# taz.de -- Notsituation Klimawandel: Klimakrise löst Schuldenbremse | |
> Hohe Klimaziele bei harter Schuldenbremse – ein Gutachten zeigt Wege aus | |
> dem Bremer Dilemma. Besonders eine Lösung ist für alle Länder spannend. | |
Bild: Klimaschutz braucht Wärmedämmung. Woher die Länder das Geld dafür bek… | |
BREMEN taz | Sieben Milliarden Euro: So viel Geld braucht das Land Bremen, | |
um seine Klimaziele zu erreichen, also bis 2038 klimaneutral zu werden. Das | |
entspricht in etwa dem, was in der jüngeren Vergangenheit für ein | |
Haushaltsjahr für das ganze Land verbraucht wurde. Wie dieses Geld | |
aufgetrieben werden und wie Bremen trotz Schuldenbremse Mittel für den | |
Klimaschutz generieren kann, hat jetzt der Finanzrechtswissenschaftler | |
Joachim Wieland in einem Gutachten aufgezeigt. In einem Punkt denkt er | |
dabei weit über Bremen hinaus. | |
Das Rechtsgutachten ist [1][vor Abschluss ihrer Arbeit im Dezembe]r noch | |
von der Bremer Enquete-Kommission Klimaschutz beauftragt worden. Es ist ein | |
Möglichmachergutachten – gleich mehrere Wege zeichnet es vor, einige davon | |
landesspezifisch, andere wegweisend für ganz Deutschland. Dabei ist die | |
Ausgangslage deprimierend: Bisher hatte Bremen für die nächsten Jahre in | |
dem Bereich etwa 200 Millionen Euro jährlich als Haushaltsmittel | |
vorgesehen; Reserven gibt es nicht, das Land ist hoch verschuldet. | |
Auf dem Kapitalmarkt gibt es zwar Geld, das man sich günstig leihen könnte; | |
dank Negativzinsen macht der Bund mit seinen neuen Staatsschulden momentan | |
sogar ein Plus. Vor neuen Schulden aber steht die Schuldenbremse, seit 2009 | |
im Grundgesetz verankert. Bremen hat in die eigene Landesverfassung sogar | |
eine noch strengere Variante aufgenommen. | |
Auf das Grundgesetz hat das kleine Land wenig Einfluss; die eigene | |
Schuldenbremse könnte es aber ändern. Laut Bremer Landesverfassung ist es | |
auch den landeseigenen Betrieben verboten, Schulden zu machen. Nur zwei | |
Bundesländer handhaben das so streng. Anderswo, etwa in Hamburg, bauen | |
einfach die Wohnungsgesellschaften die öffentlichen Gebäude – und zahlen | |
ihren Kredit zurück, indem sie Miete von der Stadt kassieren. | |
Auch sonst verbietet sich Bremen Schlupflöcher: Das Land hat auch seinen | |
beiden Städten Bremen und Bremerhaven Neuverschuldung verboten. Das müsste | |
nicht so sein: Die Flächenländer geben ihren Kommunen keine solchen | |
Vorschriften, dort dürfen Städte Schulden machen. Wenn das auch Bremen und | |
Bremerhaven wieder erlaubt wäre, wäre viel gewonnen: Schließlich sind die | |
Kommunen für viele klimarelevante Aufgaben zuständig. | |
Allerdings müsste dafür die Landesverfassung geändert werden, zwei Drittel | |
der Abgeordneten in der Bremer Bürgerschaft müssten dafür stimmen. Komplett | |
unmöglich ist das nicht, aber eine Mehrheit gibt es für den Vorschlag | |
aktuell wohl nicht: Linke und SPD sind aufgeschlossen, die Grünen geben | |
sich zögerlicher. Und auch die CDU, deren Stimmen man für eine | |
Zwei-Drittel-Mehrheit bräuchte, wiegelt ab: Man hält dort eine Änderung | |
schlicht nicht für nötig. „Wir können das innerhalb der Schuldenbremse | |
stemmen, das zeigt das Gutachten ganz klar“, so Martin Michalik, | |
klimawandelpolitischer Sprecher der Fraktion. | |
Und tatsächlich: Auch ohne etwas an der Verfassung, ja sogar ohne etwas an | |
Gesetzen zu ändern, hat Bremen laut Wielands Gutachten Möglichkeiten – man | |
muss nur die bestehenden Regeln neu lesen. Denn dass alle öffentlichen | |
Unternehmen keine Schulden machen dürfen, liest der Rechtswissenschaftler | |
aus der Landesverfassung gar nicht heraus. Wieland interpretiert den | |
[2][entsprechenden Artikel 131a, Absatz 5] so, dass die Unternehmen des | |
Landes nur dann keine Schulden aufnehmen dürfen, wenn der Auftrag vom Land | |
kommt und zusätzlich die Zinsen und Tilgungen für die Kredite aus dem | |
Landeshaushalt kommen müssen. | |
Völlig neu ist diese Interpretation nicht. In der letzten Zeit hatte Bremen | |
diese Möglichkeit sogar schon genutzt und Kita- und Schulbau so den | |
städtischen Wohnungsbaugesellschaften überlassen. „Ich habe den Artikel | |
schon immer so gelesen, dass das geht“, sagt der SPD-Abgeordnete Arno | |
Gottschalk. „Aber es gab bisher eben auch Gegenstimmen.“ Dass jetzt ein | |
renommierter Verfassungsrechtler genau so argumentiert, dürfte Zweifler | |
überzeugen. | |
## Klimawandel als Notsituation verändert alles | |
[3][Wielands Gutachten] geht über diese bremenspezifischen Fragen aber noch | |
weit hinaus und stellt eine Grundsatzfrage: Kann der Klimawandel die | |
Schuldenbremse sogar aushebeln? | |
Die Schuldenbremse im Bund sieht eine Ausnahmeregelung für | |
„außergewöhnliche Notsituationen“ vor, damit Bund und Länder handlungsf�… | |
bleiben. Weil niemand im Vorhinein sagen kann, was eine Notsituation | |
eigentlich ist, gibt es keine abschließende Aufzählung, sondern nur drei | |
Kriterien: Eine Notsituation muss „außergewöhnlich“ sein, ihr Eintritt mu… | |
sich der Kontrolle des Staates entziehen, und die Auswirkungen auf den | |
Haushalt müssen erheblich sein. | |
Explizit nennt der Gesetzgeber in seinen Kommentaren die Finanzkrise von | |
2009 – aber auch als positive Referenzerfahrung die Deutsche Einheit. | |
Aktuell findet die „Notsituation“ bei der Pandemiebekämpfung Anwendung; | |
[4][Bremen hat darüber seinen Bremenfonds] mit ganzen 1,2 Milliarden Euro | |
auflegen können. | |
Wieland stellt die These auf, dass auch die Klimakrise „eine | |
außergewöhnliche Notsituation“ in diesem Sinne darstellt. Das ist | |
naheliegend, schließlich hat das Bundesverfassungsgericht 2021 Bund und | |
Ländern angesichts der bevorstehenden Klimakatastrophe einen klaren | |
Handlungsauftrag gegeben. Eine Pflicht also, die Bremen als Bundesland | |
nicht beeinflussen kann. Und eine Pflicht, die zu erheblichen Investitionen | |
führen wird. | |
## Urteil des Bundesverfassungsgerichts spricht für Wieland | |
Die Klimakrise, argumentiert Wieland, sei auch nicht der Normalzustand, | |
sondern außergewöhnlich. Sie werde zwar lange andauern. Das aber habe auch | |
für die Folgen der Deutschen Einheit gegolten. | |
Wieland ist nicht der erste, der sich der Frage stellt. Aber bisher hatten | |
Juristen argumentiert, dass es aufgrund des Klimawandels keine unmittelbar | |
drohenden Gefahrenzustände von erheblichem Ausmaß gebe. Das stimme nicht, | |
meint Wieland: Die Flutkatastrophe aus dem Ahrtal zeige, dass die | |
Auswirkungen schon heute zu spüren seien. | |
Noch wichtiger vielleicht: Die bisherigen Begründungen wurden [5][vor dem | |
Urteil des Bundesverfassungsgerichts] erstellt, also bevor die Pflicht zu | |
handeln Verfassungsrang bekommen hat. Das Bremer Gutachten dürfte auch | |
Entscheidungsträger im Rest der Republik aufhorchen lassen. | |
19 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Klimaschutzstrategie-fuer-Bremen/!5820700 | |
[2] https://www.bremische-buergerschaft.de/fileadmin/user_upload/Informationsma… | |
[3] https://www.bremische-buergerschaft.de/drs_abo/2022-02-14_Drs-20-1345_2b8e6… | |
[4] /Bremen-nimmt-mehr-Schulden-auf/!5758344 | |
[5] /Urteil-des-Bundesverfassungsgerichts/!5769091 | |
## AUTOREN | |
Lotta Drügemöller | |
## TAGS | |
Bremen | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Schuldenbremse | |
Enquete-Kommission | |
Christian Lindner | |
Bremen | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Senat Bremen | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
SPD Bremen | |
Robert Habeck | |
Grüne Bremen | |
[tazze]IG | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Einsparungen im Bundeshaushalt: Sparen ist nicht normal | |
Finanzminister Lindner setzt beim Bundeshaushalt 2024 den Rotstift an. Das | |
Ergebnis ist ein sozialer Kahlschlag. | |
Schulden für Klimaschutz und Kriegsfolgen: Bremen plant Doppel-Wumms | |
Der Bremer Senat will die Schuldenbremse aushebeln, um Geld für Klimaschutz | |
und Kriegsfolgen aufzunehmen. Geplant sind drei Milliarden Euro. | |
Schuldenregeln in Europa: EU reißt erneut Stabilitäts-Pakt | |
Erst Corona, nun der Ukrainekrieg: Die EU-Kommission setzt die | |
Defizitregeln erneut aus. Die erwartete EZB-Zinserhöhung macht alles noch | |
schwieriger. | |
Enquetekommission für Klimaschutz: Bremse für Klimaschutz | |
Seit gut vier Monaten hat Bremen eine ausgetüftelte Klimaschutzstrategie. | |
Die Umsetzung der Maßnahmen stellt den Senat vor große Herausforderungen. | |
Europäische Wirtschaft und Klimaschutz: Noch nicht alle auf Kurs | |
In Europas Wirtschaft verlaufen die Emissionsreduktionen nicht so schnell, | |
wie es die Pariser Klimaziele verlangen. Doch es gibt auch Fortschritte. | |
Klimaschutzstrategie für Bremen: Das gute Klima ist vorbei | |
Bremen hat die wahrscheinlich stärkste Klimaschutzstrategie unter den | |
Ländern. Kaum ist das Papier im Landtag, hagelt es parteipolitische | |
Parolen. | |
Robert Habeck als Wirtschaftsminister: Die Visionen des Robert H. | |
Der neue Wirtschaftsminister will den Kapitalismus nicht abschaffen, | |
sondern ihn für die Wende zur Klimaneutralität einspannen. Kann das | |
klappen? | |
Klimaschutzstrategie für Bremen: Auf dem Weg | |
Bremen hat eine Klimaschutzstrategie 2030, die sich sehen lassen kann. Am | |
Freitag legte die extra eingesetzte Enquetekommission ihren Bericht vor. | |
Anwalt über erfolgreiche Klimaklagen: „Klimaschutz hat Verfassungsrang“ | |
Was aus dem bahnbrechenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum | |
Klimaschutzgesetz folgt, erklärt der Anwalt Remo Klinger. |