# taz.de -- Urbanistikforscherin über Innenstädte: „Wir brauchen mehr Grün… | |
> Klimawandel und Digitalisierung verändern Innenstädte. | |
> Urbanistikforscherin Sandra Wagner-Endres über neue Nutzungen und soziale | |
> Räume. | |
Bild: Als im Kaufhaus noch etwas los war, Horten in Heidelberg in 1970er Jahren | |
wochentaz: Frau Wagner-Endres, [1][Galeria Karstadt Kaufhof ist mal wieder | |
in der Krise]. Ist die Zeit der Warenhäuser und der konsumzentrierten | |
Innenstädte bald endgültig vorbei? | |
Sandra Wagner-Endres: Ich glaube nicht, dass die Zeit von größeren | |
Kaufhäusern komplett vorbei ist. Auch wenn wir uns die Frage stellen | |
müssen, wie viel Konsum wir uns überhaupt noch leisten können. Und: Können | |
Warenhäuser dann noch so aussehen wie heute? Oder braucht es nicht eher | |
eine Neukonfiguration mit anderen Nutzungen, mehr Nutzungsmischung und | |
-vielfalt? | |
Was für Möglichkeiten der Neukonfiguration gibt es denn, wenn Häuser | |
schließen? | |
Im Detail kann das ganz unterschiedlich aussehen. In Lübeck zum Beispiel | |
wird aktuell ein ehemaliges Kaufhaus zu einer Schule umgebaut. Man hat | |
dabei sogar festgestellt, dass der Umbau günstiger ist, als ein Neubau | |
wäre. Eine Schule ist ein gutes Beispiel für die Transformation der | |
innenstädtischen Räume. | |
Es geht darum, dass diese öffentlichen Räume lebendig bleiben. Dass also | |
Menschen trotzdem Gründe haben, in die Innenstadt zu fahren und sich dort | |
aufzuhalten, auch wenn es eines Tages deutlich weniger Konsum geben wird. | |
Aber es gibt natürlich noch andere Nutzungsmöglichkeiten: Bildung über das | |
Schulalter hinaus, Wohnen, gerade in den oberen Etagen von Gebäuden, Büros | |
oder Freizeitnutzungen wie Veranstaltungsräume, Fitnessstudios und, ganz | |
wichtig auch: Kultur. | |
Galeria Karstadt Kaufhof ist kein Einzelfall. Auf die Entwicklung von | |
Innenstädten wirken immer mehr Kräfte: Die Digitalisierung und aktuell die | |
Inflation, die wie auch schon die Pandemie tendenziell zu einer | |
Kaufzurückhaltung führt. Wie wirkt sich das alles aus? | |
Die Auswirkungen von Digitalisierung und Onlinehandel sehen wir schon seit | |
einigen Jahren. Inhabergeführte Läden geben auf und diese Flächen werden | |
von Ketten besetzt. Nun gibt es einen weiteren Schub durch Pandemie und | |
Inflation: Auch Filialisten verkleinern ihre Flächen oder verlassen die | |
Innenstädte. Das sind beides marktgetriebene Entwicklungen. Dazu kommt der | |
Klimawandel. Der ist ein ganz zentrales Thema, weil er uns zwingt, nach | |
vorne zu schauen und zu überlegen: Wie können wir es schaffen, [2][dass | |
Innenstädte auch in 20, 30 oder 40 Jahren trotz der Hitze] noch eine hohe | |
Aufenthaltsqualität haben und lebenswert sind? Dass sie so gestaltet sind, | |
dass Menschen sich dort auch treffen wollen? | |
Wenn Sie also ein Bild malen, wie sieht die Innenstadt der Zukunft aus? | |
Als Allererstes brauchen wir eine an den Klimawandel angepasste | |
Architektur. Das bedeutet einerseits eine Nutzung erneuerbarer Energien, | |
die man dann auch im Stadtbild sieht, etwa mit Solarpanelen. Und | |
andererseits, und das ist ganz wichtig: mehr Grünflächen in der Innenstadt, | |
und zwar überall. Auf der Straßenebene, aber auch an den Fassaden und auf | |
den Dächern. Das Grün sorgt nicht nur für eine bessere Aufenthaltsqualität, | |
sondern wirkt auch der Überhitzung entgegen. | |
Die Innenstadt der Zukunft sieht also schon optisch deutlich grüner aus als | |
heute. | |
Genau, und zusätzlich brauchen wir [3][eine Mobilitätswende]. Wir werden | |
deutlich weniger motorisierten Verkehr in den Innenstädten haben, und damit | |
meine ich auch die parkenden Autos. Das hat einen positiven Nebeneffekt: Es | |
werden Flächen frei. Wir haben also mehr Spielraum für die Gestaltung. Den | |
brauchen wir auch, denn die Flächennutzung soll ja vielfältiger werden. Es | |
geht also um neue Qualitäten. | |
Was heißt das konkret? | |
Momentan haben wir eine starke Konsumorientierung. In Zukunft sollten wir | |
zu mehr Gemeinwohlorientierung kommen. Wir müssen also fragen: Was tut der | |
Gesellschaft gut? [4][Zirkuläre Wirtschaft] zum Beispiel. Es braucht also | |
Orte, wo Menschen Geräte oder Gegenstände tauschen und reparieren können. | |
Und die Innenstädte müssen sich viel stärker unterschiedlichen Gruppen von | |
Nutzer:innen öffnen. Jugendliche zum Beispiel sind häufig nicht gern | |
gesehen, weil sie als störend empfunden werden. Dabei brauchen auch sie | |
öffentlichen Raum. | |
Wie bekommt man es denn hin, dass ganz unterschiedliche Menschen, egal | |
welchen Alters und mit welchem gesellschaftlichen Hintergrund, einen Ort | |
positiv wahrnehmen und sich gern dort aufhalten? | |
Das ist eine echte Herausforderung und eine Patentlösung gibt es dafür | |
nicht. Aber ein Weg, der es zumindest wahrscheinlich macht, dass wir einen | |
guten Raum für alle Menschen schaffen, ist Beteiligung. Wir müssen alle | |
Akteur:innen der Innenstädte mitnehmen, egal ob sie dort wohnen oder | |
arbeiten, dort einkaufen oder ihre Freizeit verbringen, ob sie Gebäude | |
besitzen oder Flächen mieten. In diesem Prozess muss man mit den Menschen | |
vor Ort schauen: Was wird an Räumen gebraucht? Einen Basketballplatz | |
irgendwo hinbauen und denken, na dann werden die Jugendlichen schon kommen | |
– so funktioniert das nicht. | |
An manchen Punkten widersprechen sich auch die Bedürfnisse. So wollen viele | |
Menschen gute Beleuchtung, um sich sicher zu fühlen, aber aus Gründen des | |
Umweltschutzes ist viel Licht ein Problem. | |
Ja, Sicherheit ist in der gendergerechten Stadtentwicklung ein wichtiger | |
Aspekt. Licht ist da nur ein Thema. Den besten Effekt auf das | |
Sicherheitsgefühl haben andere Menschen. Und Menschen kriegen wir, indem | |
wir Anlässe und einen grundsätzlich attraktiven Raum schaffen. | |
Wie ist es bei der Dichte: Braucht es eine dichte Stadt für kurze Wege? | |
Oder weniger dicht für Frischluftschneisen und Kaltluftentstehungsgebiete? | |
Wir brauchen eine kluge Balance. Und wie die aussieht, lässt sich nicht | |
allein in Metern festmachen. Ein Beispiel: Wenn alle Gebäude begrünte | |
Fassaden haben, es viele Pflanzen und Grünflächen dazwischen und auf den | |
Dächern gibt, dann lässt sich auch etwas dichter bauen, ohne dass es im | |
Sommer gleich zur Überhitzung kommt. | |
Über welche Zeithorizonte sprechen wir bei dieser Transformation | |
eigentlich? | |
Ich glaube nicht, dass dieser Prozess jemals abgeschlossen sein wird. | |
Natürlich sind die aktuellen Entwicklungen von Digitalisierung bis | |
Klimawandel ein Startpunkt. Aber wissen wir denn, wie zukünftige | |
Generationen leben wollen? Wie sich die Gesellschaft entwickelt? Das Beste, | |
was den Innenstädten passieren kann, ist ein permanenter | |
Transformationsprozess. Und der Mut, auch mal neue, unkonventionelle Wege | |
zu gehen. | |
Was könnte das sein? | |
Ein Beispiel aus New York, das sicher viele kennen, ist die High Lane. | |
Statt den Teil einer alten Bahntrasse einfach abzureißen, hat man einen | |
hochgelegenen Park darauf angelegt. In Deutschland hat die Stadt Siegen | |
eine eindrückliche Transformation geschaffen: Dort gibt es die Siegplatte. | |
Das war ursprünglich eine Parkfläche für Autos, die über den Fluss ragte. | |
Die Stadt hat dort die Parkplätze gestrichen und den Uferbereich zur Sieg | |
neu gestaltet. Und auf einmal bietet der Ort echte Aufenthaltsqualität. | |
Der Punkt ist: Das sind alles jahrzehntelange Prozesse. Städte, die heute | |
als Vorreiter gelten, haben sich schon vor vielen Jahren auf den Weg | |
gemacht. Wichtig ist, zu verstehen, dass die Innenstadtentwicklung eine | |
dauerhafte Transformationsaufgabe ist, ohne Endpunkt. | |
Sie haben eingangs gesagt, wir müssen überlegen, wie viel Konsum wir uns in | |
Zukunft noch leisten können. Wie viel denn? | |
Nun, wir leben gesamtgesellschaftlich gesehen deutlich über unsere | |
Ressourcen. Das müssen wir ändern, und zwar sehr deutlich. Wenn wir anders | |
konsumieren, dann brauchen wir andere Orte und Angebote. An die Stelle | |
werden Kunst und Kultur treten, Bildungs- und Gesundheitsangebote oder | |
anderes – es gibt auch radikalere Ideen. Insgesamt wird damit die | |
Alltagstauglichkeit der Innenstadt deutlich zunehmen. | |
Was wäre denn eine radikalere Idee? | |
Zum Beispiel kann man darüber nachdenken, alle Flächen einer Innenstadt | |
nicht nur zu begrünen, sondern auch öffentlich zugänglich zu machen – auch | |
die Dächer. Damit ließe sich die Stadt praktisch auf eine zweite Ebene | |
heben. Und: Momentan sind ja die allermeisten Räume für bestimmte | |
Nutzungsarten definiert. Dabei wäre es gut, auch Raum zu haben, der frei | |
ist dafür, wie die Gesellschaft ihn gestalten und nutzen will. Man sollte | |
an einem Ort auch mal keiner Erwartungshaltung begegnen, sondern einfach | |
nur sein dürfen. | |
19 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Svenja Bergt | |
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