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# taz.de -- Thomas Piketty für soziale Gerechtigkeit: Mehr Gleichheit ist mög…
> Thomas Piketty setzt in der „Kurzen Geschichte der Ungleichheit“ auf
> Umverteilung als Weg zu mehr Gerechtigkeit. Wie, bleibt offen.
Bild: 1973, Spontanstreik bei Pohlschroeder in Dortmund, gegen den starken Prei…
Nach 1945 gab es in Frankreich und anderen europäischen Ländern eine
Hyperinflation. Die durch den Krieg aufgelaufenen monströsen Staatsschulden
verschwanden damit im Nu, allerdings waren auch Millionen Kleinsparer
ruiniert. In der Bundesrepublik setzte man mit der Währungsreform, so
Thomas Piketty, auf ein schonenderes Verfahren, die Staatsschulden zu
beseitigen, das Kleinsparer eher schützte. Das Lastenausgleichsgesetz 1952
war zudem eine wirksame Umverteilung von Besitzenden zu den Habenichtsen,
die im Krieg alles verloren hatten.
Dieses kleine, prägnante Beispiel zeigt, dass Ungleichheit politisch
erzeugt oder gebremst werden kann. Das ist nicht banal – denn es existieren
zahlreiche wirksame Erzählungen, warum mehr Ungleichheit vertretbar oder
nötig, naturgegeben oder unvermeidlich sei. Manche
Wirtschaftswissenschafter halten mehr Ungleichheit für einen automatischen
Effekt technischer Innovationen.
Piketty vertritt genau das Gegenteil: Mehr Gleichheit ist möglich. Das ist
die Schlüsselthese seines 2020 erschienenen, 1.300 Seiten starken [1][Opus
magnum „Kapital und Ideologie“]. Darin hat der französische Ökonom die
Idee der Gleichheit von den Resten marxistischer Teleologie befreit. Ins
Zentrum rückte er die Ideologie, die man als Ensemble aus
gesellschaftlichen Machtverhältnisse und herrschenden Erzählungen
übersetzen kann.
Dass Pikettys sperrige Werke globale Bestseller werden, verdankt sich dem
Sinnloch, das der Bankrott des Neoliberalismus hinterlassen hat. Piketty
kombiniert statistikgesättigte wirtschaftshistorische Analysen mit scharfer
Kritik und einem historische Optimismus, der sich sowohl von der
[2][Untergangsbesessenheit] der Linksradikalen als auch vom geistig dünnen
sozialdemokratischen Pragmatismus absetzt.
## Entschädigung der Sklavenhalter
Bei aller Ungerechtigkeit, so Piketty, gibt es „eine historische Bewegung
hin zur Gleichheit“. Die Welt sei heute „egalitärer als die von 1950 oder
1900“, ganz zu schweigen von der von 1780, als die Sklaverei in einer
Gesellschaft maximaler Ungleichheit herrschte. In der
Eigentümergesellschaft des 19. Jahrhunderts war Besitz heilig – ein grelles
Beispiel war die aufwendige Entschädigung der Sklavenhalter, die nach der
Sklavenbefreiung für ihren verlorenen Besitz großzügig mit Geld bedacht
wurden, in England mit einer Summe, die heute 120 Milliarden Euro
entspricht.
Der Trend zu mehr Gleichheit im Westen von 1914 bis 1980, in der
sozialdemokratischen Ära, verdankte sich sozialen Kämpfen, die den
Sozialstaat und das progressive Steuersystem durchsetzten. Doch seit
Reagan, Thatcher und der Deregulierung der Finanzmärkte bewegt sich die
Welt in Sachen Gleichheit und Steuergerechtigkeit wieder rückwärts in die
Vergangenheit.
Piketty schreibt umfangreiche, originelle Bücher – „Eine kurze Geschichte
der Gleichheit“ ist beides nicht. Nonchalant ignoriert der Autor die Regel,
dass man nie bei sich selbst abschreiben darf. Dieses Buch ist eine Art
Bonsaiausgabe von „Kapital und Ideologie“. Struktur, Argumente, Thesen,
alles klingt recht bekannt. Das ist nicht versteckt, fast auf jeder Seite
weisen Fußnoten auf das Hauptwerk hin. Dieses Unterfangen schillert
zwischen Selbstzitat und der Dienstleistung, 1.300 Seiten
publikumsfreundlich einzudampfen.
## Die Superreichen im Norden
In dieser Kurzfassung fällt, mehr als im Original, eine Leerstelle auf.
Rettung versprechen laut Piketty nur entschlossene Umverteilung und
Einschränkung der Marktmacht. Es soll ein Erbe für alle geben (120.000
Euro), das die Akkumulation von Reichtum verhindert, ein hohes
Grundeinkommen, radikale Wirtschaftsdemokratie und, weil der Globale Süden
ein Recht auf Entschädigung für koloniale Verbrechen hat, erst mal 1.000
Milliarden Euro, die die Superreichen im Norden zahlen sollen. Am Horizont
leuchtet die Idee eines „dezentralisierten Sozialismus, der auf
Selbstverwaltung und permanenter Macht- und Eigentumszirkulation beruht“.
Die Liste der Forderungen ist in diesem Buch noch viel länger – und steht
im Missverhältnis zu der Frage, unter welchen Bedingungen das umsetzbar
ist. Was fehlt, ist eine zarte Andeutung, wer das alles ändern soll, und
eine zumindest skizzenhafte Analyse der Machtverhältnisse.
30 Aug 2022
## LINKS
[1] /Thomas-Pikettys-Kapital-und-Ideologie/!5667261
[2] /Klimawandel-und-No-Future/!5871436
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Politisches Buch
Soziale Gerechtigkeit
Kapitalismus
Kolonialismus
Demokratie
Schwerpunkt Armut
Thomas Piketty
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