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# taz.de -- Soziale Herkunft im Sport: Einsame Klasse
> Deutsche Athlet:innen stammen überproportional häufig aus
> privilegierten Verhältnissen. Für Arbeiterkinder gibt es kaum ein
> Bewusstsein.
Bild: Beschwerlicher Kampf: Madeline Folgmann (links), hier gegen Vanessa Becks…
Berlin taz Lukas Winkler ist schon Trainer, als er beginnt, sich Fragen zu
stellen. Der vierfache Deutsche Meister [1][im Taekwondo] und
Ex-Nationalkaderathlet arbeitet mittlerweile als Nachwuchstrainer am
Landesstützpunkt Dormagen und als Talentsichter für Grundschüler:innen. Er
erlebe dabei die stetig steigenden Startgebühren, Reisekosten, Spritkosten.
Und bei Sichtungen in prekären Vierteln frage er sich: „Haben diese Kinder
überhaupt eine Chance, im Spitzensport anzukommen?“
Winkler hat aus dieser persönlichen Frage eine Masterarbeit gemacht. 104
Kaderathlet:innen von Olympiakader bis Landeskader machten dort
freiwillig Angaben zu ihrem sozioökonomischen Hintergrund, ihren
sportlichen Erfolgen und zur Frage, ob ihre Herkunft die Sportkarriere
beeinflusst habe.
Das Ergebnis: Ein hoher sozioökonomischer Status (zum Beispiel Abitur,
Studium und eine hohe Jobposition) war mit 61 Personen überrepräsentiert,
einen niedrigen Status hatten nur 13 Personen. Und rund drei Viertel der
Proband:innen fanden, dass ihre soziale Herkunft die sportliche Laufbahn
positiv beeinflusst habe.
Kampfsport ist hier überproportional vertreten, und die Athlet:innen
haben eben eigeninitiativ mitgemacht. Doch die Ergebnisse decken sich mit
anderen Studien. So fand eine Befragung von 2023 unter 481 jugendlichen
Kaderathlet:innen, dass 80 Prozent das Gymnasium besuchen. Und Studien im
Breitensport zeigen: Kinder aus sozioökonomisch benachteiligtem Haus gehen
seltener in den Sportverein, sind weniger über Angebote informiert, haben
weniger sportaffine Eltern.
## Desinteresse des Sports
„Ich war nicht überrascht von den Ergebnissen“, sagt Winkler. „Ich habe …
selbst erlebt, aus welchem Umfeld die Leute im Leistungssport kamen.“ Was
ihn vielmehr erschreckt habe, sei das Desinteresse des Sports. „In der
Diskussion über Leistungssport in Deutschland hat dieses Thema überhaupt
keinen Platz. Es wird nicht einmal wahrgenommen.“
Warum? „Vielleicht, weil man sich eingestehen müsste, dass man
jahrzehntelang etwas falsch gemacht hat. Der deutsche Leistungssport hält
sich aufgrund dieses Problems seinen Talentpool systematisch klein.“ Die
politische Debatte sei absurd, findet Winkler: „Dieselben politischen
Akteure, die mehr Medaillen fordern, sagen, wir können uns unseren
Sozialstaat nicht mehr leisten.“
Auffällig selten ist soziale Herkunft im Sport ein Thema – ganz anders als
bei Benachteiligungen wie Sexismus, Homophobie und Rassismus. Es gibt zudem
kaum deutsche Sportler:innen, die etwa ihre Arbeiterherkunft gezielt zum
Thema machen. Dieser blinde Fleck hat auch mit der Klassengesellschaft zu
tun. Rassismus oder Homophobie können eingedämmt oder besiegt werden. Armut
dagegen ist im Kapitalismus eingepreist. Damit es höhere Profite geben
kann, braucht es den Niedriglohnsektor.
Der Sport wiederum ist vom Sponsoring dieser Konzerne hochgradig abhängig.
Ungleichheit ist damit sowohl als selbstverständlich akzeptiert wie auch
mutmaßlich aus taktischen Gründen ein Tabu. Schwerlich kann man sich einen
Sport vorstellen, der statt [2][„Stop Racism“] ein Banner mit dem Titel
„Stoppt Ungleichheit“ oder „Beendet die Klassengesellschaft“ hochhält.
Stattdessen erzählt er das Märchen, der Sportverein sei für alle gleich.
Es gibt Arbeiterkinder, die es trotz allem in den Spitzensport schaffen.
Und die bereit sind, öffentlich darüber zu sprechen. Eine davon ist die
Taekwondo-Kämpferin Madeline Folgmann. Sie ist elffache Deutsche
Meisterin, war EM-Dritte und U21-Europameisterin.
## Nicht so viel Geld wie andere
Derzeit studiert sie parallel Sportwissenschaften. Folgmann ist es wichtig,
zu betonen: Ihre Familie sei nicht arm gewesen. Nur habe man eben nicht so
viel Geld gehabt wie andere.
Ihr Vater ist Maurer, die Mutter Friseurin. Madeline Folgmann hat aber auch
einen strukturellen Vorteil: Ihre Eltern sind sehr sportaffin. Die Mutter
ist Spinning-Trainerin, der Vater habe viel Badminton gespielt. Sie wissen,
wie Vereinssport funktioniert. Damit trifft eine wichtige soziokulturelle
Hürde auf sie nicht zu. Mit fünf Jahren beginnt sie mit dem Taekwondo.
Hatte ihre Herkunft einen Einfluss auf die Sportkarriere?
Durchaus auch positiv, erzählt Folgmann. „Ich bin immer auf dem Boden
geblieben. Ich konnte die vielen Reisen und Erfolge immer sehr
wertschätzen.“ Möglich wird ihre Karriere auch durch einen engagierten
Heimatverein: Der habe ihr Reisen nach Nordamerika oder Australien
finanziert, habe Sponsoren für sie gefunden. Rund zweimal im Monat muss die
Topathletin zu Wettkämpfen ins Ausland, zudem Startgebühren zahlen. „Ohne
meinen Verein und die Sponsoren hätten wir uns das auf Dauer nicht leisten
können.“
Wer in Deutschland sozioökonomisch benachteiligt ist, ist gerade in
unterfinanzierten Sportarten so wie Folgmann auf den Verein angewiesen:
Manche können oder wollen solidarisch sein, anderswo müssen Athlet:innen
Flüge und Unterkünfte selbst bezahlen. Folgmann berichtet, sie kenne
durchaus Athletinnen mit einem vergleichbaren Background. Aber die Herkunft
habe einen Einfluss.
## Wer kein Abi hat, muss zum Bund
Auch auf die Laufbahn neben dem Sport. „Meine Mutter wollte, dass ich zur
Bundeswehr gehe, weil ich da finanziell abgesichert bin. Aber mein Trainer
hat gesagt: Wir kriegen das auch anders hin.“ Wieder beißt sie sich durch:
Mehrere Stipendien ermöglichen Madeline Folgmann ihr Studium.
Sie gehört damit zum hochqualifizierten Milieu des deutschen Spitzensports.
Wesentlich schwerer hat es, wer etwa kein Abitur vorweisen kann. Allen
Ansprechpartner:innen für diesen Text ist kein Ausbildungsstipendium
für Spitzensportler:innen bekannt, jenseits der [3][Förderstellen bei
Bundeswehr und Polizei.]
„Ich hatte überlegt, eine Ausbildung als Physiotherapeutin zu machen“, so
Folgmann. Doch die monatlich 600 Euro Gebühren habe sie nicht aufbringen
können. Ausbildungen seien auch mit Spitzensport kaum vereinbar. Dort gilt,
plakativ gesagt: Wer kein Abi hat, muss zum Bund. Eine massive
Benachteiligung, gerade für andere Schulabschlüsse.
Ähnliches berichtet der Verein Athleten Deutschland, der sich für die
Belange von Athlet:innen einsetzt. Tarek Elias, Referent für Policy und
Public Affairs, sagt: „In Deutschland verlangen die Ausbilder, vor Ort im
Betrieb zu sein, das ist mit der Lebensrealität nicht vereinbar.“
Allerdings würden die meisten Spitzensportler:innen ohnehin studieren.
Viel Selektion passiert offenbar schon vorher. Elias sagt: „Viele
Kaderathlet:innen können sich Leistungssport erst leisten, weil ihr
Umfeld sie unterstützt. Bei ganz vielen leisten die Eltern einen
signifikanten Beitrag.“
[4][Athleten Deutschland] erlebe eine große Spannbreite: Eine Minderheit
mache sich jeden Monat um ihre Rechnungen Sorgen, es gebe auch eine
Minderheit, die sehr gut verdiene. Und große Diskrepanzen zwischen den
Sportarten. „Im nicht-olympischen Sport und paralympischen Sport gibt es
signifikant weniger Sportförderstellen, da ist die Lage viel prekärer.“
Auch sei etwa gerade für Para-Athlet:innen ein bezahlbarer
Versicherungstarif fast unmöglich.
## Mehr frühzeitige Förderung nötig
Athleten Deutschland vertritt eine Reihe von Forderungen: Eine gesetzlich
geregelte Mindestabsicherung für 24 Monate für die Bundeskader statt
aktuell 12 Monaten, 1.800 Euro Mindestförderung, eine zweckgebundene
Zahlung für die Altersvorsorge und eine Kostenübernahme für den
Versicherungsschutz. Aber reicht es, erst bei fertigen Athlet:innen
anzusetzen? Und geht es nicht auch um Breite statt Spitze?
Madeline Folgmann wünscht sich, dass man viel früher mit der Unterstützung
beginne. Es brauche deutlich mehr Schulangebote wie Schnuppertage oder
Sport-AGs, wo man alle Kinder erreiche. Und eine frühzeitigere
Geldförderung für Auslandsreisen. Lukas Winkler sähe gern einen
Förderverein für Sportler:innen aus prekärem Haus, eine Taskforce zum
Thema und systematische Konzepte zur dualen Karriere, mit anderen
Optionen als bloß der Bundeswehr.
Mit Mitstreiter:innen vor Ort setzt er sich außerdem für lockerere
Wettkampfkonzepte ein, wo Kinder nicht direkt ausscheiden. Leicht sei das
nicht: „Die Strukturen bestehen seit Jahrzehnten. Viele sagen: Das haben
wir schon immer so gemacht.“
Der Sport müsse sich zudem politisch für den Sozialstaat stark machen: „Der
Sport hängt stark von der Politik ab. Er müsste sich viel mehr
positionieren, aber er will keine Angriffsfläche bieten.“ Zum Thema
Ungleichheit gibt sich auch Athleten Deutschland wenig positionsfreudig.
„Es ist Aufgabe des organisierten Sports, dazu eine verlässliche
Datengrundlage zu schaffen“, so Tarek Elias.
Bei ihnen habe es AGs zu Rassismus und Gleichstellung gegeben, diese
Schwerpunkte hätten die Mitglieder gewünscht. Wenn viele
Spitzensportler:innen aus privilegierten Verhältnissen stammen, ein
Teufelskreis. „Ich habe zu Sport und Klasse kaum Diskussionen
wahrgenommen“, so Elias. „Sport lässt Menschen über Differenzen
hinwegsehen.“ Vielleicht ist genau das das Problem.
Lukas Winkler hofft derweil darauf, dass der Sport das Thema überhaupt
erkennt. Und sich dazu bekenne. „Es müsste eigentlich einen Riesenaufschrei
geben.“
19 Sep 2025
## LINKS
[1] /Taekwondo-Europameister-Laachraoui/!5306963
[2] https://inside.fifa.com/campaigns/no-discrimination/no-racism
[3] /Wintersportler-im-Staatsdienst/!5049318
[4] https://athleten-deutschland.org/
## AUTOREN
Alina Schwermer
## TAGS
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