# taz.de -- Kritik am Koalitionsvertrag: „Abkehr von sozialer Stadtplanung“ | |
> Die Linke Katalin Gennburg kritisiert die Fokussierung der SPD auf den | |
> Neubau durch Private. Sie wirbt für ein Nein ihrer Partei zur Koalition. | |
Bild: Neubau, egal was, egal wo | |
taz: Frau Gennburg, Sie sprechen sich gegen die Annahme des | |
Koalitionsvertrags aus, kritisieren vor allem die Übernahme des | |
Stadtentwicklungsressorts durch die SPD. Befürchten Sie den großen Bruch | |
zur Politik der vergangenen fünf Jahre? | |
Katalin Gennburg: Ja, das ist exakt die Befürchtung. 2016 hatten wir den | |
klaren Auftrag durch den zuvor übernommenen [1][Mietenvolksentscheid], die | |
kommunale Wohnraumversorgungspolitik sozial auszurichten. Es ging darum, | |
den Einfluss der Privaten und deren Preistreiberei am Wohnungsmarkt massiv | |
zurückzudrängen und stattdessen die kommunalen Wohnungsunternehmen als | |
Garant für leistbare Mieten in den Mittelpunkt zu stellen. Diese | |
Ausrichtung wird von der SPD jetzt rückabgewickelt. Das erinnert an die | |
1990er Jahre, als die SPD schon einmal eine aktive Aufwertungspolitik | |
betrieben hat, die dann erst zu Gentrifizierung und Verdrängung führte. | |
Sie unterstellen der SPD ein ideologisches Programm. | |
Die SPD hat schon damals die strategische Aufwertung von | |
Arbeiterstadtteilen betrieben und damit die Verdrängung von Armen zugunsten | |
Besserverdienender. Das sollte die Haushaltseinnahmen nach oben treiben und | |
gleichzeitig soziale Ausgaben minimieren, indem man arme Menschen dann | |
möglicherweise nicht mehr in der Stadt hat. Jetzt setzt die SPD wieder auf | |
Neubau für die Mittelschicht, während sie gleichzeitig die soziale Mischung | |
der Großsiedlungen als Ghettoisierung problematisiert und damit diese | |
Lebensorte abwertet. [2][Im Koalitionsvertrag findet sich dem gegenüber ein | |
starker Fokus auf dem Wohnungsbündnis], also der Kooperation mit den | |
Privaten. Diesen werden deutlich mehr Potentiale für den Neubau eröffnet, | |
während die Kommunalen zurückgedrängt werden. Das wird alle Mieter:innen | |
dieser Stadt teuer zu stehen kommen. | |
Kritisieren Sie die Neubauziele grundsätzlich? | |
Ja. Die SPD hat die Bedarfsprognosen auf 200.000 Wohnungen in den nächsten | |
zehn Jahren nach oben getrieben, gegen die Kritik von Mieterverein und BUND | |
und die Bevölkerungsprognose des Senats. Die SPD will allein über den | |
Neubau die Wohnungspolitik steuern und das ist falsch. | |
Was befürchten Sie? | |
Schaut man ins Detail, sollen von den geplanten 100.000 Wohnungen in den | |
nächsten fünf Jahren nur 35.000 von den landeseigenen Gesellschaften gebaut | |
werden – das sind dann noch 17.000 leistbare Wohnungen. Es soll das Prinzip | |
gelten: Hauptsache bauen, egal was und egal wo. Das ist eine Abkehr von | |
strategischer Stadtentwicklung und von einer sozialen Stadtplanung, die | |
sozialen Wohnungsbau dort organisiert, wo er gebraucht wird. Die SPD will | |
den Privaten Grundstücke zur Verfügung stellen, damit dieser Neubau | |
überhaupt geliefert werden kann. Wenn wir aber der privaten Bauwirtschaft | |
die Stadt überlassen, dann bauen sie, was sie wollen. Dann läuft es darauf | |
hinaus, dass die kommunalen Gesellschaften nur noch die Hinterhöfe von | |
Großsiedlungen verdichten und damit das soziale Problem doppelt | |
verschärfen, weil sie denjenigen Platz nehmen, die sowieso schon in den | |
kleineren Wohnungen wohnen. | |
Im Koalitionsvertrag finden sich durchaus Punkte zur Fortführung der | |
Mietenregulierung. Der Mieterverein spricht von guten Ansätzen. Glauben Sie | |
nicht daran? | |
Das ist die Frage der Machtpolitik. Die SPD hat schon in den letzten fünf | |
Jahren, in denen sie nicht den Senator gestellt hat, die Neuausrichtung der | |
kommunalen Wohnraumversorgung massiv torpediert. Ihr geht es um den | |
Kurswechsel weg vom kommunalen Neubau und der sozialen | |
Wohnraumversorgungspolitik; dafür hat sie nun die Schlüsselressorts. | |
Deswegen sind die Verabredungen im Koalitionsvertrag, die mitunter sehr | |
gute Aussagen oder Prüfaufträge enthalten, kein Hinderungsgrund für die | |
SPD. | |
Wo könnte Mieterschutz konkret geschleift werden? | |
Im Wohnraumversorgungsgesetz ist eine feste Sozialwohnungsqoute für die | |
Wohnungsbaugesellschaften festgelegt. Katrin Lompscher hatte als Senatorin | |
zusätzlich mit harter Hand eine [3][Kooperationsvereinbarung mit viel | |
höheren Quoten] durchgesetzt: 50 Prozent beim Neubau, 63 Prozent bei der | |
Wiedervermietung. Diese Vereinbarung gilt noch genau ein halbes Jahr und es | |
ist gut möglich, dass die SPD dann sagt, diese Mietenregulierung ist zu | |
teuer, wir brauchen hier mehr Beinfreiheit. Das können sie dann auch | |
einfach machen, da hat das Parlament gar nichts zu sagen. | |
Wen können Sie sich weniger als Stadtentwicklungssenator:in | |
vorstellen: Engelbert Lütke Daldrup oder Iris Spranger? | |
Ich glaube, dass Lütke Daldrup nicht in der ersten Reihe stehen will, weil | |
er sein Leben lang die Fäden aus dem Hintergrund gezogen hat. Mit seiner | |
Vergangenheit, als Hauptstadtentwickler für die SPD oder | |
Olympiabeauftragter in Leipzig, ist ihm die komplette Abkehr von linker | |
Stadtentwicklungspolitik zuzutrauen. Iris Spranger will vielleicht auch | |
noch was werden – und wir hatten ja immer mal wieder auch Senatoren, die, | |
sagen wir mal, nicht spezifisch fachlich waren. Da hätte ich eher Lust, | |
mich mit Lütke Daldrup auseinanderzusetzen. | |
Was ist mit der Enteignung? Ist die durch die Kommission vom Tisch? | |
Ich halte das für eine offene Situation und finde erst mal gut, dass | |
Deutsche Wohnen & Co enteignen die Diskursebene der Staatsapparate erreicht | |
hat. Ich glaube auch, dass durch die Zuspitzung der finanzmarktgetriebenen | |
Immobilienwirtschaft der Zuspruch für die Vergesellschaftung eher noch | |
wachsen wird. Wir müssen als Linke, ob in der Regierung oder in der | |
Opposition, für die Vergesellschaftung kämpfen. | |
Rechnen Sie wirklich mit einem Nein bei der Mitgliederbefragung der Linken | |
zum Koalitionsvertrag? | |
Wenn die Inhalte nicht stimmen, muss man auch mal Nein zu einer möglichen | |
Regierungsbeteiligung sagen. Ich werbe jetzt ganz klar für ein Nein, weil | |
ich überzeugt bin, dass man diesen Kurswechsel nicht mitmachen darf. Wenn | |
er unter einer Ampel vollzogen würde, dann gäbe es immerhin eine linke | |
Opposition im Parlament dagegen. Aus Verantwortung für die Stadt und unsere | |
Partei sollten die Mitglieder diesem Vertrag nicht zustimmen. | |
30 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Kommentar-zum-Mietenvolksbegehren/!5273912 | |
[2] /Koalitionsplaene-fuer-Stadtentwicklung/!5817397 | |
[3] /Kooperation-mit-Wohnungsunternehmen/!5540863 | |
## AUTOREN | |
Erik Peter | |
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