiß
über die Gesichter rinnt.
Die KiK-Leute drängeln. Sie reiten hier ein wie die Herren, geben
Anweisungen, setzen die einheimischen Manager unter Druck. Der Besuch war
zwar angekündigt, aber erst vor Ort entscheiden Zahn und seine Leute, was
genau sie sehen wollen. Die Fabrik soll keine Chance haben zu schummeln.
Alle Sicherheitssysteme müssen jederzeit funktionieren. „Wir reden Tacheles
und lassen uns nicht einlullen“, sagt der KiK-Chef. „Wir haben die
Erfahrung gemacht, dass es der größte Fehler ist, wenn man zunächst mit den
Besitzern im Büro plaudert und sich dann erst etwas zeigen lässt.“
Welche Fabriken bei dieser Reise besucht werden, hat KiK ausgesucht. Der
journalistische Einblick ist deshalb begrenzt. Denkbar ist, dass alle
Firmenvertreter und Beschäftigten ein geschöntes Bild zeichnen. Nicht
ausgeschlossen, dass die Arbeitsbedingungen anderenorts schlechter sind,
beispielsweise bei den Zulieferern der Zulieferer.
Der Korrespondent, der die Reise unter anderem mit Unterstützung der taz
unabhängig finanziert, ist der einzige Medienvertreter. KiK-Chef Zahn will
demonstrieren, dass sich in seiner Firma etwas verändert hat.
Es geht um viel. In dem Fabrikgebäude Rana Plaza, das 2013 einstürzte,
waren auch Textilien für KiK hergestellt worden. Über 1.100 Beschäftigte
starben, 2.500 weitere wurden verletzt. So etwas soll nicht noch einmal
passieren. Damals erst merkten viele Kund:innen in Europa und
Nordamerika, unter welch schlechten Bedingungen die Herstellung ihrer
Konsumgüter stattfand.
Hatte KiK als Textildiscounter in wohlhabenden Bevölkerungsschichten vorher
schon keinen guten Ruf, sackte das Image durch Rana Plaza noch weiter ab.
„Viele Bürger hatten Bedenken, ob sie unsere Produkte kaufen können“, sag…
Zahn [4][2017 in einem taz-Interview]. Und „neue Mitarbeiter zu finden,
gestaltete sich zeitweise schwierig, weil Vorbehalte gegen die Firma
bestanden“.
Auch wegen Rana Plaza beschloss der Bundestag im vergangenen Jahr [5][das
Lieferkettengesetz]. Ab Anfang 2023 müssen alle in Deutschland tätigen
Unternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten die sozialen und ökologischen
Menschenrechte der Arbeiter:innen ihrer weltweiten Zulieferfabriken
schützen – in allen Branchen, nicht nur in der Textilwirtschaft. Und bald
dürfte eine EU-Richtlinie folgen, die noch schärfer ausfällt als das
deutsche Gesetz (s. Kasten auf Seite 30). Währenddessen hat KiK – als Folge
der Rana-Plaza-Katastrophe – einen Teil des Wegs schon zurückgelegt, den
die meisten Firmen erst beginnen.
Zwei Autostunden von der Zulieferfabrik entfernt sitzt Amirul Haque Amin in
einem fensterlosen Besprechungsraum an einem langen, blauen Tisch. Seine
Mitarbeiterin bringt Kaffee. Die Wände sind mit farbenfrohen Flugblättern
für Demonstrationen, Plakaten, Aufrufen und Zeitungsausschnitten tapeziert,
auf vielen ist Amin, der Boss, zu sehen. Er leitet die Nationale
Textilarbeiter-Gewerkschaft von Bangladesch – die größte und älteste
derartige Organisation, wie er sagt. Amin reicht nicht, was KiK tut. Ja,
das Leben der Beschäftigten sei nun besser geschützt. Was aber ist mit dem
Lohn?
8.000 Taka beträgt der staatlich festgesetzte Mindestlohn, erklärt der Mann
mit den kurzen, grauen Haaren, umgerechnet rund 82,50 Euro für einen Monat
Arbeit. Erstaunlich wenig, Hartz-IV-Empfänger bekommen in Deutschland das
Zehnfache. Aber Bangladesch ist ein armes Land. Dort leben doppelt so viele
Menschen wie hier, und ihnen steht nur etwa ein Zehntel unseres Wohlstandes
zur Verfügung. Also sind die Löhne viel niedriger.
In einem armen Land produzieren lassen, in einem reichen verkaufen – das
ist ein Mechanismus der Globalisierung. Auch seine 100 Zulieferer im Land
zahlen den Mindestlohn, erklärt KiK, plus Zuschläge für höhere
Qualifikation und Überstunden. So erhalten viele Arbeiter:innen
Monatsverdienste von bis zu 13.000 Taka, ungefähr 136 Euro. „Aber das ist
nicht genug“, schimpft Amin nun, „es müssten mindestens 20.000 sein.“
An seinem einzigen freien Tag ist ein Arbeiter zu Amin ins Büro gekommen –
extra, um mit dem Journalisten zu sprechen. Hossain, 25 Jahre, ist Näher in
einer der KiK-Fabriken. Mit Vater, Mutter, Schwester und Bruder lebt er in
einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Der Vater arbeitet auf dem Bau, Hossain selbst
bringt 13.000 Taka nach Hause. Er rechnet vor: Die Miete kostet fast
10.000, die Lebensmittel für einen Monat 15.000.
Damit seien die beiden Einkommen nahezu aufgebraucht, mit den täglichen
Busfahrten, Kleidung und Hygieneartikeln wird es schon knapp.
Beispielsweise für Arztbesuche bleibe nichts übrig. Als sein Bruder krank
wurde, berichtet Hossein, habe er einen Kredit für die Behandlung
aufgenommen, den er bis heute abbezahle. Eine öffentliche
Krankenversicherung gibt es nicht.
Existenzsicherndes Einkommen, „living wage“, heißt das Konzept, das
Gewerkschafter wie Amin dieser kargen Realität entgegensetzen. Für
Bangladesch sollte es zwischen dem Zweieinhalb- und Fünffachen des
Mindestlohns liegen, je nach Berechnung verschiedener Organisationen. Und
wie ließe sich das finanzieren? „KiK könnte seinen Lieferanten höhere
Einkaufspreise zahlen“, schlägt Amin vor.
Diese Prämie müssten die Fabriken dann an ihre Beschäftigten weiterreichen.
Heute sei das Gegenteil die Regel: Die europäischen und amerikanischen
Firmen würden ihre Lieferanten in Bangladesch gegeneinander ausspielen,
deren Preise drücken und so verhindern, dass die Gehälter der
Arbeiter:innen steigen. Amins Kollegin Kalpona Akter sieht es ähnlich:
„Zusammen mit anderen Auftraggebern sollte KiK vorangehen“ und Prämien üb…
den zu niedrigen Mindestlohn hinaus zahlen.
Patrick Zahn ist auf dem Weg zur nächsten Fabrik. Der Chauffeur lenkt. Man
sitzt klimatisiert auf der Rückbank des geräumigen Toyota-SUVs. Reisezeiten
von zwei Stunden für 15 Kilometer sind keine Seltenheit. Außerhalb der
getönten Scheiben spielt sich das tägliche Gewühl der
18-Millionen-Einwohner-Stadt Dhaka ab. Hitze, Staub, Stau, alle hupen. Wo
immer eine Gasse entsteht, quetschen sich Motorrikschas und Mopeds
hindurch, auf denen manchmal ganze Familien sitzen.
„Ich will mit gutem Gewissen ins Bett gehen können“, sagt der 45-jährige
Zahn. Seit 2016 führt er KiK im Auftrag der Eigentümer, der
Tengelmann-Gruppe. Zuvor leitete er dort den Vertrieb. Die Katastrophen in
den Fabriken Rana Plaza und Ali Enterprises, die Toten und das Leid der
Hinterbliebenen hätten ihn „tief angetrieben, das Unternehmen zu
verändern“. Wenn er hinzufügt „Das haben wir geschafft“, wirkt er im Re…
mit sich. Was aber ist mit den miesen Löhnen in den Textilfabriken? Deren
Existenz lässt sich kaum bestreiten.
Zahn zählt Argumente auf. Erstens: Die Fabriken gehören nicht KiK, sondern
selbstständigen Unternehmern in Bangladesch. Zahn zahlt Preise für
Lieferungen, nicht Löhne für Beschäftigte. Für Letztere sei nicht er als
Auftraggeber verantwortlich. Sondern, zweitens, unter anderem die Regierung
von Bangladesch, die den Mindestlohn festlege. Dieser ist seit seiner
Einführung im Jahr 2013 von 3.000 Taka auf mittlerweile 8.000 Taka
gestiegen.
Weitere Erhöhungen dürften folgen. Drittens will Zahn nicht andere Firmen
wie Aldi, Lidl, Pepco oder Inditex (Zara) subventionieren, die teilweise in
denselben Zulieferfabriken produzieren lassen. Zahlte KiK einseitig höhere
Preise, hätten diese Konkurrenten einen Kostenvorteil, weil sie sich nicht
beteiligen.
Aber kann der Discounter leicht höhere Einkaufspreise nicht verschmerzen,
wenn er sie an seine Kund:innen in den Geschäften weiterreicht?
Schließlich beträgt der Anteil des Arbeitslohns, der beispielsweise in
einer Zehn-Euro-Jeans steckt, nur wenige Prozent, sodass schon ein
Aufschlag von etwa 50 Cent im Endkundenpreis ausreichen müsste, um die
Verdienste der Zulieferbeschäftigten etwa zu verdoppeln – wenn sie diese
Prämie ausgezahlt bekämen.
„Kunde ist König“ – dafür steht die Abkürzung KiK. Vergleichsweise arme
Leute können sich beim Discounter für rund 40 Euro von den Schuhen bis zur
Jacke einkleiden. Wer Hartz IV bezieht oder einen Niedriglohn – das
betrifft in Deutschland etwa ein Fünftel der Bevölkerung – spüre einen
Preisaufschlag von 50 Cent pro Kleidungsstück durchaus und gehe dann
mitunter lieber zur Discount-Konkurrenz, sagt Zahn.
KiK verliert dann Marktanteile, fürchtet er. Ein schwieriges Argument:
Niedrige Löhne in Deutschland begründen so niedrige Löhne in Bangladesch.
Armut rechtfertigt Armut.
In der nächsten Fabrik erwarten Zahn mit Gewehren bewaffnete
Sicherheitsleute vor dem Metalltor. Die beiden dicken Limousinen rollen auf
den Hof, der Firmenbesitzer, seine Tochter plus Untergebene begrüßen den
Kunden aus Deutschland, dann startet der Sicherheitscheck. Auf dem Weg
begegnet Zahn sich selbst. Er lächelt von einem großformatigen
Begrüßungsfoto, das im Treppenhaus hängt, daneben der Plan der Fluchtwege.
Hier verlangen die KiK-Leute auch, Interviews mit dem Beschäftigten-Komitee
zu führen, das Beschwerden der Arbeiter:innen bearbeiten soll. Ein
tiefgekühlter Besprechungsraum, glänzende Bodenfliesen, dunkler
Schreibtisch. Vertreter der Zulieferfirma sind nicht anwesend. Der junge
Arbeiter – barfuß, Corona-Maske über dem schwarzen Bart – ist
Vize-Vorsitzender des Komitees. Unter anderem berichtet er, dass er
regelmäßig 11 Stunden täglich an der Nähmaschine sitze, zu den 8 regulären
kämen 3 Überstunden. Macht 66 Arbeitsstunden wöchentlich.
Abendessen im Hotel. Zahn, unrasiert, Hemd zerknittert, plaudert. Er ist
ein nahbarer Typ, interessiert sich für Erfahrungen und Meinungen anderer
Leute. Manager-Arroganz ist kaum zu spüren. Wobei er einräumt, eine „kurze
Lunte“ zu haben.
Als er jetzt eher nebenbei von der langen Arbeitszeit in der Fabrik
erfährt, sackt seine Laune schlagartig unter null. 66 Stunden pro Woche
widersprechen dem Verhaltenskodex von KiK, der in den Zulieferfirmen
aushängt. Dieser orientiert sich auch am deutschen Arbeitszeitgesetz: 60
Stunden wöchentlich sind Obergrenze.
Noch beim Essen ordnet Zahn eine Untersuchung an. Er will wissen, ob die
Zeitüberschreitung eine Ausnahme oder Alltag ist. Sein Mitarbeiter windet
sich: Das könne immer mal vorkommen, gleiche sich im Verlauf von Monaten
aber aus.
„Wenn diese Information stimmt, dann geht das so nicht und wir schicken
morgen unsere Agentur hin“, befiehlt Zahn. KiK arbeitet mit einheimischen
Vermittlern zusammen, die das tägliche Geschäft zwischen Lieferant und
Kunde koordinieren, aber auch unangemeldete Kontrollvisiten durchführen.
Am nächsten Abend ist das Ergebnis da: Zu lange Arbeitszeiten kommen in der
Firma bei 10 Prozent des Personals vor. KiK gibt dem Management nun einige
Wochen Zeit, den Fehler abzustellen. Bei einem weiteren Besuch werden die
beauftragten Kontrolleure das überprüfen.
Zahn ärgert sich. Wer ist denn Mitglied im „Accord on Fire and Building
Safety in Bangladesh“ und wer nicht? Das ist ein Vertrag zwischen
internationalen Auftraggebern und Gewerkschaften, erstmals abgeschlossen
2013 als Reaktion auf die Rana-Plaza-Katastrophe. Rund 1.700 Textilfabriken
in Bangladesch werden regelmäßig kontrolliert, ob sie baulich stabil und
gegen Feuer geschützt sind. Fast 200 global agierende Unternehmen machen
mit – aus Deutschland unter anderem Adidas, Aldi, Esprit, Hugo Boss, Lidl,
Rewe. Und KiK. Händler wie New Yorker, Tedi, Woolworth oder auch Pepco aus
Polen fehlen dagegen auf der Liste.
„Wir haben einige Wettbewerber, die niedrigere Standards praktizieren als
KiK und von unseren Anstrengungen profitieren“, sagt Zahn. Für Kritik solle
man sich doch in erster Linie diese Firmen vorknöpfen und nicht ständig in
seinem Unternehmen nach Problemen suchen. Er fühlt sich ungerecht
behandelt.
Zur Wahrheit gehört jedoch auch: In der Lohnfrage bewegt sich so gut wie
nichts. Gezahlt werden meist nur die von den Regierungen der
Produktionsländer festgesetzten Mindestlöhne plus Überstunden. Wobei die
Untergrenze bloß bei einem Drittel oder Viertel dessen liegt, was
Organisationen wie die Asia Floor Wage Alliance, ein Zusammenschluss von
Aktivisten, Gewerkschaftern und Wissenschaftlern, als existenzsichernde
Bezahlung errechnen. Ausnahmen praktizieren allenfalls kleine Unternehmen,
die sich an Fairtrade-Standards orientieren – wobei deren Marktanteil über
eine Nische im Textilhandel bisher nicht hinauskommt.
Dieser Stillstand liegt auch an KiK, aber nicht nur. Auch die anderen
europäischen und nordamerikanischen Auftraggeber bewegen sich nicht. Bei
den Lohnkosten schlagen sich die großen Marken insgesamt in die Büsche.
Die Löhne der Lieferanten machen einen kleinen, doch relevanten Posten in
den Kalkulationen der Unternehmen aus. Wächst dieser, wird es auf die eine
oder andere Art teurer, etwa in Gestalt einer geringeren Gewinnmarge,
höherer Endkundenpreise oder eines sinkenden Marktanteils. Und das wollen
alle vermeiden.
Inmitten seines Fabrikareals hat der Besitzer sich und seinen
herausgehobenen Gästen eine kleine Oase in dem grauen, lauten und wühligen
Industriegebiet von Dhaka eingerichtet: Ein künstlicher Weiher, am Rand
stehen Mangobäume, der Meeting-Pavillon ist über einen hölzernen Steg zu
erreichen. Die Küche ist ausgestattet mit High-end-Haushaltselektronik aus
Europa, man reicht Pizza, Obst und Chickenwings, scharf gewürzt. Kunde und
Lieferant plaudern übers Geschäft.
Der Eigentümer erwähnt, dass die Preisvorstellung von KiK seine Gewinnmarge
gegen null drücke. Das lässt sich bezweifeln, wie der Ort des Gesprächs
zeigt. Gegenfrage: Würde er die Löhne der Arbeiter:innen erhöhen, wenn
der deutsche Auftraggeber die von den Gewerkschaften geforderte Prämie
zahlte? Es folgen Ausflüchte und Umschweife. Angeblich steigen die Löhne
sowieso, weil es schwer sei, Personal zu bekommen.
Das Hin- und Hergeschiebe der Verantwortung geht beim Verband der
Textilindustrie von Bangladesch weiter. Bessere Gehälter für die
Beschäftigten? Wären die ausländischen Konzerne großzügiger, ließe sich
vielleicht etwas machen, heißt es. Aber die Arbeitnehmer:innen sollten
bitte auch etwas bescheidener sein. Schließlich verdienten sie schon jetzt
mehr als die Lehrer:innen an staatlichen Schulen.
Sie geht Patrick Zahn auf die Nerven, die ständige Debatte über die zu
niedrigen Löhne. Trotzdem scheint er nicht ganz untätig bleiben zu wollen.
Nach einigen Tagen Fabrik-Hopping formuliert er eine Idee: Ließe sich der
Bangladesch Accord nicht um eine soziale Säule erweitern?
Könnten Kunden, Lieferanten und Gewerkschaften nicht gemeinsame
branchenweite Lohnerhöhungen vereinbaren, mit dem großen Vorteil, dass sie
für die Mehrheit der Firmen gleichermaßen gelten würden? Einzelne
Unternehmen liefen so nicht Gefahr, die Kosten alleine zu tragen und ihre
Marktposition zu verschlechtern. Ein wesentliches Argument Zahns gegen
auskömmliche Verdienste in der Lieferkette fiele damit weg.
Gewerkschafter Amin kann der Idee etwas abgewinnen – grundsätzlich. Im
nächsten Moment ist er skeptisch: „Wollen die das wirklich?“ Oder ist es
wieder nur ein Vorschlag, um Zeit zu gewinnen? Das lässt sich
augenblicklich schwer sagen. Wobei der Accord in der nächsten Zeit
eigentlich anderes auf dem Programm hat. Ein weiteres Land, zum Beispiel
Pakistan, soll aufgenommen werden. Dann würden alle Ressourcen zunächst
dafür verwendet, die Sicherheit Tausender zusätzlicher Fabriken auf den
nötigen Stand zu heben. Schneller ginge es wohl, wenn KiK mit anderen
Konzernen ein Pilotprojekt zum Existenzlohn in einigen Zulieferfirmen
startete.
Auch Zahns Reise führt ihn nach Pakistan, das Land ist für KiK heikler als
Bangladesch. Ohne ein Abkommen wie den Accord machen die Marken und ihre
Zulieferer, was sie wollen. Zuletzt klagten Hunderte Arbeiter:innen
einer Textilfabrik in Faisalabad darüber, [6][mehrere Monate nicht von den
britischen Auftraggebern bezahlt worden zu sein] und deshalb teils um Essen
betteln zu müssen.
Und für Patrick Zahn ist das Desaster, das sich in Pakistan vor zehn Jahren
zutrug, zudem noch mehr mit dem Namen seiner Firma verbunden als der
Einsturz von Rana Plaza. Beim Brand der Textilfabrik Ali Enterprises 2012
starben 259 Beschäftigte. KiK zahlte Schadensersatz. Jahrelang verhandelte
das Landgericht Dortmund über die Klage von Opfern und Angehörigen auf
zusätzliches Schmerzensgeld. Es war ein Präzedenzfall, wenngleich KiK wegen
Verjährung ohne Urteil davonkam.
Bei den Besuchen der KiK-Zulieferer in Karatschi, einer Hafenstadt am
Indischen Ozean, schwingt die Erinnerung an Ali Enterprises mit: Bei den
Befragungen durch die KiK-Leute definieren manche Arbeiter:innen ihre
Wohnorte, indem sie die Entfernung zum Ort der Katastrophe angeben.
Von seinem Verdienst bei einem der dreißig KiK-Zulieferer könne er aber
ganz gut leben, sagt der Arbeiter im hellblauen Salwar Kameez, dem
knielangen Hemd, das hier viele Männer tragen. Ungefähr 20.000 Rupien (etwa
95 Euro) bringe ihm die Arbeit an der Nähmaschine monatlich ein, etwas mehr
als den Mindestlohn von 19.000. Und reicht das für einen erträglichen
Lebensstandard? Ja, lautet die Antwort, schließlich lebe er im
Familienverband, Vater und Bruder verdienten ebenfalls. So könne man auch
etwas Geld zurücklegen.
Ähnliches berichtet eine Arbeiterin im schwarzen Schleier. Auch sie komme
mit dem Mindestlohn einigermaßen zurecht, wobei sie als Alleinverdienerin
vier minderjährige Kinder und ihre Mutter mitfinanziere.
„Das kann nicht stimmen“, sagt dazu Nasir Mansoor, der den pakistanischen
Gewerkschaftsbund leitet. Er rechnet vor, dass allein die Miete und die
wegen der Inflation stark steigenden Lebensmittelpreise den Mindestlohn
auffräßen. Seine Erklärung: Wahrscheinlich berichteten die
Arbeiter:innen geschönte Versionen ihrer Lebensumstände, da sie damit
rechneten, dass der Inhalt der Gespräche den Arbeitgebern zugetragen werde.
Wenn KiK Wert auf wahrheitsgemäße Aussagen lege, müssten die Interviews
außerhalb der Fabriken und anonym stattfinden, rät Mansoor. Er sagt: „Seit
Ali Enterprises gab es in den Firmen nur kosmetische Verbesserungen.“ Für
KiK sind solche Informationen der Beschäftigten dagegen Bestätigung, dass
die Gewerkschaften die Bedeutung der angeblich zu schlechten Bezahlung
hochspielten.
Patrick Zahn konzentriert sich auf die Sicherheit. Ein weiterer
Fabrikbesuch in Karatschi, Probealarm im zweiten Stock: Das Licht geht aus,
die Maschinen verstummen. Und jetzt? Ein paar Arbeiter schlendern zum
Treppenhaus, viele bleiben, quatschen, scherzen. Einer der KiK-Mitarbeiter
verlangt lautstark, die Fabrik endlich zu räumen. Schließlich sind alle
draußen – viel zu langsam, falls es wirklich brennt. Im Gebäude fehlen
außerdem Brandschutztüren, und die Verdrahtung der Rauchmelder ist marode.
„Heute Abend fliege ich zurück“, wendet sich Zahn an den Besitzer, als sie
wieder im Büro sitzen, „Bei Ihrer Fabrik sehe ich noch diverse Baustellen“.
18 Jun 2022
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[5] /Bundestag-beschliesst-Lieferkettengesetz/!5774706
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