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# taz.de -- Soziale Spaltung: Die Abgründe der Chancengleichheit
> Linke Parteien werden schon lange von Akademiker*innen beherrscht.
> Das spielt rechtspopulistischen Parteien in die Hände.
Bild: Wer leistet mehr, wer zählt mehr? Menschen mit oder ohne Hochschulabschl…
Einst waren die linken Parteien Arbeiterparteien. Das ist anscheinend
vorbei. Zwei Drittel der weißen Wähler*innen ohne Hochschulabschluss
haben [1][in den USA 2016 Donald Trump gewählt]. Von Europa bis nach
Australien – in allen wohlhabenden Demokratien werden linke Parteien nicht
mehr von Arbeiter*innen, sondern überwiegend von Akademiker*innen
gewählt. Was ist passiert?
Viele Politiker*innen erklärten seit den 1990er Jahren, Bildung sei
die Lösung für die wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung – für
wachsende Ungleichheit, stagnierende Löhne und den Verlust von gutbezahlten
Arbeitsplätzen in der produzierenden Industrie. Linksliberale Politiker wie
Bill Clinton, Toni Blair, Gerhard Schröder und besonders [2][Barack Obama]
haben durch die starke Betonung von Chancengleichheit durch Bildung mit
dazu beigetragen, dass nichtakademische Berufe entwertet wurden.
Es entstand der Eindruck, dass der „Arbeiter“ nichts mehr zählt. Die
Aussage von Obama, dass jeder Mensch eine Chance auf einen
Hochschulabschluss habe, er müsse nur hart genug arbeiten, war keine
Antwort auf die wachsende [3][Ungleichheit in einer Gesellschaft], in der
zwei Drittel der Bevölkerung keinen solchen bekommen. Tatsächlich war dies
eine Diskriminierung der Mehrheit der Menschen, die das Gefühl haben
mussten, selbst schuld zu sein und im Wettbewerb versagt zu haben.
Es ist offensichtlich falsch, in den populistischen Protesten nur
Engstirnigkeit oder Wut auf die wachsende Ungleichheit zu sehen. Die Klagen
und Proteste der Menschen, die Donald Trump gewählt haben, sind auch
moralischer und kultureller Natur. Es geht ihnen nicht nur um Löhne und
Arbeit, sondern auch um gesellschaftliche Wertschätzung.
## 83 Prozent im Bundestag haben Examen
Die weißen Männer in den USA ohne Hochschulabschluss fragen sich, warum
Frauen, Farbige und Behinderte gefördert werden, sie aber als „White Trash“
diskriminiert und in Fernsehsendungen als „dumm“ und „ungebildet“
dargestellt werden, wie zum Beispiel Homer Simpson. Der US-Philosoph
[4][Michael Sandel] spricht daher von einer Meritokratie. Im US-Kongress
haben 95 Prozent der Abgeordneten einen akademischen Grad.
Im Bundestag sind es 83 Prozent, während nicht mal 2 Prozent einen
Hauptschulabschluss haben. Auch in der Wirtschaft hat sich der Glaube an
Zeugnisse immer mehr verbreitet. Heute darf man ohne Uni-Abschluss kaum
noch eine Gruppe leiten. Wenn dann noch der Eindruck entsteht, dass die
„smarten“ Hochschulabsolventen arrogant auf die Mehrheit der Bevölkerung,
die nicht studiert hat, herabschauen, erwächst daraus ein Hass, der sich
nicht primär gegen die „Reichen“, sondern vor allem gegen die Bildungselite
wendet.
Das ist der Sprengstoff für linke und auch grüne Politik. Nur ein Drittel
der Anhängerschaft der Republikaner in den USA bewerten höhere Bildung
positiv. Auch die AfD spielt auf dieser Klaviatur, plakatiert „Deutschland
– aber normal“, um so antielitäre Gefühle zu mobilisieren. Die Betonung
der Chancengleichheit erweckt den Eindruck, dass damit etwas gegen die
Ungleichheit getan wird. Das wirkte jedoch um so unglaubwürdiger, je mehr
dies immer stärker in Kontrast mit der Wirklichkeit geriet.
Denn tatsächlich landete der Einkommenszuwachs seit den 1980er Jahren nur
bei den oberen Einkommen. Das Realeinkommen der ärmeren Hälfte der
Bevölkerung ist in den USA in den letzten 40 Jahren sogar gesunken. Das
reichste 1 Prozent bekommt mit über 20 Prozent des Gesamteinkommens mehr
als die ärmeren 50 Prozent, die nur 12 Prozent erhalten.
## Arme werden noch ärmer
Auch in Deutschland hat die Ungleichheit dramatisch zugenommen. Der Anteil
der unteren Hälfte der Bevölkerung am [5][Gesamtvermögen fiel seit 1980 von
5 Prozent auf unter 2 Prozent]. Dazu hat erheblich die Abschaffung der
Vermögenssteuer und das Amputieren der Erbschaftssteuer beigetragen.
Allerdings sind die Zahlen in Deutschland noch deutlich von denen in den
USA entfernt.
Chancengleichheit klingt also gerecht. Aber das Konzept der
Leistungsgesellschaft beinhaltet ein grundsätzliches ethisches Problem.
Denn selbst wenn echte Chancengleichheit hergestellt würde, stellt sich die
Frage, ob und wann der Erfolg eines Menschen tatsächlich sein Verdienst
ist. Dass ein Baseballspieler in den USA Millionen verdient, in Europa
dagegen nicht, ist einfach Zufall. Intelligenz ist teilweise auch
angeboren. Natürlich gehört zum Erfolg fast immer auch Fleiß und harte
Arbeit.
Aber auch diese hängen erheblich von motivierenden Eltern oder
Lehrer*innen ab. Wenn aber die Menschen nicht alle gleiche Anlagen und
Ausgangsbedingungen haben, dann kann weder Schulerfolg noch hohes Einkommen
ein Wertmaßstab für die Beurteilung von Menschen sein. Deshalb sollte man
Arbeit und Engagement jedes Menschen anerkennen und würdigen. Dagegen hat
der ökonomische Erfolg nichts mit Verdienst für die Gesellschaft zu tun.
Eine Verkäufer*in oder eine Krankenpfleger*in leisten sicher mehr
für die Gesellschaft als ein Börsenspekulant, der das Hundertfache an Geld
verdient, aber nicht „verdient“. Daher sind die einseitige Betonung von
Leistung und Bildung und die Aussage „Jede*r kann es schaffen – durch harte
Arbeit“ demütigend für die zwei Drittel der Bevölkerung, die keinen
Hochschulabschluss haben – es also nicht geschafft haben.
## Leistung und Verdienst bedingt sich nicht
Die Konzeption der Meritokratie greift auch die Idee der Demokratie an.
Denn wer Politik mit den Kriterien „intelligent“ versus „dumm“ bewertet,
der sagt damit auch, dass Entscheidungen lieber von „smarten“ Leuten
(Expert*innen) getroffen werden, anstatt alle Bürger*innen an
Diskussionen und Entscheidungen zu beteiligen.
Für Obama waren die Adjektive „intelligent“ und „smart“ die höchste F…
des Lobes. Er benutzte sie für die Außenpolitik, für Ausgabenkürzungen,
Einwanderungspolitik, Energiepolitik und so weiter. Zu den Fehlern dieses
technokratischen Politikansatzes gehört, dass die Entscheidungsfindung in
die Hand von Eliten gelegt wird und damit normale Bürger entmachtet werden.
Dementsprechend trauen dann Politiker*innen den einfachen Menschen
nicht mehr zu, gute Entscheidungen zu treffen. So ist es kein Zufall, dass
[6][die Grünen – die Partei mit den meisten Akademiker*innen neben der
FDP – die Forderung nach einem bundesweiten Volksentscheid aus ihrem
Grundsatzprogramm gestrichen] und auch die SPD, die diese Forderung seit
über 100 Jahren vertrat, diese fallengelassen hat.
Vielleicht ist es deshalb interessant, dass die weiße Unterschicht Trump
nicht wegen seiner absurden Klimapolitik oder seiner völlig ungerechten
Steuerpolitik zugunsten der Reichen gewählt hat. Er behauptete ja auch
frech das Gegenteil. Aber er konnte sich diese Art von Politik leisten,
weil das Vertrauen vieler Menschen in die Experten, die „Smarten“ zerstört
ist. Gerade in der Coronakrise wurde deutlich, dass das Leugnen von Fakten
sehr viel mit dem Misstrauen gegenüber Expert*innen zu tun hat.
## Höhere Löhne und höheres Ansehen
Auch in Deutschland ist eine Debatte entbrannt, warum rechtes Gedankengut
Boden gewonnen hat. [7][Sahra Wagenknecht] macht dafür die sogenannte
Identitätspolitik linker Parteien mit ihrer Betonung von
Antidiskriminierungsfragen wie Genderpolitik und Antirassismus
verantwortlich. Sie hält dies für eine Diskussion unter ökonomisch
Privilegierten.
Dem widerspricht die Jenaer Soziologin und Diskursforscherin [8][Silke van
Dyk] entschieden: Diese Argumentation habe einen alten
konservativ-reaktionären Kern. Tatsächlich sei der kollektive Kampf für
Arbeiteremanzipation stets mit der Entdeckung der Individualität verbunden
gewesen. Feministische Kämpfe waren ohnehin nie Minderheitenkämpfe. Der
Kampf gegen Rassismus in den USA ist existenziell für die Solidarität der
Unterschichten.
Deshalb hat Sahra Wagenknecht Unrecht, wenn sie den Kampf gegen
Ungleichheit und den für individuelle Rechte gegeneinander ausspielt. Neu
ist aber die Kritik der Leistungsgesellschaft in den Analysen des
US-Philosophen Sandel. Denn bei der Abwendung der Unterschichten von den
linken Parteien geht es eben nicht nur um die mangelnde Bekämpfung der
Ungleichheit. Die gesellschaftliche Linke muss sich auch für die Würde der
Arbeit – von der Kinderbetreuung bis zur Müllabfuhr – in der Gesellschaft
einsetzen.
Vielleicht erklärt das auch den [9][Ost-West-Unterschied] bei den
Wahlergebnissen der AfD. Es könnte durchaus sein, dass Demütigungen in den
neuen Bundesländern stärker empfunden werden als im Westen, da in der DDR
die Leistungen der Arbeiter stärker gewürdigt wurden. Daraus erwächst heute
um so mehr das Gefühl der Herabsetzung durch die Gebildeten, die oft auch
noch aus dem Westen gekommen sind.
Zur Würde der Arbeit gehört aber auch, dass die Verlierer des Systems nicht
bedauert werden wollen. Die Grünen, die Linkspartei und die
Sozialdemokraten betonen in ihren Programmen, dass sie gegen soziale
Ungerechtigkeit sind. Das reicht nicht aus und ist sogar kontraproduktiv,
wenn der Eindruck entsteht, dass sie die Verlierer*innen bemitleiden.
Interessanterweise scheint die Wahlwerbung von Olaf Scholz dies zu
berücksichtigen:
In seinem Wahlflyer heißt es gleich zu Beginn: „Eine Gesellschaft des
Respekts – Respekt heißt: die Würde der Arbeit wertschätzen.“ Aber
natürlich geht es nicht nur um die Würdigung der Arbeit in den Reden. Es
geht auch um Fakten – sonst wird das unglaubhaft. Es geht um faire
Bezahlung für die Arbeit, um Besteuerung der Reichen und ein gutes
Sozialsystem.
Und natürlich gehört dazu auch ein Bildungssystem, das eine gute kostenlose
Ausbildung und Weiterbildung für alle Menschen je nach ihren Fähigkeiten
gewährleistet, ohne sie einem gnadenlosen Leistungswettbewerb auszusetzen.
18 Sep 2021
## LINKS
[1] /Donald-Trumps-Wahlsieg/!5355487
[2] /Kommentar-Obamas-Wirtschaftsrede/!5062511
[3] /Rueckkehr-des-Klassenbegriffs/!5763487
[4] /Sachbuch-zu-Spaltung-in-den-USA/!5741463
[5] https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deut…
[6] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-11/gruene-bundesparteitag-volk…
[7] /Neues-Buch-von-Sahra-Wagenknecht/!5771163
[8] /Soziologin-ueber-soziale-Ungerechtigkeit/!5789872
[9] /Ostbeauftragter-Marco-Wanderwitz/!5772366
## AUTOREN
Karl-Martin Hentschel
Karl-Martin Hentschel
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