| # taz.de -- Schrumpfende Regionen: Rückbau Ost | |
| > Die 80-jährige Hildegard Beczinczka war dabei, als die DDR die Stadt | |
| > Schwedt aufbaute. Heute ist der Ort verkleinert. | |
| Zwei Baumaschinen sammeln die Reste einer abgerissenen Straße ein. Der | |
| Südwestwind trägt ihre Motorengeräusche über ein freies Feld. Darauf stehen | |
| zwei Plattenbauteile und bilden ein Portal zu einem betonierten Weg, der | |
| sich über die Fläche schlängelt. Sie sehen aus, als hätte sie jemand | |
| vergessen, und doch sind sie bewusst gestaltet. Sie sind ungewollt komisch | |
| und bilden doch ein Mahnmal. Auf eine der Platten haben Kinder einen Bagger | |
| gemalt. Seine Abrissbirne trifft auf ein hohes graues Haus, der hellblaue | |
| Himmel ist mit Wolken betupft. „Leben heißt Veränderung“, steht darüber. | |
| „Besser kann’s in Schwedt ja nich stehn!“, lacht Juliane Karsten. | |
| Zu DDR-Zeiten sind die Plattenbauten hier wie Frühblüher aus dem Boden | |
| geschossen, dabei war bereits Herbst. Juliane Karsten hat das nicht erlebt, | |
| denn sie ist ein Nachwendekind. Doch die junge Mutter kann sich noch an die | |
| vielen Häuser erinnern. „Tausende“, wie sie sagt. Sicher weiß sie noch, | |
| dass die Platten eher braun als grau waren und dass an jeder Eingangstür | |
| ein Bild von einem Tier hing, das den Kindern half, nach dem Spielen den | |
| richtigen Aufgang zu finden. | |
| Vielleicht kann sie sich an das gewellte Metallgitter erinnern, das im | |
| ersten Stock des ewig langen Treppenhauses angebracht war, um | |
| herunterfallende Dinge aufzufangen. Aus ihrer Kindheit bleibt sicher auch | |
| das Bild davon, wie erst die Gardinen in den Fenstern, dann die Kaufhallen, | |
| dann die Häuserblöcke weniger wurden. Doch über all das redet sie nicht. | |
| Sie sagt nur: „Früher war’s hier anders“ und „hier ist nichts mehr“. | |
| ## Rasant erschaffen, ebenso schnell abgerissen | |
| Schwedt an der Oder ist das Vorbild für den Rückbau Ost. Erst wurde es in | |
| der DDR rasant erschaffen, fast ebenso schnell wurde es nach der Wende | |
| abgerissen. Heute heißt es, die Stadt habe sich gesundgeschrumpft. Der Weg | |
| dahin war eher eine anhaltende Schocktherapie denn Genesung. Schwedt trägt | |
| noch immer das Erbe der DDR. Ohne Veränderung kann es noch immer nicht | |
| leben. Doch wie viel Veränderung verträgt eine Stadt, ohne ihren Kern zu | |
| verlieren? | |
| Als Hildegard Beczinczka nach Schwedt kam, „da war hier gar nichts“. Es war | |
| ein trüber Februartag 1959. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren 85 Prozent der | |
| Stadt zerstört und daran hatte sich auch vierzehn Jahre später kaum etwas | |
| geändert. Es gab keinen Strom, kein fließend Wasser und gerade einmal 5.000 | |
| Menschen lebten hier. Die kleine Stadt inmitten eines Tabakanbaugebiets war | |
| schon vor dem Krieg keine Metropole gewesen, und doch war Schwedt danach | |
| ein Ort, der Entwicklung versprach. | |
| An diesem Tag, einige Wochen vor der ersten Welle der Coronapandemie, | |
| wartet sie am Rande der „Regenbogensiedlung“, in der sie lebt. Die Häuser | |
| des Karrees sind mal zwei, mal drei Geschosse hoch und ihre Dächer sind | |
| spitz. Sie wurden in warmen Erdtönen gestrichen. An den neuen Fassaden | |
| hängen bunte Fensterläden und Balkone. Die Bäume davor sind noch zu klein, | |
| um die Sicht einzuschränken. Die Siedlung spielt eine moderne Kleinstadt. | |
| Die 80-jährige Beczinczka kommt gerade vom Vorlesen im Kindergarten. | |
| Dornröschen und die Bremer Stadtmusikanten, „das wollten sie hören“. Sie | |
| hat zu dieser Zeit einen vollen Terminplan: Montag tanzen, Dienstag Märchen | |
| lesen, Mittwoch früh kegeln, abends Sport. Donnerstag Physiotherapie. | |
| „Freitag ist der einzige Tag, an dem ich frei habe“, sagt sie. An diesem | |
| Dienstag hat sie etwas Zeit, um Schwedt zu zeigen. Ihr Schwedt. | |
| ## Ein vergessener Ort, Ruine und Wiese | |
| Der einstige Beginn der Stadt liegt heute weit ab in ihrer Peripherie, auf | |
| der anderen Seite der Bahnschienen. Er ist ein vergessener Ort, Ruine und | |
| Wiese. Auf der einen Straßenseite steht eine Baracke mit einem braunen | |
| Holzzaun. Daran hängt ein schwarz-weiß-rotes Banner. Auf ihm ist ein Logo | |
| mit gekreuzten Schwertern, eisernen Kreuzen, Thors Hammer und einem | |
| Totenkopf mit roten Augen gedruckt. „Nuddeln/Tomattten aus dem Reich“, | |
| steht an der Tafel neben der vergitterten Eingangstür. „Unbefugten ist der | |
| Zutritt verboten“ und „Wer klaut der STIRBT“ darüber. | |
| Beczinczkas Aufmerksamkeit aber gilt der anderen Straßenseite. Dort steht | |
| zwischen jungen Birken die verkohlte Ruine einer weiß gestrichenen Halle. | |
| Der Rest des Schriftzugs „Diskothek“ ist noch über den Eingangstoren zu | |
| erkennen. „Das sieht so vergammelt aus, dabei war es mal so ein schönes | |
| Kulturhaus“, sagt sie mit gedrückter Stimme und rückt ihre weiße Mütze | |
| zurecht. Ein starker Wind wechselt düstere Wolken und kräftigen | |
| Sonnenschein ab, die Kulisse steht still. | |
| Anfang der 1960er Jahre erwachte hier das Schwedter Leben. Die | |
| DDR-Regierung hatte Großes vor. Ähnlich wie in Eisenhüttenstadt, das | |
| seinerzeit Stalinstadt hieß, erfüllte Schwedt alle Kriterien für eine | |
| florierende Industriestadt. Beide liegen rund 100 Kilometer von Berlin | |
| entfernt, Schwedt nordöstlich, Eisenhüttenstadt südöstlich. Beide hatten | |
| schon damals eine Bahnanbindung, einen Kanal als Transportweg und als | |
| Wasserquelle, die unmittelbare Nähe zu Polen. So entschied die | |
| DDR-Volkskammer Ende 1958, den Volkseigenen Betrieb (VEB) | |
| Erdölverarbeitungswerk – später Petrolchemisches Kombinat (PCK) – zu baue… | |
| Schon am ersten Tag des neuen Jahres folgte die Betriebsgründung. | |
| Dafür mussten Leute her. Hildegard Beczinczka lebte und lernte als junge | |
| Frau in der sächsischen Provinz. Sie wollte immer raus aus dieser, am | |
| liebsten nach Leipzig. Dann wurde die damalige Sekretärin mit ihrem | |
| Vorgesetzten nach Schwedt versetzt. „Die Entscheidung wurde mir | |
| abgenommen“, sagt sie. Die damals 19-Jährige war für den Einkauf beim | |
| Aufbau der Erdölraffinerie zuständig. | |
| Sie war eine der ersten Zugezogenen und bald eine von vielen. „Wir kamen | |
| aus der ganzen Republik, alles junge Leute, aus allen Berufsgruppen.“ In | |
| den ersten Monaten lebten sie in Privatunterkünften, Zeltstädten, | |
| Gaststättensälen und später auch in einer rasch gezimmerten Barackenstadt | |
| im Park von Monplaisir, dem alten Lustschloss von Markgraf Philipp Wilhelm | |
| von Brandenburg-Schwedt. | |
| Beczinczka war es, die die Arbeiterbaracken mit Möbeln aus der ganzen | |
| Republik ausstattete. „Es gab fast nichts“, erinnert sie sich und beginnt | |
| die Bestände und dessen Herkunft aus dem Effeff aufzuzählen. Sie nennt | |
| Barackennummern und zeigt dabei aufs flache Land. Der Aufbau der Industrie | |
| stand an erster Stelle, Wohnraum und Unterhaltung weit dahinter. | |
| Das ging nicht lang gut. „Es gab ja viel mehr Männer. Es gab viele | |
| Schlägereien, auch wegen der Mädchen. Deshalb mussten dann auch | |
| Kultureinrichtungen geschaffen werden“, sagt Beczinczka. Neben einigen Bars | |
| gab es das „Tanzhaus Arthur Becker“, die ausgebrannte Baracke, über der | |
| heute Diskothek steht. Dort trafen sich die „jungen Erbauer“ zum | |
| Feierabend, um zu trinken, zu tanzen und zu schmachten. | |
| Bald wurden auch die ersten Wohnblöcke nahe der kleinen Altstadt am Kanal | |
| gebaut. Sie reichten lange nicht für die, die sie bauten. Alleinstehende | |
| wie Beczinczka lebten übergangsweise in Wohngemeinschaften. Sie teilten | |
| sich ein Zimmer zu zweit oder zu dritt, „und dann sind wir jedes Mal | |
| weitergezogen, wenn die Wohnung wieder mit einer Familie belegt werden | |
| sollte“, sagt sie. | |
| ## Babyboom Mitte der 1960er Jahre | |
| 1964 ging die Geburtenrate durch die Decke. „63 haben wir sie alle | |
| produziert und 64 sind sie alle gekommen. Bärbel im Januar, ich und die | |
| Friseuse Elfi im Februar, Inge und Rosi im April und so weiter“, erzählt | |
| sie. Die 24-jährige Beczinczka wurde eine alleinerziehende Mutter. Spät, | |
| für DDR-Verhältnisse. Arm, für DDR-Verhältnisse. Sechs Wochen nach der | |
| Entbindung ging sie wieder arbeiten, es musste ja weitergehen. Sie wurde | |
| mit 25 die Vorgesetzte von 30 Angestellten und studierte noch fünf Jahre | |
| neben ihrem Beruf. Zwar sagt sie: „Das war natürlich beschissen. Ich habe | |
| zehn Jahre kämpfen müssen“, doch es schwingt Stolz in ihrer Stimme. So sind | |
| sie, die Schwedter. | |
| Als Beczinska 1959 in Schwedt ankam, lebten hier 5.000 Menschen. Fünf Jahre | |
| nach ihrer Ankunft waren es schon 19.000 und 1966 über 25.000. Der | |
| Altersdurchschnitt lag bei 26 Jahren, damit galt Schwedt als die jüngste | |
| Stadt der DDR. Es wurden immer mehr Wohnhäuser, Fabriken, Kaufhallen und | |
| Kulturgebäude gebaut und alle packten mit an. Bilder aus dieser Zeit zeigen | |
| Straßen voller junger Menschen mit Kinderwagen. Erzählungen schildern | |
| Aufbruchstimmung. „Und so ist nach und nach Schwedt Stadt entstanden“, sagt | |
| Beczinczka, als wäre es eine der Erzählungen, die sie im Kindergarten | |
| vorliest. | |
| Auch der Bürgermeister Jürgen Polzehl kam Anfang der 1960er Jahre nach | |
| Schwedt. Der 66-Jährige erzählt nicht von seiner Kindheit, sondern von | |
| Zahlen. Polzehl ist einer der Protagonist:innen von „Rückbau Ost“, seit | |
| 1989 aus der Stadtverwaltung heraus, seit 2005 für die SPD als | |
| Bürgermeister von Schwedt. Er wartet nicht auf Fragen. Er zeigt | |
| vorbereitete Luftansichten und Diagramme von Bevölkerungs- und | |
| Wohnraumentwicklungen auf seinem iPad, redet vom Ein- und Ausatmen der | |
| Stadt. „Früher kamen die Leute für Arbeit und Wohnungen her, nach der Wende | |
| sind sie der Arbeit wieder hinterhergefahren. Dann ist Schwedt weniger | |
| geworden.“ | |
| Die Spitze der Bevölkerungskurve war 1980 erreicht. Fast 55.000 Menschen | |
| lebten damals in Schwedt. 50.000 mehr als noch 20 Jahre zuvor. „Im | |
| Petrolchemischen Werk haben 8.600 Menschen gearbeitet. Die brauchten alle | |
| Wohnraum. Da dieser Mangelware war in der Planwirtschaft, hat man hier | |
| komplexen Wohnungsbau probiert. Die Turmdrehkranzeiten haben das Quartier | |
| bestimmt“, lacht Polzehl. Quantität sei vor Qualität gegangen. Ab 1980 | |
| flacht die Bevölkerungskurve schon etwas ab. Nach 1989 aber bricht sie | |
| völlig ein. | |
| Viele Orte im Osten sind nach der Wende weniger geworden. Weniger Menschen, | |
| weniger Häuser, weniger lebenswert. „Nach der Wende wurde die DDR mehr oder | |
| weniger vom Westen vereinnahmt“, erzählt Beczinczka, „und die Leute haben | |
| sie alle rausgeschmissen.“ Die Erdölraffinerie und die Papierfabrik kürzten | |
| die Zahl ihrer Mitarbeiter:innen radikal. Rohtabakfabrik, die Schuhfabrik, | |
| das Betonwerk, die Großbäckerei – dies sind nur vier von vielen Betrieben, | |
| die nach der Wende geschlossen wurden. Damit gingen vor allem | |
| Frauenarbeitsplätze verloren. | |
| Bis heute ist sich Beczinczka sicher, die Betriebe hätten sich wieder von | |
| alleine erholt. Stattdessen wurden viele geschlossen. Tausende | |
| Schwedter:innen wurden arbeitslos, selbst aus guten Stellen heraus, wie | |
| auch Hildegard Beczinczka sie hatte. Besonders ab 1993 gaben viele auf. | |
| Tausende, gerade junge Menschen, verließen die Stadt. Neue Kinder gab es | |
| kaum. Die Stadt wurde schlagartig weniger – und älter. Der Leerstand nahm | |
| rapide zu. | |
| „Die übrigen Menschen wurden in Turnhallen eingeladen, um ihnen zu sagen: | |
| Ihr steht auf Abriss“, sagt Jürgen Polzehl. 7.000 Wohnungen standen auf | |
| Abriss. Die Pläne, in denen fast der komplette Wohnkomplex VII grün | |
| unterlegt ist, bekam niemand zu sehen. „Die hätten uns ja wieder aus dem | |
| Rathaus gejagt“, sagt Polzehl. | |
| Es war eine Zeit, von der in Schwedt niemand freiwillig redet. Doch die | |
| Neunziger waren die Zeit der Entbehrung, des Wegzugs und des Leerstands. | |
| Wer in die Hochzeit von Schwedt hineingeboren war, verbrachte seine Jugend | |
| in der kollektiven Depression und ohne Zukunftsaussichten in Schwedt. Wer | |
| seine Jugend in dieser Zeit verbrachte, lebte in Angst oder mit einem | |
| Schlagring in der Tasche. Denn vor dem Abriss war die Zeit der Gewalt und | |
| Bomberjacken. | |
| Darüber wird eisern geschwiegen. Niemand will etwas mitbekommen haben. | |
| Selbst die nicht, die im Krankenhaus arbeiteten, wo jede Samstagnacht die | |
| Opfer rechter Gewalt eingeliefert wurden. Geprügelt hat man sich | |
| schließlich schon immer in Schwedt. | |
| Auch der Bürgermeister fasst sich kurz, er sei ja damals noch nicht in | |
| Regierungsverantwortung gewesen. „Na ja, da gibt es Filme drüber“, sagt er | |
| und spricht die ARD-Dokumentation „Die Stadt gehört uns“ an. Diese zeigt | |
| Schwedt 1993 als gesetzlosen Ort, an dem die rechten Jugendlichen regieren. | |
| „Man dachte damals: Lass die doch, die brauchen auch was“, sagt Polzehl. | |
| Ein Großteil der Szenen spielten sich im Wohnkomplex VII ab, von dem nun | |
| kaum mehr als eine Wiese bleibt. | |
| Früher kam die Polizei oft erst, wenn es zu spät war. Heute schleicht ein | |
| Streifenwagen über die halb abgerissene Straße im WK VII. Dort, wo jetzt | |
| „nichts mehr“ ist. Juliane Karsten schiebt ihren Kinderwagen über das freie | |
| Feld daneben, wo „nichts mehr“ ist. Am Horizont kämpfen einzelne | |
| Radfahrer:innen ab und an in Zeitlupe gegen den Wind an. Man fragt sich, | |
| wohin des Weges. | |
| Auf der anderen Seite der halben Straße stehen die Uckermarkpassagen. Einen | |
| der zwei Flügel des Gebäudes schmückt ein metergroßes Mosaik von Friedrich | |
| Engels, der in seiner Darstellung und Pose einer Gottheit anmutet. Die | |
| weiße Passage ist von Gras und Birken bewachsen, hinter der Passage stehen | |
| kleine Nadelbäume. Der Waldrand rückt vor. Ginge es nach der Stadt, wären | |
| auch die Uckermarkpassagen längst passé. Doch sie sind in Privathand, sagt | |
| Juliane Karsten. | |
| „Ich verstehe, dass alle dieses Bild von Schwedt einfangen wollen, aber ich | |
| habe dazu gar keinen Bezug“, sagt Karsten. Das Bild der Leere ist keines, | |
| das Schwedter:innen noch vor sich hertragen wollen. Für das Bild der | |
| florierenden DDR gibt es kaum noch Gedächtnisstützen, die nicht umgestaltet | |
| oder abgerissen sind. Die Uckermarkpassagen sind eine letzte. Wer als | |
| Nachwendekind in Schwedt lebte, kann sich an die großstädtisch anmutende | |
| Tiefgarage erinnern, die immer leerer wurde. An das Flanieren durch die | |
| engen Gänge, auf denen es kaum Gegenverkehr gab. An die dumpfe Hitze, die | |
| im Sommer auf der Terrasse zwischen den beiden Gebäuden stand. Daran, wie | |
| die Läden immer weniger wurden und irgendwann selbst die Post zumachte. | |
| Als in den 2000ern drumherum schon eingezäunte Betonhaufen lagen, blieben | |
| nur noch zwei Clubs. Auch Juliane Karsten hat hier noch getanzt. Bis sie | |
| kürzlich auf ein benachbartes Dorf zog, lebte sie drei Jahre lang in der | |
| Gegend, ihre Schwiegereltern tun es noch immer. „Es gibt so viele Orte in | |
| Schwedt. Das hier ist für mich nicht Schwedt, das ist tot“, sagt Juliane | |
| Karsten und schiebt ihren Kinderwagen zurück zu ihrem Auto. | |
| Wie kann eine Stadt gesund sein, die so viel entbehren musste? Wenn das, | |
| was eine Stadt einmal ausmachte, tot ist, was bleibt dann noch? | |
| Die Hauptstraße der Stadt führt von der PCK-Erdölraffinerie vorbei an | |
| Baumärkten und Tankstellen, einem Einkaufszentrum, bunt bemalten | |
| IW-65-Plattenbauten, den letzten hohen Berliner Querplatten und dem alten | |
| Centrum Warenhaus. Der Blick hat Weite in der flachen Stadt, vor allem auf | |
| der breiten Allee, die auf das Theater zuläuft. Dahinter liegt das | |
| Kanalufer, das andere Ende der Stadt, dann kommen nur noch der Nationalpark | |
| „Unteres Odertal“, die Oder und Polen. | |
| Am Ufer angekommen fängt die blonde Frau an, schneller zu reden: „Dit is | |
| Schwedt für mich. Hier sind überall Autos, überall Menschen und das | |
| Wasser“, sagt sie und steuert den Kinderwagen Richtung Bollwerk. Erst 2007 | |
| wurde der neu gestaltete Uferbereich eröffnet. Vorher stand hier das | |
| Betonwerk, dann dessen Ruinen. „Ich weiß gar nicht, wie das hier vorm Umbau | |
| aussah“, sagt Karsten. Und tatsächlich erinnert nichts mehr an die | |
| Vergangenheit. | |
| Bankgroße Betonblöcke sind in zwei Grashügel eingelassen. Die so aussehen | |
| wie die Hochwasserdämme auf der anderen Wasserseite. Wer sich hier setzt, | |
| hat einen weiten Blick auf Uferpromenade, den Kanal und den Nationalpark. | |
| „Im Sommer ist hier alles voll“, sagt Karsten. Auch mit Kindern. Denn | |
| gerade erlebt die Stadt einen neuen Aufschwung. Kurz nach der Wende wurden | |
| noch viele Kinder geboren, wie Karsten, und die bekommen nun eigene Kinder. | |
| ## Endlich zieht Schwedt wieder Menschen an | |
| „Nach dem Einatmen haben wir ja wieder das Ausatmen geübt. Jetzt besteht | |
| die spannende Aufgabe darin, die Stadt wieder abzufangen“, sagt der | |
| Bürgermeister Jürgen Polzehl. In den letzten Jahren sei die | |
| Einwohner:innenzahl, zumindest mit den umliegenden Gemeinden, nicht unter | |
| 30.000 gefallen, das mache ihn stolz. | |
| Schwedt zieht endlich wieder mehr Menschen an, als es abstößt, und die | |
| Geburtenrate habe sich mit rund 200 pro Jahr stabilisiert. Gleichzeitig | |
| sterben aber auch jedes Jahr doppelt so viele. Die, die Schwedt einst | |
| erbauten. Derzeit liegt der Altersdurchschnitt bei 51. Die Stadt ist nur | |
| noch halb so groß und doppelt so alt wie zu Bestzeiten. | |
| „Wir brauchen neuen Wohnraum“, sagt Bürgermeister Jürgen Polzehl. Es klin… | |
| paradox, denn der Rückbau ist noch immer nicht vollendet. Doch mit einer | |
| renovierten Plattenbauwohnung sind zwar die Alteingesessenen zufrieden, | |
| Menschen aus Berlin könne man damit aber nicht anziehen, und eben die wolle | |
| man nun herholen. Auch Pol:innen sollen die Stadt bereichern und tun es | |
| bereits: Die größte Migrationsgruppe in Schwedt sind Pol:innen. Zusätzlich | |
| gibt es viele Berufspendler:innen, die zum Arbeiten täglich die Grenze | |
| passieren. Wie eng die Verbindung bereits ist, zeigte sich, als Mitte März | |
| die nahegelegene Grenze wegen der Coronapandemie geschlossen wurde. | |
| Ärzt:innen und Facharbeiter:innen wurden in Hotels untergebracht, um ihrer | |
| Arbeit nachgehen zu können. Vielleicht entscheiden sich einige von ihnen, | |
| ihren Lebensmittelpunkt ganz nach Schwedt zu verschieben. | |
| Die Wohnsiedlung, in der Hildegard Beczinczka lebt, ist Polzehls | |
| Vorbildprojekt. Das Karree besteht aus dem Rohmaterial alter Plattenbauten. | |
| Zwei Stockwerke wurden abgetragen, Putz und Fenster sind neu, ihr Inneres | |
| ist altersgerecht gestaltet. „Das ist genauso teuer, als ob wir neu gebaut | |
| hätten, aber die Leute haben gesehen: Die reißen uns nicht ab, die machen | |
| aus der Platte was. Man muss auch ein Beispiel haben, um zu zeigen: Ihr | |
| seid uns wichtig.“ Gleichzeitig schrumpft die Stadt weiter, ohne dass es | |
| jemand mitbekommt. | |
| ## Von der „Kunst des Schrumpfens“ | |
| „Die Kunst des Schrumpfens“, nennt Bürgermeister Polzehl das. | |
| Nachwendekinder, die sich entscheiden zu bleiben, wie auch Juliane Karsten, | |
| möchten nicht mehr in der Platte wohnen. Ein Grund ist auch, dass die Miete | |
| für eine große Wohnung so teuer ist wie die Rate für ein Eigenheim. Also | |
| bauen oder kaufen sie – außerhalb von Schwedt. Denn in Schwedt fehlt es an | |
| freigegebenen Bauflächen. Dort fährt man dann nur noch zum Einkaufen hin | |
| oder um am Kanal zu spazieren. Zu den Arbeitsstellen müssten viele noch | |
| weiter pendeln. | |
| Juliane Karsten fährt jeden Tag 50 Kilometer nach Prenzlau zum Landschafts- | |
| und Umweltamt Uckermark und zurück. Und doch hält es sie in Schwedt, | |
| eigentlich war es nie eine Option, woanders hinzugehen, sagt sie. Karsten | |
| spaziert am Kanal und beschreibt lebendig die Umgebung: Hier die | |
| Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße „HoFriWa“, da der Nationalpark, | |
| dort „unsere Freilichtbühne“ hinter dem Theater. Sie klingt so amüsiert w… | |
| stolz. | |
| Von hinten klingelt ein Rad: „Biddeschön! Siehste hier wird man noch | |
| weggeklingelt. Hier sind die Leute noch nett – nicht wie oben im Ghetto“, | |
| sagt Karsten und lächelt dabei. WK VII, das sagen nur jene, die zu | |
| DDR-Zeiten in Schwedt lebten. „Dit is für mich zu Hause – nicht der Scheiß | |
| da oben.“ Es heißt, die Stadt habe sich schöngeschrumpft. Ob sie das auch | |
| so sehe? „Ich weiß nicht, ob es schöner ist. Es ist anders“, sagt Juliane | |
| Karsten. | |
| Die Stadt wird sich weiter verändern müssen, denn Abwanderung aufzuhalten | |
| allein reicht nicht. Die Energiewende könnte dafür sorgen. Wenn auch der | |
| Verbrennungsmotor Geschichte wird, muss in der Erdölraffinerie, die noch | |
| immer der größte Arbeitgeber der Stadt ist, umgedacht werden. Der russische | |
| Konzern Rosneft, Hauptanteilseigner der PCK Raffinerie, hatte kürzlich | |
| angekündigt, in den nächsten Jahren 600 Millionen Euro in den Umbau der | |
| Raffinerie zu investieren. „Transformation“, sagt Polzehl, die Augen weit | |
| geöffnet. Das könnte neue Arbeitsplätze bedeuten. Außerdem ist ein | |
| Innovationscampus geplant. | |
| Schwedt, die Endstation vor der polnischen Grenze, gehört zur | |
| Großstadtregion Berlin-Brandenburg. Die Autobahnzufahrt nach Berlin ist | |
| jedoch 50 Kilometer entfernt und der Regionalexpress fährt stündlich und | |
| ständig auf Schienenersatzverkehr. 2026 soll der Zug nach Berlin zu | |
| Hauptverkehrszeiten im Halbstundentakt fahren. Auch die Verbindung in das | |
| 50 Kilometer entfernte Szczecin soll ausgebaut werden. Vielleicht verirren | |
| sich dann mehr Menschen nach Schwedt. „Wenn ich die Entwicklungsachse | |
| Berlin-Stettin bedenke, dann steht der Standort okay“, sagt Polzehl. Reicht | |
| okay für Schwedt? | |
| 13 Jul 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Pia Stendera | |
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