# taz.de -- Pragmatismus und Radikalität: Linke Hasenfüße | |
> Progressive Regierungen sollen auf die Meinungen der Mehrheit Rücksicht | |
> nehmen, heißt es häufig. Doch die sind nicht in Stein gemeißelt. | |
Bild: „Solange ich da bin, wird rechts regiert“, sagte Bruno Kreisky, hier … | |
Häufig kursieren in den sozialen Medien lustige Memes von der Art: „Viele | |
Zitate im Internet sind erfunden (Julius Cäsar)“. Gut, das ist deutlich | |
erkennbar erfunden, obwohl auch darauf manche Leute reinfallen. Längst tut | |
man sowieso gut daran, allen Zitaten zu misstrauen. Ehrlicherweise muss man | |
aber auch einräumen, dass es nicht das Internet gebraucht hat, um | |
Falschzitate zu verbreiten. Manchmal hilft das Internet sogar, verfestigtes | |
Falschwissen zu untergraben. | |
Eines meiner Lieblingszitate des großen Ökonomen John Maynard Keynes ist | |
seit vielen Jahren: [1][„Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine | |
Meinung. Und was machen Sie?“] Leider beging ich unlängst den Fehler, die | |
Quelle zu googeln, was in der schockierenden Entdeckung mündete, dass auch | |
das ein Falschzitat und nicht von Keynes ist. | |
Sehr verdient um die Enttarnung von Falschzitaten hat sich der Wiener | |
Literaturwissenschaftler und Karl-Kraus-Forscher Gerald Krieghofer gemacht. | |
So fand er für ein kursierendes Zitat des legendären sozialistischen | |
österreichischen [2][Bundeskanzlers Bruno Kreisky] die Ursprungsquelle in | |
einer Ausgabe der Salzburger Nachrichten vom Mai 1976. Der sagte: „Solange | |
ich da bin, wird rechts regiert.“ | |
Kreisky, der eine stark selbstironische Seite hatte, meinte damit: Man | |
dürfe die Leute nicht mit gesellschaftlicher Progressivität, radikalen | |
Plänen und wilder Rhetorik überfordern. Lieber solle man ein gemäßigter | |
Sozialist sein, der dafür Mehrheiten hinter sich versammeln kann, als ein | |
radikaler Sozialist, der wirkungslos bleibt, weil er keine Wahlen gewinnen | |
kann. | |
Damit hat er radikale ökonomische Forderungen seiner linken Parteifreunde | |
gemeint (wie weitgehende Reichensteuern und Verstaatlichungen), aber auch | |
gesellschaftspolitische Modernisierungen wie die Frauenemanzipation. | |
Kreisky hat beispielsweise die Fristenlösung für den | |
Schwangerschaftsabbruch eingeführt, aber im Grunde musste er von den | |
kämpferischen Frauen in seiner Partei dazu gezwungen werden. Diese und | |
andere progressive Gesetze hatten am Ende viel Unterstützung hinter sich, | |
aber Kreisky hätte damit nicht gerechnet. | |
## Radikalität und Mäßigung | |
Ein bisschen Hasenfuß war er schon. Übrigens nicht viel anders als der | |
legendäre Anführer der italienischen Eurokommunisten, Enrico Berlinguer. | |
Der gewann eine Volksabstimmung über die Fristenlösung, die er eigentlich | |
nicht wollte, weil er sicher war, diese niemals gewinnen zu können. Und das | |
ist nur ein Beispiel einer einstmals sehr umkämpften | |
gesellschaftspolitischen Reform. Man kann hier die vielen anderen | |
Thematiken – Diversität einer Zuwanderergesellschaft, moderne | |
Staatsbürgerschaftsgesetze, LGBTIQ-Rechte – dazu denken. | |
Linke Regierungskunst heißt ja, den Königsweg zwischen ambitionierter | |
Radikalität und beruhigender Mäßigung zu finden, und dieser Königsweg ist | |
leider nicht auf Landkarten verzeichnet. Wenn Robert Habeck anmerkt, wie | |
unlängst beim Kölner Philosophie-Festival, dass Ideen untauglicher Schrott | |
sind, wenn sie so radikal seien, dass sie politisch nichts nützen, dann ist | |
das wie ein moderner Nachklang des Kreisky-Aperçus. Der Realist will seine | |
Ansichten so formulieren, dass sie an die vorherrschenden Meinungen in | |
einer Gesellschaft zumindest anschlussfähig sind. | |
Völlige Zustimmung, nur gibt es eine kleine Kompliziertheit: | |
„vorherrschende Meinungen“ oder Konventionen sind keine unveränderbaren | |
Konstanten. Je furchtsamer man ist, umso weniger wird man sie vielleicht in | |
eine progressive Richtung verändern. Auch bei Sozialdemokraten gab es in | |
den vergangenen Jahrzehnten starke Stimmen, die drängten, man müsse sich an | |
einen konservativen Zeitgeist anpassen, um stärker zu werden, was aber oft | |
nur dazu geführt hat, dass die Sozialdemokratie schwächer und der rechte | |
Zeitgeist stärker wurde. | |
Gern wird heute auch angeführt, dass die Progressiven die Wähler:innen | |
mit sozialpolitischen und ökonomischen Themen gewinnen können, sie aber | |
[3][mit zu viel gesellschaftspolitischem Klimbim oder der Thematisierung | |
von Trans-Toiletten] abschrecken würden. Oft unterschätzt man jedoch die | |
potenzielle Fortschrittlichkeit einer Gesellschaft, weil man kein präzises | |
Bild vom wirklichen Meinungstohuwabohu der Leute hat. Und außerdem haben | |
wir jetzt schon ein paar Jahre lang die Erfahrung gemacht: Wenn Linke in | |
„die Mitte“ rücken, dann führt das nur dazu, dass sich diese „Mitte“ … | |
rechts verschiebt. | |
Heute stimmt ja auch die Vorstellung von den „vorhandenen, konventionellen | |
Ansichten“, von denen man sich nicht zu weit entfernen dürfe, nur halb. Die | |
Ansichten sind nicht „vorhanden“, sondern werden von den extremen Rechten | |
in ihrem identitätspolitischen Wahnsinn täglich fabriziert, und die | |
Konservativen dackeln ihnen nach. Heute kann schon die wahnhafte Liebe zur | |
Ölheizung in religiöses Eiferertum eskalieren. Diese Spinner malen Poster | |
gegen „die Heizungs-Ideologie“. Bald beten sie Öltanks an. Wenn man diesen | |
Leuten durch „Mäßigung“ oder sonstige Anpassungsleistungen nachgibt, such… | |
sie sich eben ein anderes Kulturkampfthema. | |
Falsch ist dennoch nicht, dass es Maß und Ziel braucht. Man wird die | |
eigenen progressiven Werte erfolgreicher verfechten, wenn man sie in einer | |
Sprache vorbringt, die mit dem Alltagsverstand und den Werten breiter und | |
verschiedener Milieus und Segmente der Gesellschaft eine Verbindung findet. | |
Wer nur für die eigene Peergroup kommuniziert, nur darauf aus ist, in der | |
Bubble der sowieso Überzeugten eine Heldin zu sein, wer im Sektenjargon der | |
paar Hundert Gleichgesinnten spricht, tut niemandem einen Gefallen – außer | |
natürlich der Gegenseite. | |
Der linke US-Linguist George Lakoff hat einmal eine feine Leitlinie | |
formuliert: „Seid authentisch. Steht zu dem, was ihr glaubt. Fühlt euch | |
hinein in die Leute, mit denen ihr sprecht, und verbindet euch mit ihnen.“ | |
23 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Olaf-Scholz-und-der-leichte-Linksruck/!5703138 | |
[2] https://jacobin.de/artikel/wie-die-sozialdemokratie-ihre-sprache-verlor-olo… | |
[3] /Erbauliche-Nachrichten-aus-Oesterreich/!5928561 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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