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# taz.de -- Schrumpfende Regionen: Rückbau Ost
> Die 80-jährige Hildegard Beczinczka war dabei, als die DDR die Stadt
> Schwedt aufbaute. Heute ist der Ort verkleinert.
Zwei Baumaschinen sammeln die Reste einer abgerissenen Straße ein. Der
Südwestwind trägt ihre Motorengeräusche über ein freies Feld. Darauf stehen
zwei Plattenbauteile und bilden ein Portal zu einem betonierten Weg, der
sich über die Fläche schlängelt. Sie sehen aus, als hätte sie jemand
vergessen, und doch sind sie bewusst gestaltet. Sie sind ungewollt komisch
und bilden doch ein Mahnmal. Auf eine der Platten haben Kinder einen Bagger
gemalt. Seine Abrissbirne trifft auf ein hohes graues Haus, der hellblaue
Himmel ist mit Wolken betupft. „Leben heißt Veränderung“, steht darüber.
„Besser kann’s in Schwedt ja nich stehn!“, lacht Juliane Karsten.
Zu DDR-Zeiten sind die Plattenbauten hier wie Frühblüher aus dem Boden
geschossen, dabei war bereits Herbst. Juliane Karsten hat das nicht erlebt,
denn sie ist ein Nachwendekind. Doch die junge Mutter kann sich noch an die
vielen Häuser erinnern. „Tausende“, wie sie sagt. Sicher weiß sie noch,
dass die Platten eher braun als grau waren und dass an jeder Eingangstür
ein Bild von einem Tier hing, das den Kindern half, nach dem Spielen den
richtigen Aufgang zu finden.
Vielleicht kann sie sich an das gewellte Metallgitter erinnern, das im
ersten Stock des ewig langen Treppenhauses angebracht war, um
herunterfallende Dinge aufzufangen. Aus ihrer Kindheit bleibt sicher auch
das Bild davon, wie erst die Gardinen in den Fenstern, dann die Kaufhallen,
dann die Häuserblöcke weniger wurden. Doch über all das redet sie nicht.
Sie sagt nur: „Früher war’s hier anders“ und „hier ist nichts mehr“.
## Rasant erschaffen, ebenso schnell abgerissen
Schwedt an der Oder ist das Vorbild für den Rückbau Ost. Erst wurde es in
der DDR rasant erschaffen, fast ebenso schnell wurde es nach der Wende
abgerissen. Heute heißt es, die Stadt habe sich gesundgeschrumpft. Der Weg
dahin war eher eine anhaltende Schocktherapie denn Genesung. Schwedt trägt
noch immer das Erbe der DDR. Ohne Veränderung kann es noch immer nicht
leben. Doch wie viel Veränderung verträgt eine Stadt, ohne ihren Kern zu
verlieren?
Als Hildegard Beczinczka nach Schwedt kam, „da war hier gar nichts“. Es war
ein trüber Februartag 1959. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren 85 Prozent der
Stadt zerstört und daran hatte sich auch vierzehn Jahre später kaum etwas
geändert. Es gab keinen Strom, kein fließend Wasser und gerade einmal 5.000
Menschen lebten hier. Die kleine Stadt inmitten eines Tabakanbaugebiets war
schon vor dem Krieg keine Metropole gewesen, und doch war Schwedt danach
ein Ort, der Entwicklung versprach.
An diesem Tag, einige Wochen vor der ersten Welle der Coronapandemie,
wartet sie am Rande der „Regenbogensiedlung“, in der sie lebt. Die Häuser
des Karrees sind mal zwei, mal drei Geschosse hoch und ihre Dächer sind
spitz. Sie wurden in warmen Erdtönen gestrichen. An den neuen Fassaden
hängen bunte Fensterläden und Balkone. Die Bäume davor sind noch zu klein,
um die Sicht einzuschränken. Die Siedlung spielt eine moderne Kleinstadt.
Die 80-jährige Beczinczka kommt gerade vom Vorlesen im Kindergarten.
Dornröschen und die Bremer Stadtmusikanten, „das wollten sie hören“. Sie
hat zu dieser Zeit einen vollen Terminplan: Montag tanzen, Dienstag Märchen
lesen, Mittwoch früh kegeln, abends Sport. Donnerstag Physiotherapie.
„Freitag ist der einzige Tag, an dem ich frei habe“, sagt sie. An diesem
Dienstag hat sie etwas Zeit, um Schwedt zu zeigen. Ihr Schwedt.
## Ein vergessener Ort, Ruine und Wiese
Der einstige Beginn der Stadt liegt heute weit ab in ihrer Peripherie, auf
der anderen Seite der Bahnschienen. Er ist ein vergessener Ort, Ruine und
Wiese. Auf der einen Straßenseite steht eine Baracke mit einem braunen
Holzzaun. Daran hängt ein schwarz-weiß-rotes Banner. Auf ihm ist ein Logo
mit gekreuzten Schwertern, eisernen Kreuzen, Thors Hammer und einem
Totenkopf mit roten Augen gedruckt. „Nuddeln/Tomattten aus dem Reich“,
steht an der Tafel neben der vergitterten Eingangstür. „Unbefugten ist der
Zutritt verboten“ und „Wer klaut der STIRBT“ darüber.
Beczinczkas Aufmerksamkeit aber gilt der anderen Straßenseite. Dort steht
zwischen jungen Birken die verkohlte Ruine einer weiß gestrichenen Halle.
Der Rest des Schriftzugs „Diskothek“ ist noch über den Eingangstoren zu
erkennen. „Das sieht so vergammelt aus, dabei war es mal so ein schönes
Kulturhaus“, sagt sie mit gedrückter Stimme und rückt ihre weiße Mütze
zurecht. Ein starker Wind wechselt düstere Wolken und kräftigen
Sonnenschein ab, die Kulisse steht still.
Anfang der 1960er Jahre erwachte hier das Schwedter Leben. Die
DDR-Regierung hatte Großes vor. Ähnlich wie in Eisenhüttenstadt, das
seinerzeit Stalinstadt hieß, erfüllte Schwedt alle Kriterien für eine
florierende Industriestadt. Beide liegen rund 100 Kilometer von Berlin
entfernt, Schwedt nordöstlich, Eisenhüttenstadt südöstlich. Beide hatten
schon damals eine Bahnanbindung, einen Kanal als Transportweg und als
Wasserquelle, die unmittelbare Nähe zu Polen. So entschied die
DDR-Volkskammer Ende 1958, den Volkseigenen Betrieb (VEB)
Erdölverarbeitungswerk – später Petrolchemisches Kombinat (PCK) – zu baue…
Schon am ersten Tag des neuen Jahres folgte die Betriebsgründung.
Dafür mussten Leute her. Hildegard Beczinczka lebte und lernte als junge
Frau in der sächsischen Provinz. Sie wollte immer raus aus dieser, am
liebsten nach Leipzig. Dann wurde die damalige Sekretärin mit ihrem
Vorgesetzten nach Schwedt versetzt. „Die Entscheidung wurde mir
abgenommen“, sagt sie. Die damals 19-Jährige war für den Einkauf beim
Aufbau der Erdölraffinerie zuständig.
Sie war eine der ersten Zugezogenen und bald eine von vielen. „Wir kamen
aus der ganzen Republik, alles junge Leute, aus allen Berufsgruppen.“ In
den ersten Monaten lebten sie in Privatunterkünften, Zeltstädten,
Gaststättensälen und später auch in einer rasch gezimmerten Barackenstadt
im Park von Monplaisir, dem alten Lustschloss von Markgraf Philipp Wilhelm
von Brandenburg-Schwedt.
Beczinczka war es, die die Arbeiterbaracken mit Möbeln aus der ganzen
Republik ausstattete. „Es gab fast nichts“, erinnert sie sich und beginnt
die Bestände und dessen Herkunft aus dem Effeff aufzuzählen. Sie nennt
Barackennummern und zeigt dabei aufs flache Land. Der Aufbau der Industrie
stand an erster Stelle, Wohnraum und Unterhaltung weit dahinter.
Das ging nicht lang gut. „Es gab ja viel mehr Männer. Es gab viele
Schlägereien, auch wegen der Mädchen. Deshalb mussten dann auch
Kultureinrichtungen geschaffen werden“, sagt Beczinczka. Neben einigen Bars
gab es das „Tanzhaus Arthur Becker“, die ausgebrannte Baracke, über der
heute Diskothek steht. Dort trafen sich die „jungen Erbauer“ zum
Feierabend, um zu trinken, zu tanzen und zu schmachten.
Bald wurden auch die ersten Wohnblöcke nahe der kleinen Altstadt am Kanal
gebaut. Sie reichten lange nicht für die, die sie bauten. Alleinstehende
wie Beczinczka lebten übergangsweise in Wohngemeinschaften. Sie teilten
sich ein Zimmer zu zweit oder zu dritt, „und dann sind wir jedes Mal
weitergezogen, wenn die Wohnung wieder mit einer Familie belegt werden
sollte“, sagt sie.
## Babyboom Mitte der 1960er Jahre
1964 ging die Geburtenrate durch die Decke. „63 haben wir sie alle
produziert und 64 sind sie alle gekommen. Bärbel im Januar, ich und die
Friseuse Elfi im Februar, Inge und Rosi im April und so weiter“, erzählt
sie. Die 24-jährige Beczinczka wurde eine alleinerziehende Mutter. Spät,
für DDR-Verhältnisse. Arm, für DDR-Verhältnisse. Sechs Wochen nach der
Entbindung ging sie wieder arbeiten, es musste ja weitergehen. Sie wurde
mit 25 die Vorgesetzte von 30 Angestellten und studierte noch fünf Jahre
neben ihrem Beruf. Zwar sagt sie: „Das war natürlich beschissen. Ich habe
zehn Jahre kämpfen müssen“, doch es schwingt Stolz in ihrer Stimme. So sind
sie, die Schwedter.
Als Beczinska 1959 in Schwedt ankam, lebten hier 5.000 Menschen. Fünf Jahre
nach ihrer Ankunft waren es schon 19.000 und 1966 über 25.000. Der
Altersdurchschnitt lag bei 26 Jahren, damit galt Schwedt als die jüngste
Stadt der DDR. Es wurden immer mehr Wohnhäuser, Fabriken, Kaufhallen und
Kulturgebäude gebaut und alle packten mit an. Bilder aus dieser Zeit zeigen
Straßen voller junger Menschen mit Kinderwagen. Erzählungen schildern
Aufbruchstimmung. „Und so ist nach und nach Schwedt Stadt entstanden“, sagt
Beczinczka, als wäre es eine der Erzählungen, die sie im Kindergarten
vorliest.
Auch der Bürgermeister Jürgen Polzehl kam Anfang der 1960er Jahre nach
Schwedt. Der 66-Jährige erzählt nicht von seiner Kindheit, sondern von
Zahlen. Polzehl ist einer der Protagonist:innen von „Rückbau Ost“, seit
1989 aus der Stadtverwaltung heraus, seit 2005 für die SPD als
Bürgermeister von Schwedt. Er wartet nicht auf Fragen. Er zeigt
vorbereitete Luftansichten und Diagramme von Bevölkerungs- und
Wohnraumentwicklungen auf seinem iPad, redet vom Ein- und Ausatmen der
Stadt. „Früher kamen die Leute für Arbeit und Wohnungen her, nach der Wende
sind sie der Arbeit wieder hinterhergefahren. Dann ist Schwedt weniger
geworden.“
Die Spitze der Bevölkerungskurve war 1980 erreicht. Fast 55.000 Menschen
lebten damals in Schwedt. 50.000 mehr als noch 20 Jahre zuvor. „Im
Petrolchemischen Werk haben 8.600 Menschen gearbeitet. Die brauchten alle
Wohnraum. Da dieser Mangelware war in der Planwirtschaft, hat man hier
komplexen Wohnungsbau probiert. Die Turmdrehkranzeiten haben das Quartier
bestimmt“, lacht Polzehl. Quantität sei vor Qualität gegangen. Ab 1980
flacht die Bevölkerungskurve schon etwas ab. Nach 1989 aber bricht sie
völlig ein.
Viele Orte im Osten sind nach der Wende weniger geworden. Weniger Menschen,
weniger Häuser, weniger lebenswert. „Nach der Wende wurde die DDR mehr oder
weniger vom Westen vereinnahmt“, erzählt Beczinczka, „und die Leute haben
sie alle rausgeschmissen.“ Die Erdölraffinerie und die Papierfabrik kürzten
die Zahl ihrer Mitarbeiter:innen radikal. Rohtabakfabrik, die Schuhfabrik,
das Betonwerk, die Großbäckerei – dies sind nur vier von vielen Betrieben,
die nach der Wende geschlossen wurden. Damit gingen vor allem
Frauenarbeitsplätze verloren.
Bis heute ist sich Beczinczka sicher, die Betriebe hätten sich wieder von
alleine erholt. Stattdessen wurden viele geschlossen. Tausende
Schwedter:innen wurden arbeitslos, selbst aus guten Stellen heraus, wie
auch Hildegard Beczinczka sie hatte. Besonders ab 1993 gaben viele auf.
Tausende, gerade junge Menschen, verließen die Stadt. Neue Kinder gab es
kaum. Die Stadt wurde schlagartig weniger – und älter. Der Leerstand nahm
rapide zu.
„Die übrigen Menschen wurden in Turnhallen eingeladen, um ihnen zu sagen:
Ihr steht auf Abriss“, sagt Jürgen Polzehl. 7.000 Wohnungen standen auf
Abriss. Die Pläne, in denen fast der komplette Wohnkomplex VII grün
unterlegt ist, bekam niemand zu sehen. „Die hätten uns ja wieder aus dem
Rathaus gejagt“, sagt Polzehl.
Es war eine Zeit, von der in Schwedt niemand freiwillig redet. Doch die
Neunziger waren die Zeit der Entbehrung, des Wegzugs und des Leerstands.
Wer in die Hochzeit von Schwedt hineingeboren war, verbrachte seine Jugend
in der kollektiven Depression und ohne Zukunftsaussichten in Schwedt. Wer
seine Jugend in dieser Zeit verbrachte, lebte in Angst oder mit einem
Schlagring in der Tasche. Denn vor dem Abriss war die Zeit der Gewalt und
Bomberjacken.
Darüber wird eisern geschwiegen. Niemand will etwas mitbekommen haben.
Selbst die nicht, die im Krankenhaus arbeiteten, wo jede Samstagnacht die
Opfer rechter Gewalt eingeliefert wurden. Geprügelt hat man sich
schließlich schon immer in Schwedt.
Auch der Bürgermeister fasst sich kurz, er sei ja damals noch nicht in
Regierungsverantwortung gewesen. „Na ja, da gibt es Filme drüber“, sagt er
und spricht die ARD-Dokumentation „Die Stadt gehört uns“ an. Diese zeigt
Schwedt 1993 als gesetzlosen Ort, an dem die rechten Jugendlichen regieren.
„Man dachte damals: Lass die doch, die brauchen auch was“, sagt Polzehl.
Ein Großteil der Szenen spielten sich im Wohnkomplex VII ab, von dem nun
kaum mehr als eine Wiese bleibt.
Früher kam die Polizei oft erst, wenn es zu spät war. Heute schleicht ein
Streifenwagen über die halb abgerissene Straße im WK VII. Dort, wo jetzt
„nichts mehr“ ist. Juliane Karsten schiebt ihren Kinderwagen über das freie
Feld daneben, wo „nichts mehr“ ist. Am Horizont kämpfen einzelne
Radfahrer:innen ab und an in Zeitlupe gegen den Wind an. Man fragt sich,
wohin des Weges.
Auf der anderen Seite der halben Straße stehen die Uckermarkpassagen. Einen
der zwei Flügel des Gebäudes schmückt ein metergroßes Mosaik von Friedrich
Engels, der in seiner Darstellung und Pose einer Gottheit anmutet. Die
weiße Passage ist von Gras und Birken bewachsen, hinter der Passage stehen
kleine Nadelbäume. Der Waldrand rückt vor. Ginge es nach der Stadt, wären
auch die Uckermarkpassagen längst passé. Doch sie sind in Privathand, sagt
Juliane Karsten.
„Ich verstehe, dass alle dieses Bild von Schwedt einfangen wollen, aber ich
habe dazu gar keinen Bezug“, sagt Karsten. Das Bild der Leere ist keines,
das Schwedter:innen noch vor sich hertragen wollen. Für das Bild der
florierenden DDR gibt es kaum noch Gedächtnisstützen, die nicht umgestaltet
oder abgerissen sind. Die Uckermarkpassagen sind eine letzte. Wer als
Nachwendekind in Schwedt lebte, kann sich an die großstädtisch anmutende
Tiefgarage erinnern, die immer leerer wurde. An das Flanieren durch die
engen Gänge, auf denen es kaum Gegenverkehr gab. An die dumpfe Hitze, die
im Sommer auf der Terrasse zwischen den beiden Gebäuden stand. Daran, wie
die Läden immer weniger wurden und irgendwann selbst die Post zumachte.
Als in den 2000ern drumherum schon eingezäunte Betonhaufen lagen, blieben
nur noch zwei Clubs. Auch Juliane Karsten hat hier noch getanzt. Bis sie
kürzlich auf ein benachbartes Dorf zog, lebte sie drei Jahre lang in der
Gegend, ihre Schwiegereltern tun es noch immer. „Es gibt so viele Orte in
Schwedt. Das hier ist für mich nicht Schwedt, das ist tot“, sagt Juliane
Karsten und schiebt ihren Kinderwagen zurück zu ihrem Auto.
Wie kann eine Stadt gesund sein, die so viel entbehren musste? Wenn das,
was eine Stadt einmal ausmachte, tot ist, was bleibt dann noch?
Die Hauptstraße der Stadt führt von der PCK-Erdölraffinerie vorbei an
Baumärkten und Tankstellen, einem Einkaufszentrum, bunt bemalten
IW-65-Plattenbauten, den letzten hohen Berliner Querplatten und dem alten
Centrum Warenhaus. Der Blick hat Weite in der flachen Stadt, vor allem auf
der breiten Allee, die auf das Theater zuläuft. Dahinter liegt das
Kanalufer, das andere Ende der Stadt, dann kommen nur noch der Nationalpark
„Unteres Odertal“, die Oder und Polen.
Am Ufer angekommen fängt die blonde Frau an, schneller zu reden: „Dit is
Schwedt für mich. Hier sind überall Autos, überall Menschen und das
Wasser“, sagt sie und steuert den Kinderwagen Richtung Bollwerk. Erst 2007
wurde der neu gestaltete Uferbereich eröffnet. Vorher stand hier das
Betonwerk, dann dessen Ruinen. „Ich weiß gar nicht, wie das hier vorm Umbau
aussah“, sagt Karsten. Und tatsächlich erinnert nichts mehr an die
Vergangenheit.
Bankgroße Betonblöcke sind in zwei Grashügel eingelassen. Die so aussehen
wie die Hochwasserdämme auf der anderen Wasserseite. Wer sich hier setzt,
hat einen weiten Blick auf Uferpromenade, den Kanal und den Nationalpark.
„Im Sommer ist hier alles voll“, sagt Karsten. Auch mit Kindern. Denn
gerade erlebt die Stadt einen neuen Aufschwung. Kurz nach der Wende wurden
noch viele Kinder geboren, wie Karsten, und die bekommen nun eigene Kinder.
## Endlich zieht Schwedt wieder Menschen an
„Nach dem Einatmen haben wir ja wieder das Ausatmen geübt. Jetzt besteht
die spannende Aufgabe darin, die Stadt wieder abzufangen“, sagt der
Bürgermeister Jürgen Polzehl. In den letzten Jahren sei die
Einwohner:innenzahl, zumindest mit den umliegenden Gemeinden, nicht unter
30.000 gefallen, das mache ihn stolz.
Schwedt zieht endlich wieder mehr Menschen an, als es abstößt, und die
Geburtenrate habe sich mit rund 200 pro Jahr stabilisiert. Gleichzeitig
sterben aber auch jedes Jahr doppelt so viele. Die, die Schwedt einst
erbauten. Derzeit liegt der Altersdurchschnitt bei 51. Die Stadt ist nur
noch halb so groß und doppelt so alt wie zu Bestzeiten.
„Wir brauchen neuen Wohnraum“, sagt Bürgermeister Jürgen Polzehl. Es klin…
paradox, denn der Rückbau ist noch immer nicht vollendet. Doch mit einer
renovierten Plattenbauwohnung sind zwar die Alteingesessenen zufrieden,
Menschen aus Berlin könne man damit aber nicht anziehen, und eben die wolle
man nun herholen. Auch Pol:innen sollen die Stadt bereichern und tun es
bereits: Die größte Migrationsgruppe in Schwedt sind Pol:innen. Zusätzlich
gibt es viele Berufspendler:innen, die zum Arbeiten täglich die Grenze
passieren. Wie eng die Verbindung bereits ist, zeigte sich, als Mitte März
die nahegelegene Grenze wegen der Coronapandemie geschlossen wurde.
Ärzt:innen und Facharbeiter:innen wurden in Hotels untergebracht, um ihrer
Arbeit nachgehen zu können. Vielleicht entscheiden sich einige von ihnen,
ihren Lebensmittelpunkt ganz nach Schwedt zu verschieben.
Die Wohnsiedlung, in der Hildegard Beczinczka lebt, ist Polzehls
Vorbildprojekt. Das Karree besteht aus dem Rohmaterial alter Plattenbauten.
Zwei Stockwerke wurden abgetragen, Putz und Fenster sind neu, ihr Inneres
ist altersgerecht gestaltet. „Das ist genauso teuer, als ob wir neu gebaut
hätten, aber die Leute haben gesehen: Die reißen uns nicht ab, die machen
aus der Platte was. Man muss auch ein Beispiel haben, um zu zeigen: Ihr
seid uns wichtig.“ Gleichzeitig schrumpft die Stadt weiter, ohne dass es
jemand mitbekommt.
## Von der „Kunst des Schrumpfens“
„Die Kunst des Schrumpfens“, nennt Bürgermeister Polzehl das.
Nachwendekinder, die sich entscheiden zu bleiben, wie auch Juliane Karsten,
möchten nicht mehr in der Platte wohnen. Ein Grund ist auch, dass die Miete
für eine große Wohnung so teuer ist wie die Rate für ein Eigenheim. Also
bauen oder kaufen sie – außerhalb von Schwedt. Denn in Schwedt fehlt es an
freigegebenen Bauflächen. Dort fährt man dann nur noch zum Einkaufen hin
oder um am Kanal zu spazieren. Zu den Arbeitsstellen müssten viele noch
weiter pendeln.
Juliane Karsten fährt jeden Tag 50 Kilometer nach Prenzlau zum Landschafts-
und Umweltamt Uckermark und zurück. Und doch hält es sie in Schwedt,
eigentlich war es nie eine Option, woanders hinzugehen, sagt sie. Karsten
spaziert am Kanal und beschreibt lebendig die Umgebung: Hier die
Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße „HoFriWa“, da der Nationalpark,
dort „unsere Freilichtbühne“ hinter dem Theater. Sie klingt so amüsiert w…
stolz.
Von hinten klingelt ein Rad: „Biddeschön! Siehste hier wird man noch
weggeklingelt. Hier sind die Leute noch nett – nicht wie oben im Ghetto“,
sagt Karsten und lächelt dabei. WK VII, das sagen nur jene, die zu
DDR-Zeiten in Schwedt lebten. „Dit is für mich zu Hause – nicht der Scheiß
da oben.“ Es heißt, die Stadt habe sich schöngeschrumpft. Ob sie das auch
so sehe? „Ich weiß nicht, ob es schöner ist. Es ist anders“, sagt Juliane
Karsten.
Die Stadt wird sich weiter verändern müssen, denn Abwanderung aufzuhalten
allein reicht nicht. Die Energiewende könnte dafür sorgen. Wenn auch der
Verbrennungsmotor Geschichte wird, muss in der Erdölraffinerie, die noch
immer der größte Arbeitgeber der Stadt ist, umgedacht werden. Der russische
Konzern Rosneft, Hauptanteilseigner der PCK Raffinerie, hatte kürzlich
angekündigt, in den nächsten Jahren 600 Millionen Euro in den Umbau der
Raffinerie zu investieren. „Transformation“, sagt Polzehl, die Augen weit
geöffnet. Das könnte neue Arbeitsplätze bedeuten. Außerdem ist ein
Innovationscampus geplant.
Schwedt, die Endstation vor der polnischen Grenze, gehört zur
Großstadtregion Berlin-Brandenburg. Die Autobahnzufahrt nach Berlin ist
jedoch 50 Kilometer entfernt und der Regionalexpress fährt stündlich und
ständig auf Schienenersatzverkehr. 2026 soll der Zug nach Berlin zu
Hauptverkehrszeiten im Halbstundentakt fahren. Auch die Verbindung in das
50 Kilometer entfernte Szczecin soll ausgebaut werden. Vielleicht verirren
sich dann mehr Menschen nach Schwedt. „Wenn ich die Entwicklungsachse
Berlin-Stettin bedenke, dann steht der Standort okay“, sagt Polzehl. Reicht
okay für Schwedt?
13 Jul 2020
## AUTOREN
Pia Stendera
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Städtebau
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