| # taz.de -- Bürgermeister über Ostdeutschland: „Wir machen hier betreutes S… | |
| > Die Zukunft Ostdeutschlands liegt in den Händen der BürgerInnen, sagt | |
| > Dirk Neubauer. Er kritisiert das „Überkümmern“ um Ostdeutsche. | |
| Bild: Herbstidylle in Sachsen: 4500 Einwohner:innen wohnen um das Schloss Augus… | |
| taz: Herr Neubauer, in Ihrem Buch loben Sie die „großartige | |
| Wiedervereinigung“, obschon Sie deren Folgen auf das Gemüt der Ostdeutschen | |
| kritisieren. | |
| Dirk Neubauer: Das Verrückte ist, dass das aus meiner Sicht tatsächlich | |
| stimmt. Leider verbieten wir uns oft den Stolz darauf, dass wir es | |
| geschafft haben, an der bestbewachtesten Demarkationslinie der Blöcke | |
| friedlich etwas so zu drehen. Ein Fehler aber war unser bis heute | |
| anhaltendes Bemühen, Westdeutsche zu werden und den Westen nachzubauen. Ich | |
| verstehe nicht, warum wir uns nicht emanzipieren können. | |
| Ist das nicht erklärlich, weil wir 1989 unvorbereitet in den Sturz der | |
| SED-Herrschaft stolperten, ohne eine eigene Alternative gehabt zu haben, | |
| die nicht Bundesrepublik hieß? | |
| Zumindest in diesem Punkt müssen wir auch von der Verantwortungslosigkeit | |
| des Westens reden, der diese Situation ausgenutzt hat. Wir dürfen daraus | |
| aber nicht die Selbstentschuldigung ableiten, uns in [1][eine ewige | |
| Opferecke] zu stellen. Wir sind weder schlechter noch dümmer noch fauler, | |
| wir sind einfach nur weniger. | |
| Sie bekunden einerseits Verständnis für StraßendemonstrantInnen, werfen | |
| ihnen aber zugleich vor, aus ihrer politischen Unmündigkeit nicht | |
| herauszukommen. | |
| Es darf nicht beim Protest bleiben. Zum Wunsch nach Veränderung gehört | |
| auch, dass ich selbst die Korrektur versuche. Wir haben mehr Möglichkeiten, | |
| als wir glauben. Ein Drittel Nichtwähler beispielsweise verhält sich | |
| einfach nicht. | |
| Ich kann auch dieses [2][Beauftragtenwesen für den Osten] nicht ausstehen, | |
| denn es verstärkt die Haltung „Man muss sich um uns kümmern!“ Und die SPD, | |
| der ich angehöre, kommt dem gern entgegen. Ich hingegen warne, dass dieses | |
| Überkümmern einen Krebsschaden an der Demokratie pflegt. So entstehen | |
| Erwartungshaltungen, die wir nie erfüllen können. Ganz abgesehen davon, | |
| dass wir so politischen Rattenfängern die Türen öffnen. | |
| Sind BürgerInnen auf dem flachen Land demokratiemüde oder werden sie | |
| behindert? | |
| Wir fahren nicht nur im Osten eine Förderpolitik, die die Demokratie | |
| zerstört. Es ist kontraproduktiv, wenn die Kommunen als die kleinsten | |
| politischen Zellen so an die Leine gelegt werden, dass sie kaum | |
| selbstwirksam werden können. Förderanträge, Zuweisungen suggerieren: Das | |
| ist Geld aus der Landeshauptstadt, das man freundlicherweise bekommt. Ein | |
| System des Misstrauens. | |
| Was wäre die Alternative? | |
| Die Verfassung sichert eigentlich die kommunale Selbstverwaltung zu. In der | |
| Folge gehen immer mehr Leute, beispielsweise im Stadtrat, von der Fahne, | |
| weil sie merken, dass sie faktisch nichts mehr beschließen und bewirken. | |
| Wir geben nur Absichtserklärungen ab. Wir müssen das umdrehen, einfach mehr | |
| Vertrauen wagen. | |
| Das versuchen Sie seit sieben Jahren im Amt. | |
| Weil ich die Gefahr sehe, mit dieser Verweigerung das Land ins Unglück zu | |
| stürzen. Wir überspringen die schwierige Mitgestaltungsphase und setzen uns | |
| lieber mit verschränkten Armen hin und machen einfach nicht mehr mit. | |
| Immerhin haben wir im Osten den Erfahrungsvorsprung, dass man ein System | |
| durch Boykott verändern oder gar stürzen kann. | |
| Glauben Sie, dass man den ehemaligen „Zonis“ demokratische | |
| Mitwirkungspflichten jetzt noch beibringen kann? | |
| Ich glaube tatsächlich, dass das geht. Das setzt aber in den Köpfen eine | |
| politische Kehrtwende voraus. Wir sind immer noch eine Gesellschaft in | |
| Ausbildung, auf dem Weg. | |
| In weniger prosperierenden und von Abwanderung betroffenen Regionen wie | |
| Mittelsachsen gibt es vermutlich größere mentale Hürden? | |
| Wir sind nicht „abgehängt“! Ich habe mich vor 20 Jahren bewusst für eine | |
| Kleinstadt wie Augustusburg entschieden. Da kennt man die Bedingungen, da | |
| steht die Oper nicht gleich um die Ecke, und die Infrastruktur entspricht | |
| nicht der meiner Heimatstadt Halle. Wir haben aber auch höhere Erwartungen, | |
| als wir eigentlich zum Leben brauchen. Wir reden viel über die Entwicklung | |
| ländlicher Räume, aber die Politik meint es so nicht. Was wir hier machen, | |
| ist betreutes Sterben, eine Kapitulation vor der demografischen | |
| Entwicklung. Langfristig räumen wir die Räume. Ich aber sehe tatsächlich | |
| Potenzial. | |
| … wenn der Wille zur Gestaltung ländlicher Räume nicht ausgebremst wird? | |
| Sogar ein Wolfgang Schäuble redet von Bürgerräten. Wir brauchen Veränderung | |
| vor allem in Denkstrukturen, Entwicklungen stehen auf der Kippe. Kinder | |
| spüren schon unsere Einstellung: Du hast hier leider keine Chancen und | |
| musst weggehen. Sie versuchen gar nicht mehr, hier etwas zu machen. Dafür | |
| brauchen wir natürlich einen Politikwechsel, der einer Stadtgemeinschaft | |
| und ihren Räten ermöglicht, selber über ihre Entwicklungsprioritäten zu | |
| bestimmen. | |
| Haben Urbanisierung und Landflucht nicht letztlich mit dem Grundgesetz des | |
| Kapitalismus zu tun, wonach der Teufel immer auf den größten Haufen | |
| scheißt? | |
| Das ist ein Ungeist, keine Gesetzmäßigkeit. Es wird in den nächsten Jahren | |
| auch nicht darum gehen, wo man das größte Geld verdient. Wir stehen vor | |
| ganz anderen Herausforderungen der Nachhaltigkeit, der Energieautarkie oder | |
| dem Auffangen derer, die durch Digitalrationalisierung ihre Arbeit | |
| verlieren. In unserem Diskussionsformat Augustusburg 2050 kommen solche | |
| Themen von den Leuten. Wir sollten ihnen vertrauen, und wir sind nicht nur | |
| Wolfserwartungsland! | |
| Halten Sie sich damit nicht nur an die wenigen Weiterdenkenden? Sie haben | |
| doch eingangs über Passivität und Abstinenz geklagt. | |
| Viele haben sich tatsächlich zurückgezogen, weil sie verletzt sind. | |
| Seelisch oder ökonomisch? | |
| Beides. Wirtschaftlich zum Beispiel, wenn Kinder von ihren Eltern | |
| aufgebaute Betriebe nicht weiterführen. Man kann aber alle erreichen, wir | |
| können sie erreichen! Klagen sind eine Ausrede, denn andere erreichen sie | |
| ja auch. Nach dem Schock der Landtagswahl Sachsen 2019 mit dem AfD-Erfolg | |
| hat sich schon im Koalitionsvertrag wieder ein „Weiter so“ durchgesetzt. | |
| Wir wollen immer allen alles recht machen. Politik aber muss Prioritäten | |
| setzen. | |
| Sind kleinere Kommunen in der Veränderungsbereitschaft schon weiter, weil | |
| sie nicht so vom Anspruchsdenken beherrscht werden? | |
| Die Zukunft dieser Gesellschaft und der Demokratie wird immer mehr eine | |
| kommunale Sache sein, weil wir in einem begreifbaren Lebensumfeld | |
| operieren. Das wertet auch die Verantwortung von uns Bürgermeistern auf. | |
| Für viele Bürger hier ist Dresden der Mond, Berlin die Milchstraße und | |
| Europa außerhalb des Universums. Viele haben sich in 30 Jahren eingerichtet | |
| und sind stolz darauf, geraten aber jetzt in eine Sinnsuche. | |
| WutbürgerInnen und AfD-WählerInnen sind häufig mit den großen Fragen | |
| überfordert. | |
| Warum bauen wir dann die Politik nicht um? Wenn ich nur sehe, was in meinen | |
| sieben Bürgermeisterjahren an Entscheidungskompetenz Richtung zentrale | |
| Ebenen abgewandert ist! Das damit verbundene Berichtswesen an die immer | |
| weiter entfernten Entscheider ufert aus. Ich will nicht mehr Geld, sondern | |
| anders über es verfügen. Ich habe vorgeschlagen, zwei Drittel der | |
| kommunalen Förderprogramme zu streichen und dafür eine Pauschale pro | |
| Einwohner auszuzahlen. Dann merken die Bürger, dass sie demokratischen | |
| Einfluss auf die Verwendung haben. | |
| In einem System des Misstrauens klappt das nicht. | |
| Ich hatte mit Frank Richter gemeinsam ein Konzept „Macht teilen“ | |
| erarbeitet, das aber in den schwarz-rot-grünen Koalitionsverhandlungen | |
| völlig unterging. | |
| 1989 hofften viele, der Osten könne eine Modellregion für ganz Deutschland | |
| werden. Gilt das mit Blick auf schwache Kommunen immer noch? | |
| Ich merke bei den zahlreicher werdenden Gesprächen, dass die Leute noch | |
| etwas wollen. Meine eindeutige Wiederwahl signalisiert, dass man | |
| tatsächlich eine Stimmung „Hier geht etwas“ erzeugen kann. Wir haben auch | |
| keine AfD im Stadtrat. Deshalb bin ich so überzeugt, dass die Keimzelle | |
| einer erneuerten Demokratie die Kommune sein wird. Und das ist, so paradox | |
| es klingen mag, im Osten eher möglich. Wir sind immer noch beweglicher, und | |
| wir haben vielleicht auch den größeren Leidensdruck. | |
| 17 Oct 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Debatte-30-Jahre-deutsche-Einheit/!5714410 | |
| [2] /Ostbeauftragter-Marco-Wanderwitz/!5714415 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Bartsch | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Nichtwähler | |
| Bürgermeister | |
| Deutsche Einheit | |
| Schwerpunkt Ostdeutschland | |
| Wahlbeteiligung | |
| Stadt-Land-Gefälle | |
| Schwerpunkt Pegida | |
| Oberbürgermeisterwahl | |
| Zusammenleben | |
| Marco Wanderwitz | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Wahlbeteiligung bei Armen: „Nichtwählen ist ansteckend“ | |
| Wer wenig verdient, geht seltener wählen, sagt Politikwissenschaftler Armin | |
| Schäfer. Das war aber nicht immer so. | |
| Zuwanderung in den Osten: Das neue Berlin | |
| Wittenberge in Brandenburg kämpfte lange gegen Abwanderung. Nun ziehen | |
| junge GroßstädterInnen in leerstehende Wohnungen und verändern die Stadt. | |
| Sechs Jahre rechte Demos in Dresden: Pegidas „Geburtstag“ fällt flach | |
| Am Sonntag wollen die Pegida-Protestler eigentlich feiern, dass sie seit | |
| sechs Jahren jede Woche in Dresden demonstrieren. Doch das wird nichts. | |
| OB-Wahlen in Chemnitz und Zwickau: Personality statt Partei | |
| Constanze Arndt übernimmt in Zwickau, Sven Schulze regiert bald Chemnitz. | |
| Partei-Zugehörigkeit spielte bei den Stichwahlen kaum eine Rolle. | |
| Geflüchtete und Rassismus: Nette Nachbarschaft | |
| Der Bund feiert sich für die Aufnahme 1.500 Geflüchteter. Forscher*innen | |
| liefern nun einen Grund, warum Deutschland weniger knauserig sein sollte. | |
| Ostbeauftragter Marco Wanderwitz: Wachsender Rechtsextremismus | |
| Rechte Einstellungen haben in den neuen Bundesländern zu viele | |
| Anhänger*innen, sagt Marco Wanderwitz. Den Bürger*innen müsse mehr zugehört | |
| werden. |