# taz.de -- Boxen für die Integration: Hart, aber herzlich | |
> Ali Cukur ist Boxtrainer. Bei 1860 München bringt er jungen Männern aus | |
> Einwandererfamilien Regeln bei, die nicht nur im Boxring gelten. | |
Bild: Ali Cukur in seinem Element, hier mit seinen Schülern Bayar Idris Mischk… | |
München taz | Mit aller Kraft dreschen sie auf ihn ein. Links, rechts, | |
links, rechts. Oben, unten, oben unten. Ali Cukur wehrt die Schläge mit | |
übergroßen Trainingshandschuhen ab. Ein Boxschüler nach dem anderen steigt | |
in den Ring und haut drauf. Dem 61-Jährigen scheint das alles nichts | |
auszumachen, wie ein Fels steht er da und ruft: „Mehr Beinarbeit, | |
gezieltere Schläge.“ | |
19 Uhr, Boxtraining mit Ali Cukur und seinen Jungs beim [1][TSV 1860 | |
München]. Bayar ist 20 Jahre alt, hat eine schwarze Mähne und boxt seit | |
fünf Jahren. Seine Familie ist kurdisch und stammt aus dem Nordirak. „Der | |
Ali ist Freund, Vater und Vorbild“, sagt er. „Früher habe ich ziemlich viel | |
Scheiße gebaut und mich ständig draußen geprügelt. Aber das ist vorbei, | |
dank Ali. Jetzt boxe ich hier.“ | |
So oder so ähnlich hört man es immer wieder über den Mann, der seit 1973, | |
also seit fast einem halben Jahrhundert, sehr viel Lebenszeit in dieser | |
Boxhalle im Münchner Glockenbachviertel unweit der Isar verbracht hat. | |
Cukur sagt: „Jeder ist hier willkommen, ich weise keinen zurück. Und jeder | |
hält sich an die Regeln.“ | |
Boxen für die Integration junger Menschen. Boxen, damit diese, häufig aus | |
Einwandererfamilien, von der schiefen Bahn wegkommen und Anerkennung | |
erhalten. „Häufig bekommen sie hier zum ersten Mal ein Selbstwertgefühl“, | |
sagt Cukur. „Davor wurden sie nur ständig runtergemacht im Elternhaus, in | |
der Schule, von der Gesellschaft.“ Ali Cukur ist in München mittlerweile | |
eine durchaus stadtbekannte Figur – und er ist genau so viel Sozialarbeiter | |
wie Boxtrainer. | |
„Für mich ist er die größte Respektsperson“, sagt Netscho, der 26-jähri… | |
Bruder von Bayar. „Ohne Ali wäre mein Leben sehr anders verlaufen.“ Nach | |
schwierigen Zeiten haben die beiden eine Ausbildung gemacht, Netscho | |
arbeitet als Schlosser, Bayar als Anlagenbauer. Bayar: „Ich spüre manchmal | |
Aggressionen, aber das Boxen beruhigt mich sehr.“ | |
Ein Dutzend Jugendlicher und junger Männer sind an diesem Tag zum Training | |
gekommen. Die Jüngeren – 14, 15, 16 Jahre alt – üben an den Säcken und | |
machen Schattenboxen, Ali ist mit den Älteren die meiste Zeit im Boxring. | |
Die nächste Einheit steht an. Nun kämpfen sie abwechselnd gegeneinander, | |
tänzeln, streben zum Gegner, weichen zurück. „Ihr lasst euch zu sehr | |
gehen“, meint Cukur bei einer Kampfrunde, „so was kann ordentlich | |
schiefgehen.“ Und gleich darauf: „Los, hau auf die Schnauze.“ | |
Es geht hier um Körperlichkeit, um Kraft, ums Austoben. Und es geht um das | |
Einhalten von Regeln, um Disziplin und um Freundschaft. Hart, aber fair. | |
Nach jedem Kampf sollen sich die Gegner umarmen, darauf besteht Cukur. Der | |
Schweiß glänzt auf der Haut der Sportler und spritzt manchmal aus ihrem | |
Haar. Trotz geöffneter Fenster riecht es nach einiger Zeit etwas streng | |
nach jungen Männern, die sich und ihren Körper fordern. | |
Als Achtjähriger kam Ali Cukur mit der Mutter nach München, der Vater | |
arbeitete hier schon seit einigen Jahren, er war einer der ersten | |
sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei. Cukur begann bald mit dem Boxen | |
beim TSV 1860 und machte eine Lehre als Elektroinstallateur. Er boxte bei | |
mehreren Meisterschaften, mal für die Türkei, mal für die Bundesrepublik | |
Deutschland. Insgesamt hat er 280 Kämpfe bestritten. Seit 24 Jahren ist er | |
– ehrenamtlich – Leiter der Boxabteilung des Vereins. | |
Sein Vater war vor allem streng und teils auch gewalttätig, erzählt Cukur. | |
Deshalb kann er sich in Jugendliche einfühlen, die zu viel Härte und zu | |
wenig Wärme erfahren. „Das sind alles liebe Jungs“, sagt er, „aber | |
natürlich können sie nicht andere bedrohen, schlagen und Scheiße bauen. Das | |
geht nicht.“ Viele hätten „falsche Freunde, keine Perspektive, keine | |
Motivation“. | |
Manche sind straffällig geworden. Geht man im [2][Münchner Justizzentrum] | |
die langen Gänge mit den kleinen Verhandlungssälen des Amtsgerichts entlang | |
und schaut auf die Aushänge, bekommt man einen Eindruck vom Abdriften von | |
Jugendlichen. In den meist auf eine halbe Stunde angesetzten Prozessen | |
werden Diebstahl, Körperverletzung und BTM verhandelt und abgeurteilt. | |
Letzteres sind Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, also | |
Drogendelikte. Wie am Fließband arbeiten die Richter solche Fälle ab, einen | |
nach dem anderen, den ganzen Tag lang. | |
## Spüren, dass man aufgenommen wird | |
Manche Mütter bitten Cukur, ihre Söhne aufzunehmen, weil sie mit ihnen | |
nicht mehr zurechtkommen. Beim Training wirkt ein 14-Jähriger etwas | |
verloren, boxt vor sich hin, haut ab und zu mal auf den Sack. Er ist zum | |
ersten Mal hier, sagt kaum etwas. Das Jugendamt hat ihn zu Ali Cukur | |
geschickt. „Typische Geschichte“, berichtet der Trainer. „Der Vater ist | |
abgehauen, der Junge hat dann mit Schlägereien und Erpressungen zu tun | |
gehabt.“ Cukur meint: „Er soll hier erst mal ein bisschen reinkommen und | |
spüren, dass er aufgenommen wird. So etwas braucht Zeit.“ | |
Der Trainer vermittelt Ausbildungsplätze, er hat da seine Beziehungen. Er | |
kennt die Leute von der Familien- und von der Gerichtshilfe. Wenn einer | |
seiner Zöglinge die Lehrstelle schmeißen will oder unzuverlässig ist, zeigt | |
der Trainer ihm die Konsequenzen auf: „Wenn du faul bist und keinen Bock | |
hast, dann hast du auch im Training nichts mehr zu suchen.“ | |
## „Hier ist mein ganzes Leben.“ | |
In der Halle breitet Cukur die Hände aus: „Hier ist mein ganzes Leben.“ Und | |
ruft: „Ich habe 100 Kinder.“ Bayar erwidert: „Mehr.“ Alle lachen, Cukur | |
verpasst Bayar im Spaß eine recht deftige Watschn. Hart, aber herzlich. Er | |
hat alles hier eingerichtet, hat selbst den Boxring gebaut, der auf | |
Paletten steht. Das Haus in der Auenstraße ist ziemlich heruntergerockt. | |
Die Hallen, die Gänge, die Sanitäranlagen verströmen den Charme der | |
1970er-Jahre. Schon seit Langem soll es saniert werden, aber in München | |
findet sich kein Ausweichquartier. Nach dem Training geht es unter die | |
Dusche, und aus dem Haus kommen von Duschgel und Deo wohlriechende, | |
geföhnte und adrett aussehende junge Männer in den dunklen Münchner | |
Novemberabend. | |
Cukur hat zwei Töchter, die mittlerweile ausgezogen sind – „und meine Ehe | |
ist gescheitert“. Wegen des Boxens: „Ich hatte zu wenig Zeit für meine | |
Frau.“ Wenn er spricht, klingt ein bayerischer und ein türkischer Akzent | |
durch. Jetzt lebt er in einer Fernbeziehung mit einer Partnerin in Berlin. | |
„Wenn Ali da jemals hinzieht, ziehen wir mit“, meint Netscho. | |
Mittlerweile ist Cukur ausgebildeter Antigewalttrainer und therapeutischer | |
Boxtrainer. Er gibt Kurse – an Schulen, im Schullandheim und für den Verein | |
für Sozialarbeit, der sich in München um benachteiligte Kinder und Familien | |
kümmert. Auch ist er immer wieder in Flüchtlingsheimen, berät dort | |
besonders schutzbedürftige Menschen und begleitet sie auf dem Weg durch den | |
Bürokratiedschungel. Drei minderjährige unbegleitete Flüchtlinge hat er | |
auch zum TSV-Boxen gebracht, sie haben einige Titel gewonnen. | |
## Es gibt auch Rückschläge | |
Seine Vormittage wiederum verbringt Cukur derzeit stets in der | |
Förderschule. Er ist Schulbegleiter eines Zwölfjährigen mit großen | |
Aggressionsproblemen. „Mit mir kommt er zurecht, ohne mich nicht.“ Seine | |
Ansage an den Jungen lautet: „Du bist ein super Kerl, aber dein Verhalten | |
ist super scheiße.“ | |
Immer wieder gibt es auch Rückschläge. Netscho und Bayar haben noch einen | |
dritten Bruder, der auch boxte. Er hat aufgehört, Ali Cukur hat ihn schon | |
eine Weile nicht mehr gesehen: „Der ist abgerutscht und hat sich | |
irgendeiner bescheuerten Gruppe angeschlossen.“ Derzeit sitzt er im | |
Gefängnis. Er hat dem Trainer geschrieben, wohl einen ziemlich | |
herzzerreißenden Brief – dass er sobald wie möglich ins Training | |
zurückkehren will. Ali Cukur sagt: „Ich bin an ihm dran, ich kriege ihn | |
wieder.“ | |
24 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.tsv1860.de/ | |
[2] https://www.justiz.bayern.de/gerichte-und-behoerden/landgericht/muenchen-1/ | |
## AUTOREN | |
Patrick Guyton | |
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