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# taz.de -- Wahlbeteiligung bei Armen: „Nichtwählen ist ansteckend“
> Wer wenig verdient, geht seltener wählen, sagt Politikwissenschaftler
> Armin Schäfer. Das war aber nicht immer so.
Bild: Motivationsversuch in Hessen
taz am wochenende: „Wenn du auf Hartz IV bist, dann interessiert sich
niemand für dich. Keine Partei bildet das ab, was ich gerade erlebe“,
antwortete uns eine Person auf die Frage, warum sie nicht wählen geht. Herr
Schäfer, Sie forschen zu Wahlbeteiligung und sozialem Status. Ist das ein
typischer Satz von Nichtwähler*innen?
Armin Schäfer: Nicht vertreten zu sein, ist ein weit verbreitetes Gefühl
unter Nichtwähler*innen – zusammen mit dem Eindruck, dass es keinen
Unterschied macht, wen man wählt, weil die Parteien sich sehr ähnlich
seien.
Sie haben herausgefunden, dass Armut und nicht zu wählen stark miteinander
zusammenhängen.
Bei der Bereitschaft, wählen zu gehen, gibt es relativ klare Muster.
Arbeitslose und Menschen mit geringeren Einkommen, schlechterer Bildung
oder auch Berufen mit niedrigerem sozialen Status gehen viel seltener
wählen als Menschen, die jeweils am anderen Ende der Verteilung sind. Das
war allerdings nicht immer so. In den Achtzigern verteilte sich die
Wahlbeteiligung noch relativ gleichmäßig über die verschiedenen sozialen
Gruppen. Während damals beispielsweise die Wahlbeteiligung in armen und
reichen Stadtteilen nicht weit auseinanderklaffte, wählten 2017 in
wohlhabenden Wohngegenden noch immer fast 90 Prozent der Wahlberechtigten,
aber in armen Gegenden oft nicht einmal die Hälfte.
Was hat sich seit den 1980ern verändert?
Die älteren Geburtsjahrgänge hatten noch ein stärkeres Pflichtempfinden
gegenüber bestimmten Anforderungen. Bei der nachfolgenden Generation ist
das nicht mehr so ausgeprägt. Hinzukommt, dass die kollektive Vertretung
von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen schwächer geworden ist. Zum
Beispiel ist die Bindung an Gewerkschaften und Kirchen, wo man gemeinsam
über Politik diskutiert, zurückgegangen. Individuelle Ressourcen und
Motivationen sind nun ausschlaggebender für das Wahlverhalten – und die
sind ungleich verteilt.
Ist es denn ein Problem, wenn Leute nicht wählen gehen möchten? Man kann ja
auch sagen: Es ist ihre Sache, ob sie repräsentiert werden wollen oder
nicht.
Na ja, so einfach ist das nicht. Lange Zeit dachte man, wählen zu gehen sei
eine rein individuelle Entscheidung. Allerdings wirken verschiedene
Gruppeneffekte. Einerseits Dynamiken im Freundes- und Bekanntenkreis: Wenn
es unter Freunden die Norm ist, zu wählen, hat das einen positiven Einfluss
auf das eigene Wahlverhalten. Vieles spricht dafür, dass das Wählen und
Nichtwählen in gewisser Weise „ansteckend“ sind und nicht alleine das
Ergebnis einer rein individuellen Abwägung. Hinzukommen noch die Effekte
von ökonomischer Situation und Bildungsniveau. Auch die hat man sich nicht
selbst ausgesucht.
Neben Menschen, die nicht wählen wollen, gibt es auch die große Gruppe
derer, die nicht dürfen – weil sie keinen deutschen Pass haben oder nicht
für mündig erachtet werden. Wie repräsentativ ist unsere Demokratie?
Wer nicht wählen darf, ist wahrscheinlich schlechter repräsentiert. Aber
selbst unter den Wahlberechtigten gibt es große Unterschiede in der
Repräsentation. Die politischen Präferenzen von Leuten, denen es gut geht,
die einen höheren sozialen Status oder höhere Einkommen haben, werden viel
häufiger vom Bundestag in Politik umgesetzt als die von Menschen, denen es
insgesamt schlechter geht. Der Bundestag repräsentiert nicht alle Gruppen
gleich gut – und die Wahrnehmung, nicht repräsentiert zu sein, verringert
die Bereitschaft zu wählen. Dass sozial Benachteiligte überproportional
häufig unter denen sind, die nicht wählen dürfen, macht die
Repräsentationsschere noch größer.
Apropos Repräsentation: In den neuen Bundesländern ist die Wahlbeteiligung
noch immer niedriger als im Westen.
Innerhalb beider Landesteile finden wir sehr große Unterschiede zwischen
den sozialen Gruppen. Aber es stimmt, dass im Osten im Durchschnitt weniger
Menschen wählen. In der Politikwissenschaft lernen wir immer mehr darüber,
dass bestimmte Prägungen unglaublich lange wirken – über mehrere Jahrzehnte
oder noch länger. Die Wahlteilnahme hängt auch davon, ob man sich gehört
und vertreten fühlt, und in Ostdeutschland gibt es weiterhin mehr Menschen,
die den Eindruck haben, nicht gut repräsentiert zu werden.
Was können die Parteien daran ändern?
Wenn sie die Leute erreichen wollen, reichen die vier Wochen vor der Wahl
nicht aus, da braucht es eine kontinuierliche Präsenz vor Ort. Das ist für
die Parteien aber schwer durchzuhalten, weil dafür inzwischen die aktiven
Mitglieder fehlen. Ob die Wahlbeteiligung steigt, hängt deswegen eher von
der Politisierung und Polarisierung der Gesellschaft insgesamt ab.
Was heißt das konkret?
Fukushima oder die Migrationsbewegungen im Sommer 2015 waren Ereignisse,
die plötzlich ganz stark politisierten und gleichzeitig sehr kontrovers
diskutiert wurden. Positiv aufs Wahlverhalten wirkt auch ein offener
Wahlausgang, der den Eindruck vermittelt, dass wenige Stimmen den Ausschlag
geben könnten.
Wird der Truppenabzug aus Afghanistan ein solches mobilisierendes Ereignis
sein?
Das lässt sich so leicht nicht sagen. Corona war auch ein extrem
politisierendes Thema, aber auch da ist nicht klar, ob die Hauptwelle der
Politisierung nicht schon in der Vergangenheit liegt.
… oder ob die Pandemie zu mehr Politikverdrossenheit geführt hat, weil
Entscheidungen nicht gut genug erklärt wurden?
Ein Erklärungsdefizit gab es in der Pandemie auf jeden Fall. Wer wofür in
welcher Ministerpräsidentenkonferenz war, weiß eigentlich fast niemand.
Auch lässt sich in solchen Runden nicht gut nachvollziehen, wer zur
Regierung und wer zur Opposition gehört. Häufig werden die Entscheidungen
im Nachgang als alternativlos dargestellt, obwohl sie es erkennbar nicht
waren. Das kann zu einem allgemeinen Frust beitragen, der sich negativ auf
die Wahlbeteiligung auswirkt.
Zivilgesellschaftliche Akteure fordern immer wieder Beteiligungsformate,
mit denen Menschen Erfahrungen von Selbstwirksamkeit im demokratischen
System machen. Was halten Sie davon?
Seit den 1970ern wird versucht, im Lebensalltag – etwa in Schulen und
Betrieben – Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen. Aber wie lebhaft die
Umsetzung ist, da bin ich mir nicht so sicher. Und dann ist die Frage:
Finden wir Formate, die wirklich unsere Zielgruppe erreichen?
Pseudobeteiligungsformen wie Bürgerhaushalte binden eher die ein, die
ohnehin schon privilegiert sind. Sie können Ungleichheit sogar noch
verstärken.
21 Aug 2021
## AUTOREN
Franziska Schindler
## TAGS
Wahlbeteiligung
Schwerpunkt Armut
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
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Kolumne Poetical Correctness
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