# taz.de -- Sportpädagogin über Ungleichheit: „Vereine sind sozial geschlos… | |
> Mädchen aus armen Haushalten finden nur selten Zugang zum Sport. | |
> Pädagogin Petra Gieß-Stüber über die Gründe – und über ihr Projekt �… | |
> for Girls“. | |
Bild: Fußball für alle? Mädchen sind auf Bolzplätzen nur selten zu finden | |
taz: Frau Gieß-Stüber, Sie gehen bei „Kick for Girls“ gezielt in Viertel, | |
wo Armut herrscht. Was ändert das? | |
Petra Gieß-Stüber: Es ist selbstverständlich, dass man dort hingeht, wo die | |
Leute leben, in Quartiere und Schulen. Die Kinder, die nicht aus | |
Eigeninitiative in den Sportverein gehen, können wir vor allem dort | |
erreichen. Schul-AGs werden von Menschen mit Zuwanderungsbiografie oder | |
Mädchen überproportional häufig genutzt. Ein anderer Vorteil ist, dass wir | |
da unabhängig von Vereinsstrukturen sind und pädagogische Konzepte | |
entwickeln können. | |
Die Kinder gehen nicht in ein Sportprojekt im Nachbarkiez? | |
Kinder, die [1][aus sozial prekären und bildungsfernen Familien] stammen, | |
sind ganz stark an ihr Quartier gebunden. Sie kennen die Innenstadt kaum. | |
Deshalb bemühen wir uns, ihre Mobilität zu erweitern. Oft beginnen wir mit | |
Fußball in einer Halle, dann gehen wir auf den Schulhof. Schon das ist für | |
die Mädchen total ungewohnt, dass sie eine Fläche draußen erobern. Dann | |
gehen wir an einen öffentlichen Platz. | |
Die Idee dahinter ist, dass die Kinder selbstständig Raum erobern. Aber das | |
ist schwierig. Wir haben immer versucht, die Unterstützung Schritt für | |
Schritt zu reduzieren. Ihr könnt doch heute mal alleine spielen. Aber | |
alleine passierte nichts. Ihre Erfahrungen aus dem Leben und Umfeld sind | |
sehr prägend, es wäre naiv, zu glauben, dass man das in ein paar Wochen | |
ändert. | |
Hat das mit Klasse und Milieu zu tun? | |
Definitiv. Und mit Geschlecht. Jungen nutzen öffentlichen Raum mehr als | |
Mädchen. Sie verdrängen Mädchen nur durch ihre Präsenz oder aktiv. Sobald | |
zum Beispiel irgendwo ein schlichter Bolzplatz ist, werden Mädchen ihn | |
nicht benutzen. Es ist ein vorauseilender Gehorsam, sie würden das gar | |
nicht so bewusst artikulieren. Aber der Raum ist für sie als männlich | |
verankert, sie halten sich fern. | |
Wenn man dagegen multifunktionale Flächen baut oder sie auch nur mit Grün | |
bepflanzt, verändert sich etwas: Mädchen kommen. Es geht um intersektionale | |
Diskriminierung, also Überschneidung von Diskriminierung wegen Armut, | |
fehlender Bildung, [2][Hautfarbe] und Geschlecht. | |
Ist das im Bewusstsein der Stadtplanung angekommen? | |
Es gibt einen Umbruch in den letzten Jahren. 2007 haben wir dazu eine große | |
Studie in Freiburg veröffentlicht. Damals war die Sportentwicklungsplanung | |
noch sehr vereinsgebunden, da wurden normierte Sportflächen geschaffen. Das | |
haben wir kritisiert. Inzwischen ist man auf dem Weg hin zu mehr | |
Multifunktion, mehr inklusivem Sporttreiben, auch für Menschen mit | |
Beeinträchtigung. Vor zehn Jahren spielte das nirgendwo eine Rolle. Aber | |
dieser Prozess dauert lange; viele Sportstätten stammen ja noch aus der | |
Nachkriegszeit. | |
Wenn wir verschiedene Gruppen anschauen: Menschen mit | |
Migrationshintergrund, Frauen, Nichtweiße, Menschen aus Armut – wie steht | |
es um deren Teilhabe im Fußball und im Sport? | |
Der mächtigste Ungleichheitsfaktor ist Armut. Wenn die Familie ökonomisch | |
benachteiligt ist, wenn das Bildungsniveau der Eltern niedrig ist. Dann | |
werden Kinder seltener dazu angeregt, sich zu bewegen, und entwickeln | |
weniger motorische Kompetenzen. Sie kommen schon in die Schule mit | |
motorischen Defiziten. | |
Daraus entsteht ein Teufelskreis. Statistisch gesehen ist es auch so, wenn | |
man die Variable Migrationshintergrund nutzt, dass die Kinder deutlich | |
seltener im Vereinssport sind. Aber solche Kategorien sind auch ein | |
Problem. Der Migrationshintergrund sagt heute wenig über die | |
Lebenssituation von Betroffenen. Man reproduziert damit nur dieselben | |
Vorurteile. | |
Armut, sagen Sie, ist die große Konstante. Menschen, die arm sind, treiben | |
weniger Sport. Warum ist es über Jahrzehnte nie gelungen, diese Menschen | |
stärker mit einzuschließen? | |
Menschen in Armut haben eine andere Haltung zu Lebensgestaltung. Sie sind | |
stärker konzentriert auf das alltäglich Notwendige, fürs Sporttreiben haben | |
sie gar nicht den Horizont. Und die Unterschiede zur sonstigen Klientel im | |
Sportverein sind groß. Im Kick-Projekt haben wir versucht, kleine | |
Begegnungen mit Gymnasiastinnen zu schaffen. Man sieht sofort, wer auf | |
welche Schule geht: an der Kleidung, an den Marken, daran, dass die ärmeren | |
Kinder kein richtiges Sportzeug hatten. | |
Das sehen die Kinder natürlich auch, und das schafft sofort wieder | |
Abgrenzung. Als einige gute Mädchen von uns in einen Verein wechseln | |
wollten, haben wir sie von Studentinnen begleiten lassen, damit sie erst | |
mal einen Zugang bekommen. Auch die Studentinnen haben gesagt: Die Mädchen | |
fallen auf. Durch ihre Kleidung, durch ihr Verhalten. | |
Inwiefern haben sie sich anders verhalten? | |
Mädchen aus bürgerlichem Hause wissen, wie Sport funktioniert. Dieses | |
implizite Wissen fehlt Mädchen aus armem Haus. Sie fühlen sich ständig | |
überfordert, ihr Zugang, ihre Sprechweise sind anders. Die Unterschiede | |
waren noch viel eklatanter, als wir erwartet hatten. Manchmal funktioniert | |
so etwas. Aber dafür braucht man aufgeschlossene TrainerInnen. | |
Was muss ein Verein tun, wenn er Kinder aus sozioökonomisch abgehängten | |
Verhältnissen wirklich integrieren möchte? | |
Wichtig ist, dass nicht nur ein Kind mit diesem Hintergrund in den Verein | |
geht. Ein einzelnes Mädchen hat es bei uns nie geschafft. Sondern drei bis | |
vier, die sich kennen. Das kann klappen. Wir haben die Trainerinnen | |
vorbereitet. Anfangs haben sie viele Integrationsspiele gemacht, wo die | |
Gruppen zufällig zugeteilt wurden. Man braucht diese Überbrückung, sonst | |
klappt es nicht. | |
Der Sport inszeniert sich gern als gesellschaftliche Reparaturanstalt. In | |
der Realität scheint es deutlich schwieriger zu sein, eine echte soziale | |
Mischung hinzubekommen. | |
Es ist definitiv schwerer, als der Sport es suggeriert. Man kann Kinder | |
erreichen. Aber dafür muss man die Strukturen infrage stellen. Sportvereine | |
sind eine Vereinigung von Freiwilligen. Wer zu fremd erscheint, bei wem es | |
keine spontanen gemeinsamen Themen gibt, findet dort nicht hinein, das | |
liegt auf der Hand. Vereine sind oft eher sozial geschlossen. Kleine | |
Einspartenvereine sind am schwierigsten. Große Klubs sind vielfältiger, | |
aber auch anonymer. | |
Wie kommt man aus diesem Dilemma? Welche Strukturen können wir verändern? | |
Ganz toll angenommen wurde bei uns ein offenes Projekt. Ein sehr | |
engagierter Verein hat am Samstag zwischen 11 und 13 Uhr eine offene | |
Trainingszeit bereitgestellt, mit Übungsleiterin, aber ohne Anmeldepflicht. | |
Die Mädchen konnten teilnehmen, ohne sich festlegen zu müssen. Sie haben | |
sich nicht gleich überfordert gefühlt, konnten mal kommen und mal nicht | |
kommen, hatten aber trotzdem Strukturen. Ohne geschultes Personal sind | |
Vereine bei so einer Aufgabe überfordert. | |
Ich fand sehr interessant, welches hohe Bedürfnis die Mädchen in den AGs | |
hatten, neben dem Fußball über ihre Probleme zu sprechen. Wie das | |
Trainerinnen überforderte. | |
Für die Studentinnen war das richtig schwer. Sie sind davon ausgegangen, | |
dass andere auch so Sport treiben wie sie. Die Mädchen bringen aber ganz | |
andere Themen mit. Die ersten Trainerinnen haben dieses Bedürfnis der | |
Mädchen unterdrückt, aber das war nicht hilfreich. Das musste raus. | |
Später haben sie ihnen erst mal zehn Minuten Raum gegeben, damit sie reden | |
und ankommen konnten. Wir veranstalten einmal im Jahr einen | |
Mädchenfußballtag, wo gezielt die ganze Breite der Bevölkerung teilnimmt. | |
Jedes Kind bekommt ein schlichtes Hemd, die Gruppen werden gelost, sodass | |
sich soziale Unterschiede nivellieren. Da kriegt man es tatsächlich hin, | |
dass Vorbehalte gegen die andere Gruppe überwunden werden. | |
All das sind Projekte, bei denen Wohlhabende entscheiden, und diese | |
Entscheidungen für Menschen aus armen Verhältnissen treffen. Auch die | |
Entscheidungen in den Gremien werden weitgehend von gutbürgerlichen | |
Menschen getroffen. Wie lässt sich das ändern? | |
Im Verband sitzen vor allem Menschen, die drei Kategorien erfüllen: Sie | |
sind männlich, berufstätig und erfolgreich. Sie müssen gute Netzwerke | |
haben. Für Menschen aus armen Verhältnissen ist es schon sachlich kaum | |
möglich, in solchen Gremien zu landen. Denn entweder sind sie vom Beruf | |
ausgelaugt. Oder sie sind nicht berufstätig, was dazu führt, dass sie an | |
Struktur verlieren und kaum sich selbst organisieren können, noch schwerer | |
andere. | |
Man kann Menschen in Armut schon gezielt ansprechen. Einer meiner Studenten | |
hat kürzlich gezielt Wohnungslose für Sport angesprochen; erstaunlich viele | |
haben sich gemeldet und nehmen teil. Marginalisierte Gruppen sind sehr gut | |
ansprechbar für Sport. Wir qualifizieren junge Menschen für den nötigen | |
Perspektivenwechsel. | |
4 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Kolumne-Henningway/!5540532 | |
[2] /Rassismus-im-Jugendsport/!5658838 | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
## TAGS | |
Fußball | |
Jugendsport | |
Klassismus | |
Schwerpunkt Armut | |
Sportvereine | |
soziale Ungleichheit | |
Rugby | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Frauenfußball | |
Kolumne Olympyada-yada-yada | |
Basketball | |
Schwerpunkt Sport trotz Corona | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Leggings für Rugby-Spieler: Revolution der Meggings | |
Bislang war den Rugby-Männern das Tragen von Leggings verboten. Nun hat der | |
Dachverband diese Regelung „aus Gründen des Wohlergehens“ geändert. | |
Soziale Spaltung: Die Abgründe der Chancengleichheit | |
Linke Parteien werden schon lange von Akademiker*innen beherrscht. Das | |
spielt rechtspopulistischen Parteien in die Hände. | |
Finanzielle Entwicklung im Frauenfußball: Am Tropf der Männer | |
Im Frauenfußball führt das Engagement von Männer-Proficlubs zu einer | |
asymmetrischen Professionalisierung. Originäre Frauenteams werden | |
abgehängt. | |
Mobbing im Jugendsport: Träume dürfen ruhig platzen | |
Dürfen Nachwuchstalente nicht sensibel sein? Der Trainingsbetrieb ist nur | |
auf die Hartgesottenen ausgerichtet. Anderen bleibt das Aufhören. | |
Rassismus im Jugendsport: „Ey, du schwarzes Kind!“ | |
In Berlins Basketball-Szene gibt es Vorwürfe, Entschuldigungen und | |
Zurückweisungen. Ist es Rassismus, Überforderung, Dummheit? | |
Kolumne Henningway: Ökonomie im Zeichen des Sports | |
Kinder- und Jugendsport muss als Teil des Sozialsektors gesehen werden. So | |
kann Sport aus der Perspektive der Schwächsten gestaltet werden. |