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# taz.de -- Soziologin über soziale Ungerechtigkeit: „Die untere Hälfte bes…
> In den letzten Jahrzehnten gab es eine Umverteilung von unten nach oben,
> sagt die Soziologin Silke van Dyk. Auch die Lebenserwartung hänge mit
> Klasse zusammen.
Bild: Die einen haben nichts, die anderen vererben ihr Geld
taz: Frau van Dyk, auf einer Skala von null bis zehn: Wie sozial gerecht
geht es in Deutschland zu, wenn zehn extrem ungerecht ist?
Silke van Dyk: Sagen wir mal acht. Es geht definitiv ungerecht zu in
unserer Gesellschaft. Es gibt natürlich Gesellschaften, die noch ungleicher
sind, die gar keine Grundsicherung haben, kein institutionalisiertes
Rentensystem, noch weniger Geld ins Gesundheitssystem stecken. Aber im
europäischen Vergleich hat Deutschland einen der größten
Niedriglohnsektoren und ein extremes Ausmaß an Vermögensungleichheit.
Privatversicherte leben länger als Kassenpatienten, Beamte länger als
Arbeiter. Hat die Lebenserwartung etwas mit dem sozialen Standort zu tun?
Wir haben eine hochgradig klassenspezifische Lebenserwartung. Bei den
Männern ist der Unterschied besonders ausgeprägt. Wenn man die nimmt, die
weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verdienen, und mit denen
vergleicht, die mehr als 150 Prozent dessen haben, liegt der Unterschied
bei fast 11 Jahren. Das ist die existenziellste Form der Ungleichheit, die
wir uns denken können. Auch [1][die Coronapandemie hat gezeigt,] dass das
Risiko, schwer zu erkranken und zu sterben, hochgradig mit Einkommen und
Klassenlage zusammenhängt.
Welche gesellschaftlichen Folgen hat Armut?
Neben einem von Unsicherheit geprägten Alltag und einer kürzeren
Lebenserwartung, [2][übersetzt sich Armut in schlechtere Bildungschancen]
und weniger politische Beteiligung. Wir haben ein System, das zwar formal
politische Gleichheit garantiert, das aber in höchstem Maße mit einem
System der sozialen Ungleichheit verwoben ist. Dieses Spannungsverhältnis
von politischer Gleichheit und sozialer Ungleichheit ist ein Grundproblem
kapitalistischer Gesellschaften, das bei stark ausgeprägter Ungleichheit
besonders demokratiegefährdend ist. Keine Gruppe ist im Deutschen Bundestag
zum Beispiel so unterrepräsentiert wie diejenigen, die einen
Hauptschulabschluss haben. Auch die Wahlbeteiligung von Menschen, die über
weniger ökonomische oder Bildungsressourcen verfügen, ist deutlich
niedriger, was zusätzlich verstärkt, dass ihre Anliegen weniger Gehör
finden.
Vererbt sich sozialer Status?
Absolut. Was das ökonomische Kapital angeht, leben wir in einer
Erbengesellschaft, in der große Vermögen auf die nächste Generation
übertragen werden. Das führt zu einer erheblichen
Vermögenskonzentration: Das reichste eine Prozent besitzt zirka ein
Drittel des Vermögens, und bei den wohlhabendsten zehn Prozent sind fast
zwei Drittel versammelt. Aber auch der Rest verteilt sich nicht
gleichmäßig, denn die untere Hälfte der Bevölkerung besitzt praktisch
nichts.
Das sind Dimensionen, die vielen Leuten nicht bewusst sind, weil im Alltag
und in den Medien stärker die Einkommensfrage angesprochen wird. Und das,
obwohl Erbschaften im Vergleich zu Einkommen kaum besteuert werden, im
Durchschnitt sind sie wegen der hohen Freibeträge mit gerade mal zwei
Prozent belastet. Eigentlich leben wir in einer Gesellschaft, die gern als
Leistungsgesellschaft beschrieben wird. Wenn man das ernst nimmt – obwohl
bereits daran viel zu kritisieren wäre –, muss man fragen: Was ist das für
ein System, das ererbte Vermögen so schont?
Sie forschen zum Strukturwandel des Eigentums. Hat diese Schieflage
zugenommen?
Was wir in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben, könnte man als
Klassenkampf von oben bezeichnen: eine systematische Umverteilung von
Ressourcen von unten nach oben, und zwar nicht nur als Ergebnis von
Marktprozessen, sondern dezidiert politisch forciert. Wir haben die Senkung
von Spitzensteuersätzen gehabt, eine Entlastung bei der Besteuerung von
Kapitalerträgen, eine Senkung der Unternehmenssteuern, die Abschaffung der
Vermögenssteuer. Wir sehen so etwas wie eine Radikalisierung und
Konzentration von Privateigentum, denn die Pflichten und die Abgaben für
diejenigen, die etwas besitzen, werden immer kommoder. Und während das
Privatvermögen in Deutschland stetig wächst, produzieren die steuerlichen
Entlastungen öffentliche Armut, kaputtgesparte Kommunen, Lücken in der
Infrastruktur.
Sie sagen, dass die aktuellen Eigentumsverhältnisse immer mehr in Bewegung
geraten. Wo sieht man das?
Politisch haben wir im Nachgang der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 neue
Protestbewegungen erlebt, die soziale Schieflagen anprangern, etwa die
Occupy-Bewegung in den USA oder die Indignados in Spanien oder [3][Syriza
in Griechenland]. Auch wenn die wieder abgeebbt sind, kann man doch sagen,
dass die soziale Frage zumindest diskursiv wieder eine größere Rolle in
Politik und Gesellschaft spielt.
In Deutschland ist die populäre Kampagne [4][„Deutsche Wohnen & Co
enteignen“] derzeit ein gutes Beispiel: Hier wird skandalisiert, dass
Wohnraum in der Hand von Immobilienkonzernen zur Profitquelle und zum
Spekulationsobjekt wird. Interessant ist auch, dass inzwischen selbst
Institutionen, die neoliberale Vorreiter waren, wie die Weltbank oder der
IWF, Analysen zu sozialer Ungleichheit vorgelegt haben.
Nicht weil sie plötzlich eine gerechtere Gesellschaft wollen, sondern weil
sie zu dem Schluss kommen, dass die soziale Ungleichheit ein solches Ausmaß
angenommen hat, dass sie systemdestabilisierend wird. Außerdem stellen sich
mit der Digitalisierung natürlich ganz neue Fragen des geistigen Eigentums,
während die Pandemie den Blick auf die Patentierung von Impfstoffen und die
Privatisierungen im Gesundheitswesen lenkt.
Mit Blick auf die Bundestagswahlen: Gibt es die Hoffnung, dass sich etwas
an der sozialen Ungleichheit ändert?
Wir haben einen kaum diskutierten Lagerwahlkampf. CDU und FDP privilegieren
mit ihren Steuerentlastungen die hohen und sehr hohen Einkommen, auch soll
die Unternehmenssteuer weiter gesenkt werden. In sehr unterschiedlichem
Ausmaß wollen SPD, Grüne und Linke die niedrigeren und mittleren Einkommen
entlasten und Spitzenverdiener sowie hohe Vermögen belasten. Interessant
ist, dass sich das weder politisch noch medial in entsprechende
Koalitionsspiele übersetzt. Rot-Rot-Grün ist definitiv keine der breit
diskutierten möglichen Optionen, die Linken werden auch medial gerne als
nicht koalitionsfähig abgehakt.
Würde es bei Rot-Rot-Grün den großen Vermögen an den Kragen gehen?
Eindeutig: nein. Der heute radikalste Vorschlag, wenn es um die Besteuerung
von Vermögen geht, das Wort radikal mag ich da eigentlich gar nicht
verwenden, ist der von der Linken mit einem Freibetrag von einer Million
Euro und einem dann beginnenden Steuersatz von einem Prozent. Das betrifft
gerade mal ein Prozent der Haushalte, während die reichsten zehn Prozent
zwei Drittel des Vermögens halten. Die Grünen wollen bei zwei Millionen
anfangen, die SPD legt sich nicht fest. Alle zielen mit ihren Maßnahmen auf
das obere Prozent oder noch weniger, eine ganz kleine Gruppe, an die
Erbschaftssteuer wagt sich außer der Linken – und da bleibt es vage –
niemand richtig ran. Eine gerechte Gesellschaft baut man aber nicht, indem
man ein paar Superreiche etwas stärker besteuert.
Der Klassenkampf von oben wird also weitergehen?
Das hängt nicht nur von der zukünftigen Koalition, sondern immer auch davon
ab, ob sich starke Gegenbewegungen formieren. Grüne und Linke wollen
immerhin die Privilegierung von Einkommen aus Kapital gegenüber
Lohneinkommen abbauen. Was ich trotzdem nicht sehe, sind Ansätze, die an
den gegebenen Eigentumsverhältnissen wirklich substantiell etwas ändern
würden. Ich finde spannend, was [5][der französische Ökonom Thomas Piketty
vorgeschlagen hat], um einen konkreten Vorschlag zu nennen: Zum 18.
Geburtstag wird jedem Menschen die Hälfte des Durchschnittsvermögens
ausbezahlt, finanziert durch eine Eigentumssteuer. Das wäre quasi eine
Sozialisierung von Erbschaften, ohne sie komplett abzuschaffen. Und zuletzt
ein Bogen zum Anfang zurück: Dass die klassenspezifische Lebenserwartung in
einem so wohlhabenden Land im Wahlkampf nach der Coronapandemie ein Tabu
bleibt, das ist für mich das größte Versagen der linken Parteien.
Das Interview ist ein Auszug aus dem taz Talk [6][„Klassenkampf von oben –
Arm bleibt arm, Reich wird reicher“].
18 Aug 2021
## LINKS
[1] /Corona-und-soziale-Ungleichheit/!5771211
[2] /Armut-und-Bildungschancen/!5789756
[3] /Tsakalotos-ueber-Griechenlands-Linke/!5784508
[4] /Berlin-will-20000-Wohnungen-kaufen/!5787796
[5] /Thomas-Pikettys-Kapital-und-Ideologie/!5667261
[6] https://youtu.be/h55Jp1z7gFw
## AUTOREN
Anja Krüger
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