| # taz.de -- Neues Innenministerium: Nach dem Horst-Case-Szenario | |
| > Die Seehofer-Jahre waren geprägt von Untätigkeit. Das neue | |
| > Innenministerium muss Antworten auf Rechtsextremismus und Polizeigewalt | |
| > finden. | |
| Bild: Bilanz der Untätigkeit: Bis heute wurde kein Versuch unternommen, den Fa… | |
| Als er 2018 sein Amt antrat, machte schnell das Wort vom | |
| [1][„Horst-Case-Szenario“] die Runde. Das Wortspiel war lustig, die | |
| dahinter stehende Befürchtung war es nicht. Horst Seehofer (CSU) galt | |
| vielen als Scharfmacher. Im Gedächtnis geblieben war, wie er 2011 | |
| angekündigt hatte, sich „bis zur letzten Patrone“ dagegen wehren zu wollen, | |
| dass wir „eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme bekommen“. | |
| Rhetorisch ging es so weiter: Kurz nach Amtsantritt fand Seehofer es | |
| witzig, dass [2][„ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag“ 69 Personen nach | |
| Afghanistan abgeschoben wurden], obwohl er das, harhar, ja gar nicht so | |
| bestellt hatte. Nicht nur geschmacklos, sondern schon gefährlich war dann, | |
| dass er kurz darauf Migration die „Mutter aller Probleme“ nannte. | |
| Und auch gegen Ende ließ er nicht nach: Die verbale Aufrüstung der Polen | |
| gegen die Flüchtlinge aus Richtung Belarus machte er mit, als er dies als | |
| „[3][eine Form der hybriden Bedrohung,] indem man Migranten als politische | |
| Waffe einsetzt“ bezeichnete. | |
| Der Subtext ist klar: Eine Waffe ist gefährlich, eine Bedrohung verdient | |
| keine Empathie, sondern Gegenwehr. Der polnischen Regierung, die sich | |
| jedenfalls im „hybriden Krieg“ gegen die Flüchtlinge zur maximalen Härte | |
| legitimiert fühlt, dankte Seehofer kürzlich in einem Brief „für den Schutz | |
| unserer gemeinsamen Außengrenze“ ganz ausdrücklich. Zu all dem passte, dass | |
| er seinen Ressortzuschnitt bei Amtsantritt um die Zuständigkeit für | |
| „Heimat“ ergänzte. | |
| ## Aus Bekenntnissen folgte: nichts | |
| Was das bedeuten sollte, vermochte er 2018 nicht zu erklären, und es ist in | |
| der Rückschau bis heute unklar. Die Umbenennung war ein Versuch, die | |
| zunehmende Orientierungslosigkeit des Konservatismus mit einem semantischen | |
| Knicks nach rechts zu kaschieren. | |
| Seehofers Innenministerjahre fielen dabei in die Zeit einer Serie rechter | |
| Terroranschläge, zu denen dem Konservatismus lange nichts einfiel. Selbst | |
| der Mord an dem Kasseler CDU-Landrat Walter Lübcke vermochte das Dogma | |
| nicht zu erschüttern, dass die Gefahr „links“ liege. Erst die folgenden | |
| Anschläge von Halle und Hanau änderten dies langsam. Auch führende | |
| Konservative, darunter Seehofer selbst, räumten danach ein, dass die | |
| extreme Rechte die größte Gefahr darstelle. Doch aus diesem Bekenntnis | |
| folgte nicht viel. | |
| So blieben viele schmerzhafte Leerstellen bei der Aufklärung rechter | |
| Gewalt. Sie sind mitnichten bloß das Ergebnis von Ermittlungspannen, | |
| sondern Folge eines vollkommen unzureichenden Opferschutzes und mangelnden | |
| Aufklärungswillens. „Unsere Frage an die Politik und die Behörden lautet: | |
| Worauf wartet ihr eigentlich, wenn nicht auf den nächsten Anschlag?“, fragt | |
| etwa die Angehörigen-Initiative „19. Februar Hanau“. | |
| Das Vorgehen gegen rechten Terror hat Seehofer nie zur Chefsache gemacht. | |
| Der Täter von Hanau war einschlägig bekannt und durfte gleich zwei | |
| „Waffenbesitzkarten“ behalten. Nach einer Recherche der Welt von letzter | |
| Woche haben bis heute bundesweit mehr als 1.000 Extremisten eine | |
| „waffenrechtliche Erlaubnis“. Diese Zahl ist nur eine Facette einer | |
| staatlichen Untätigkeit gegen rechte Gewalt, die in irritierendem Gegensatz | |
| zu Seehofers Hyperaktivismus in Sachen Flüchtlingsabwehr steht. Auch dass | |
| bis heute kein Versuch unternommen wurde, den Fall Oury Jalloh außerhalb | |
| der sachsen-anhaltischen Justiz aufzuklären, gehört zur Bilanz dieser | |
| Untätigkeit. | |
| ## „Heimat“ raus, „wehrhafte Demokratie“ rein | |
| Die neue Ampelregierung könnte da auch institutionell ein neues Kapitel | |
| aufschlagen. Wie Seehofer könnte sie das Ministerium umbenennen – den | |
| nutzlosen und völlig amorph gebliebenen „Heimat“-Begriff aus dem Namen | |
| tilgen und dem Ministerium stattdessen die Zuständigkeit für „wehrhafte | |
| Demokratie“ einschreiben. Zu tun in dem Bereich ist wahrlich genug. | |
| Statt wie Seehofer dabei bloß auf den Verfassungsschutz zu setzen, sollten | |
| – neben konsequenter Strafverfolgung – auch Akteur:innen aus der | |
| Zivilgesellschaft hier beteiligt werden. Denn letztlich sind es sehr oft | |
| diese, denen die Gesellschaft ihr Wissen um die Umtriebe der Feinde der | |
| Demokratie wie Nazis, Reichsbürger:innen oder radikalisierten | |
| Querdenker:innen verdankt. | |
| In den Blick genommen werden sollten viel stärker als in der Vergangenheit | |
| auch jene Demokratie-Feinde, die beim Staat selbst arbeiten. Die immer | |
| neuen Enthüllungen über rechte Chatgruppen in der Polizei oder | |
| Reichsbürger-Sympathisant:innen im Staatsdienst geht auch auf eine | |
| gesteigerte Bereitschaft ihrer Kolleg_innen zurück, solche anzuzeigen. | |
| Diese Bereitschaft muss ein neuer Innenminister gezielt fördern. | |
| Dazu gehört, sicherzustellen, dass Anzeigen Folgen für die Täter:innen – | |
| und nicht für die Whistleblower:innen haben. Das ist auch eine Frage | |
| der inneren Kultur der Polizei und Sicherheitsbehörden. Die kann nicht von | |
| heute auf morgen verändert werden. Ganz sicher ändert sie sich aber nicht, | |
| wenn schon der Versuch, das Ausmaß des Problems wissenschaftlich | |
| untersuchen zu lassen, abgebügelt wird – so wie Seehofer es mit den | |
| Forderungen nach einer Studie zu rassistischen Einstellungen im der Polizei | |
| getan hat. | |
| ## Flüchtlingsschutz stärken | |
| Die Empörung darüber war groß, zu Recht. Sie verdeckte aber eine noch viel | |
| wichtigere Forderung, die hierzulande nach der Welle von Protesten gegen | |
| rassistische Polizeigewalt im Sommer 2020 auf den Tisch kam: Unabhängige | |
| Polizeibeschwerdestellen. Sie böten mehr Sicherheit, dass Anzeigen – etwa | |
| gegen zu Unrecht gewalttätige Polizist:innen – nicht von | |
| Kolleg:innen in der Versenkung verschwinden gelassen werden. | |
| Polizei-Lobbyorganisationen liefen Sturm gegen entsprechende Vorstöße – und | |
| Seehofer zeigte keinerlei Neigung, sich des Themas anzunehmen. Ein | |
| Ampel-Innenminister könnte dies leicht korrigieren. | |
| Dass die Regierung der Hauptstadt einen Innenminister verklagt, hat | |
| Seltenheitswert. Berlin tat dies im vergangen November, als Teil einer | |
| immer größer gewordenen Gruppe von Städten und Bundesländern, die auf die | |
| Möglichkeit der eigenständigen Aufnahme von Geflüchteten gepocht hatten. | |
| Berlin etwa hatte angeboten, 300 besonders schutzbedürftige Flüchtlinge im | |
| Rahmen eines eigenen Landesprogramms aus Griechenland nach Deutschland zu | |
| holen. Seehofer lehnte das jedoch ebenso ab wie ähnliche Vorstöße anderer | |
| Bundesländer und Kommunen. Grüne und SPD verlangten deshalb immer wieder | |
| eine Streichung dieses Vetorechts im Aufenthaltsgesetz. | |
| Ein Ampel-Innenministerium könnte dem sehr leicht entgegenkommen, in dem es | |
| von sich aus auf die Ausübung des Vetorechts verzichtet – und den Passus | |
| hernach per Gesetzentwurf streicht. Gerade mit Blick auf die aktuelle Lage | |
| der vielen noch immer festsitzenden Ortskräfte aus Afghanistan oder die | |
| Lage an der Grenze von Polen und Belarus würde dies die | |
| Handlungsmöglichkeiten in Sachen Flüchtlingsschutz gleichsam über Nacht | |
| vergrößern. | |
| 7 Nov 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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