# taz.de -- Zuwanderung in den Osten: Das neue Berlin | |
> Wittenberge in Brandenburg kämpfte lange gegen Abwanderung. Nun ziehen | |
> junge GroßstädterInnen in leerstehende Wohnungen und verändern die Stadt. | |
Bild: Alte Häuser, billige Mieten – fast wie Berlin in den 1990ern | |
Lange gezögert hat Juliette Cellier nicht, als sie entscheiden musste, ob | |
sie nach Wittenberge zieht. „Ich habe mich nach Ruhe und Natur gesehnt“, | |
sagt die 36-Jährige. Sie sitzt in ihrer Bauernküche mit den niedrigen | |
Decken. Cellier ist im Juli vergangenen Jahres in die Stadt in der Prignitz | |
am nordwestlichen Rand von Brandenburg gezogen. Auf halber Strecke zwischen | |
Hamburg und Berlin. Am Bahnhof hält der ICE. | |
Von ihrem Küchenfenster aus kann Cellier auf die knochigen Äste des alten | |
Nussbaums im Garten beim Haus blicken, in dem sie nun mit zwei | |
MitbewohnerInnen zur Miete wohnt. Natürlich sei das Leben hier anders als | |
in Berlin, sagt sie. Es sei nichts los. Cellier macht jetzt viele | |
Spaziergänge oder fährt mit dem Fahrrad über den Deich. Das geht auch | |
während Corona. Die Großstadt war ihr zu voll geworden, zu laut. | |
Die Zahl der jungen Menschen auf dem Land steigt | |
Seit ungefähr zehn Jahren, sagen ExpertInnen, steige die Zahl junger | |
Menschen, die sich für ein Leben auf dem Land entscheiden. Weil sie, wie | |
Cellier, das, was das Land bietet, schätzen. Aber auch, weil es in den | |
ländlichen Regionen etwas gibt, was in den großen Städten immer knapper | |
wird: Platz zum Wohnen, Raum zum Arbeiten. | |
Wittenberge hat davon mehr als genug. In den vergangenen 30 Jahren ist die | |
Bevölkerung von 30.000 auf 17.000 geschrumpft. Zwischen roten | |
Backsteingebäuden, Fachwerkhäusern und Gründerzeitbauten stehen | |
heruntergekommene Altbauten leer. „Zu vermieten“ oder „geschlossen“ ste… | |
auf Zetteln, die an den Fassaden kleben. | |
Dabei ist aus Wittenberge seit der Wende ein hübsches Städtchen an der Elbe | |
geworden mit seiner Altstadt, den Auen, einer Uferpromenade mit | |
Bootshäusern und hanseatisch anmutenden Speichern, die in den Himmel ragen. | |
Nur die Menschen fehlen. Außerhalb der Bahnstraße, wo einige Geschäfte | |
sind, begegnet man kaum jemandem. Denn Leerstand bedeutet eben auch, dass | |
weniger Menschen da sind. Jede fünfte Wohnung ist unbewohnt. Das will die | |
Stadt ändern und sie versucht viel, um junge Menschen nach Wittenberge zu | |
locken. | |
In Zimmer 35 im ersten Stock des historischen Rathauses, einem schweren | |
Steinbau mit Pickelturm, sitzt Oliver Hermann, der parteilose | |
Bürgermeister. Ein ruhiger, besonnener Mann. Seit zwölf Jahren ist er im | |
Amt. In den Medien lässt er sich gerne mit dem Satz zitieren: „Damals | |
sagten die Eltern ihren Kindern, wenn aus dir was werden soll, dann musst | |
du weg.“ So sei die Stimmung nach der Wende gewesen, als alles abgewickelt | |
wurde. | |
Innerhalb von eineinhalb Jahren schlossen mit Ausnahme des Bahnwerks – bis | |
heute der größte Arbeitgeber der Stadt – alle drei großen Betriebe. Die | |
Zellstofffabrik, die alte Ölmühle und das riesige Nähmaschinenwerk der | |
amerikanischen Firma Singer, das in der DDR Veritas hieß. Ganze Familien | |
wurden arbeitslos und zogen in den Westen. Zurück blieb eine | |
entindustrialisierte Stadt mit leeren Häusern und maroder Infrastruktur. | |
Mit allen Mitteln habe man damals versucht, „Arbeitsplätze, Arbeitsplätze | |
und Arbeitsplätze“ zu schaffen, erinnert sich Hermann. Mittlerweile ist die | |
Arbeitslosenquote in der Region aber von 23,5 Prozent Ende der 1990er Jahre | |
auf 7,9 Prozent gefallen. Heute gehe es deshalb darum, die Lebensqualität | |
der Menschen zu verbessern. | |
Gelder vom Bund, vom Land und der EU flossen. Plattenbauten wurden | |
abgerissen, die Altstadt wurde saniert, Industriegebiete in | |
Naherholungsgebiete verwandelt, Tourismus inbegriffen. Mit Sätzen wie | |
„Willkommen in Wittenberge. Das Tor zur Elbtalaue“ wirbt die Stadt | |
inzwischen. | |
„Wir haben das Hinterzimmer der Stadt zum Schaufenster gemacht“, sagt | |
Bürgermeister Hermann. Mit so einer Stadt sei es wie mit einem Gasthof: Hat | |
er einen guten Ruf, kommen auch die Leute. In Wittenberge halten sich laut | |
offizieller Statistik seit rund fünf Jahren Zuzug und Wegzug in etwa die | |
Waage. | |
Gekommen sind Leute wie Cellier, weil Wittenberge ihr und 26 weiteren | |
GroßstädterInnen 2019 anbot, die Kleinstadt zu testen. Aber es kommen auch | |
junge Familien, von denen ein Teil einst zum Studieren oder zur Ausbildung | |
wegzog. Die Stadt stellt ihnen beim Kauf von Bauland wie auch bei der | |
Sanierung von Altbauten Zuschüsse in Aussicht. Hinzu kommt: Die aktuellen | |
Mietpreise liegen laut städtischer Wohnungsbaugesellschaft bei nicht mehr | |
als 4 bis höchstens 6 Euro kalt pro Quadratmeter. | |
Stimmungsmäßig sei es, meint der Bürgermeister, in Wittenberge gerade ein | |
wenig so wie im Berlin der 1990er Jahre. Wohnraum und Freiraum sei hier | |
eins – inklusive des 2019 von der Stadt mitinitiierten Co-Working-Spaces | |
in einer ehemaligen Vertriebshalle am östlichen Rand der Stadt. Dort sitzt | |
Christian Soult an einem der 14 Schreibtische in dem Raum mit den großen | |
Industriefenstern. Vor ihm sein MacBook Air. | |
Soult, ein hagerer Typ, bezeichnet sich als freier PR-Berater. Erst | |
pendelte er noch zwischen Berlin und Wittenberge, mittlerweile ist er fast | |
jeden Tag im Gemeinschaftsbüro. Zudem ist er Netzwerker zwischen der | |
Stadtverwaltung und dem Co-Working-Space geworden. | |
An diesem Montagmittag im Oktober ist außer Soult noch eine blonde Frau da, | |
die Software an Firmen vertreibt. Und an einem der Gruppentische arbeitet | |
eine Handvoll Jungunternehmer eines Elektrobauers aus dem 25 Kilometer | |
entfernten Karstädt. | |
Jeder von ihnen soll dafür bald 10 Euro am Tag oder 120 Euro im Monat | |
zahlen. Bislang trägt das Technologiezentrum in Wittenberge, ein | |
50-prozentiges Tochterunternehmen der Stadt, die vollen Kosten für Raum und | |
technische Ausstattung. „Wir werden hier viel vonseiten der Stadt | |
unterstützt“, sagt Soult. „Alle wirken daran mit, dass es auch künftig | |
nicht zu teuer wird.“ | |
Soult sagt, er könne sich auch vorstellen, Start-ups für sogenannte | |
„retreats“ einzuladen, etwa in die leeren Speicher an der Elbe. Unternehmen | |
könnten dann einige Tage in Wittenberge gemeinsam an Projekten arbeiten. | |
„Durch den Leerstand hier kann man viele Ideen haben und träumen“, sagt er. | |
Die Stadt hat im Jahr 2019 eine Stelle geschaffen, den „Leerstandmanager“, | |
der sich darum kümmern soll, die ungenutzten Immobilien und | |
Industrieflächen in Wittenberge und der Nachbarstadt Perleberg wieder | |
nutzbar zu machen. Manche Gebäude, wie den herunter gekommenen Koloss | |
direkt neben den Gleisen am Bahnhof, hat die Stadt auch selbst gekauft. | |
Die Stadtbibliothek, das Technologiezentrum oder die Agentur für Arbeit | |
sollen da rein. Bessere Zuganbindung und ein Autobahnanschluss sind | |
ebenfalls in Planung. Der Bürgermeister hofft, Wittenberge so für Pendler | |
noch attraktiver zu machen. | |
Leute wie Gerhard Henkel, der sich seit Jahrzehnten mit der Entwicklung der | |
ländlichen Regionen in Deutschland beschäftigt, betonen immer wieder, wie | |
wichtig es sei, dass die BürgerInnen ihre Gemeinde mitgestalten können: | |
„Ohne die Menschen auf dem Land, die mit anpacken, geht es nicht“, sagt er. | |
Henkel zufolge sollen sie in Stadtverordnetenversammlungen Gehör finden, | |
und ihnen müsse eine Plattform für aktive Mitgestaltung geboten werden, | |
wenn es darum geht, leerstehende Räume wiederzubeleben. | |
So wie Juliette Cellier es tut, die in Berlin zuletzt Filmregie studierte. | |
Am Nachmittag steht sie auf dem alten Marktplatz: Seit Herbst vergangenen | |
Jahres betreibt sie hier mit zwei MitstreiterInnen den Kultursalon Safari. | |
Sie haben ihn in einem rund 40 Quadratmeter großen Raum gegründet, kurz | |
nachdem sie nach Wittenberge zogen. Dort finden Lesungen, Konzerte, und | |
Kinoveranstaltungen statt. | |
Cellier erinnert sich noch gut daran, wie sie erst die Räumlichkeiten | |
renovierten, die gelben Wände umstrichen und Möbel aus umliegenden | |
Trödelläden organisierten. Mittlerweile ist auch der Hinterhof des Safari | |
von Hecken und Dornen befreit. In den Sommermonaten fand dort ein | |
Open-Air-Kino statt. Das ging ja trotz Corona. Cellier und ihre | |
MitstreiterInnen müssen der Stadt bislang keine Miete zahlen. | |
Platz zum Pläneschmieden | |
Und Cellier hofft, das Safari weiter ausbauen zu können. Sie zeigt auf das | |
marode Nachbarhaus: „Hier wollen wir bald ein eigenes kleines Café | |
eröffnen.“ Im Obergeschoss sei Platz für Büros, im Sommer könne man dann | |
die Türen im Erdgeschoss öffnen und wie auf einer Terrasse im Freien | |
sitzen. | |
Sie ist optimistisch, dass das gebraucht wird, denn es gibt bislang kaum | |
Vergleichbares. Die Stadt hat zwei Kneipen, ein paar Bistros mit Coffee to | |
go und ein Movie-Star-Kino. In Wittenberge ist also gerade Zeit, Pläne zu | |
schmieden. | |
12 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Nikola Endlich | |
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