# taz.de -- Klimawandel und No Future: Die Rückkehr der Apokalypse | |
> Aktivisten von Extinction Rebellion und der Letzten Generation erinnern | |
> an die Achtziger. „No Future“ und Klimaangst haben den gleichen Kern. | |
Bild: „Zuerst sterben die Bäume, dann die Menschen“: Protest in Wackersdor… | |
Wenn die Apokalyptiker der frühen achtziger Jahre Recht behalten hätten, | |
würden Sie diesen Text nicht lesen. Sie säßen in einer Höhle im | |
Voralpenland bei einem am Feuer gebratenen Stück radioaktiv verstrahlten | |
Hirschs. Ein Atomkrieg hätte weite Teile Deutschlands unbewohnbar gemacht. | |
Die gute Nachricht ist: Die taz erscheint noch, Sie können diesen Artikel | |
lesen, zustimmend nicken [1][oder einen tadelnden Leserbrief schicken]. Der | |
schlechten Nachrichten sind zwei: 1. Der Atomkrieg war eine reale Gefahr. | |
2. Man muss auch heute das Schlimmste für möglich halten. | |
Wissenschaftler warnen seit über 50 Jahren davor, dass das Aussterben der | |
Menschheit durch die von ihr verursachte Erderwärmung nicht ausgeschlossen | |
sei: Erst sterben massenhaft die Arten, dann stirbt vielleicht der Mensch. | |
Jetzt ist aus einer abstrakten eine spürbare Gefahr geworden – und | |
[2][Psychologen beschreiben ein Syndrom namens Klimaangst], das sich aus | |
einer Ohnmachtserfahrung speist: Die Fakten liegen auf dem Tisch, aber die | |
politischen Antworten sind unzureichend. In wenigen Jahren werden | |
Kipppunkte erreicht, an denen uneinholbare Prozesse mit katastrophalen | |
Folgen ausgelöst werden. | |
Während sich der bürgerliche Mainstream der Klimabewegung [3][Fridays for | |
Future] nennt und so das Ziel einer weiter bestehenden Möglichkeit von | |
Zukunft in den Blick nimmt, weisen die Namen von Bewegungen wie Letzte | |
Generation, die vor allem in Deutschland aktiv ist, und Extinction | |
Rebellion aus England darauf hin, dass es keine Zukunft geben wird, wenn | |
nicht sofort ein radikaler Kurswechsel vorgenommen wird. | |
Wer die achtziger Jahre erlebt hat, kann auf den Gedanken kommen, dass No | |
future wieder da ist. Als John Lydon von der Punkband Sex Pistols davon | |
sang, dass Englands Träume keine Zukunft hätten – „there is no future in | |
England’s dreaming“, wollte er allerdings nicht vor dem nahenden Weltende | |
warnen, sondern der Hoffnungslosigkeit der britischen Jugend Ausdruck | |
verleihen. | |
In Deutschland gedieh Lydons Parole prächtig auf dem Nährboden der German | |
Angst, die, so sagen Historiker, in der katastrophalen Erfahrung des | |
Dreißigjährigen Kriegs gründet. Diese Angst drückte sich nun so aus: Die | |
Deutschen sterben aus. Der Wald stirbt. Das Essen ist vergiftet. Die | |
Atomkraftwerke strahlen. Es droht die Vernichtung der Menschheit: Während | |
des Kalten Kriegs war die nukleare Aufrüstung so weit fortgeschritten, dass | |
ein tausendfacher „Overkill“ möglich wurde. | |
Es hätte passieren können. Wäre ein Oberstleutnant der sowjetischen | |
Luftverteidigungsstreitkräfte namens Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow am 26. | |
September 1983 nicht skeptisch geblieben angesichts von sieben | |
amerikanischen, mit Nuklearsprengköpfen bestückten Interkontinentalraketen, | |
die ihm sein System meldete: Ein Aufklärungssatellit hatte Spiegelungen in | |
den Wolken als Zeichen eines Erstschlags interpretiert. | |
Die Klimakatastrophe kann nicht durch einzelne Offiziere und Staatschefs | |
verhindert werden, indem sie nichts tun, also nicht auf den roten Knopf | |
drücken. Heute ist vielmehr kollektives, schnelles Handeln nötig. | |
Was die Zukunftsangst von 1980 und die Klimaangst von 2022 aber gemein | |
haben, ist ihr apokalyptischer Kern. Das apokalyptische Denken speist sich | |
zwar aus Erfahrungen und Wissen, aber eben auch aus Stimmungen, ideologisch | |
geprägten Annahmen, aus verdrängten Aggressionen – und dem Wunsch nach | |
Erlösung. | |
Wenn sich jugendliche Aktivisten gegen die ihrer Ansicht nach bloße | |
Verwaltung der Klimakatastrophe wehren und sich [4][als „Letzte | |
Generation“] bezeichnen, wenn Extinction Rebellion gegen die „Auslöschung�… | |
rebelliert, dann steckt darin eine apokalyptische Prophezeiung. | |
In seinem Klassiker „The Pursuit of the Millennium“ von 1957 schweift der | |
amerikanische Historiker Norman Cohn durch die Jahrhunderte, um die | |
wiederkehrenden messianischen Bewegungen in der abendländischen Geschichte | |
zu beschreiben. Seit jüdische Propheten zum ersten Mal das baldige Nahen | |
der Endzeit und die rettende Ankunft des Gesalbten verkündeten, griffen | |
immer dann Erlösungsfantasien um sich, wenn die Angst vor dem Morgen am | |
größten war. | |
Cohn zeigt, wie die apokalyptischen Bewegungen des Mittelalters von den | |
Heilserwartungen der Mittellosen und Randständigen befeuert wurden und | |
häufig in Kreuzzügen und Pogromen endeten, denen die vermeintlichen Feinde | |
des Gottesreichs zum Opfer fielen – seien es die Juden von Worms oder die | |
Muslime in Jerusalem. Wenn ein Papst dem Plündern und Morden Einhalt zu | |
gebieten versuchte, wurde er von den wandernden Volkspredigern als der | |
Antichrist diffamiert. | |
Wenn heute Extinction Rebellion und Letzte Generation die Regierung als | |
verbrecherisch, mörderisch und ausbeuterisch bezeichnen, ist es nicht ganz | |
verwunderlich, dass konservative Kommentatoren bereits eine „grüne RAF“ am | |
Horizont wähnen. Beide Bewegungen halten Sachbeschädigungen und zivilen | |
Ungehorsam für legitim, derzeit beschränken sich ihre Aktionen auf das | |
Blockieren von Autobahnen, das Abdrehen von Ölpipelines und das Grünfärben | |
von Brunnen. | |
In ihren Videobotschaften lässt sich ein protestantischer Tonfall aber | |
genauso wenig überhören wie die Gewissheit, im Besitz einer Wahrheit zu | |
sein, die anderen verschlossen ist. Die Münchner Punkband Marionetz | |
beschrieb die nahende Apokalypse einst dagegen so: „Lebe in einer rosa | |
Welt. Spiele hier und habe fast kein Geld. Warte auf das Ding, das auf | |
Deutschland fällt, und sonst nichts.“ Dazu spielten sie eine muntere | |
Melodie. Ihre Idee von No future wusste noch vom Klassenbewusstsein John | |
Lydons und verstand Humor als Ausdruck von Resilienz. | |
Die bürgerliche Gesellschaft und die von ihr angestoßene Industrialisierung | |
haben eine Welt voller Widersprüche hervorgebracht. Einerseits ist der | |
Lebensstandard vieler Menschen weltweit seit 200 Jahren ständig gestiegen, | |
andererseits lassen die Folgen dieser Entwicklung den Fortbestand unserer | |
Zivilisation fraglich werden. Dass Letzteres junge Leute auf die Idee | |
bringt, radikale Mittel seien geboten, ist nicht überraschend. | |
Die Reaktionen auf die real drohende Gefahr erzählen uns aber mitunter mehr | |
über die Verängstigten als über den Anlass, der ihre Angst erzeugt. Die | |
Psychoanalyse beschreibt das Phänomen als Projektion. | |
Was den radikalen Aktivisten von heute die kriminelle Regierung und die | |
verbrecherischen Manager von Energiekonzernen sind, waren den | |
Friedensbewegten der Achtziger „die Amis“, personifiziert durch den | |
Oberschurken Ronald Reagan. Im Sommer 1982 versuchte sich der deutsche | |
Schamane Joseph Beuys als Popsänger und dichtete: „Aus dem Land, das sich | |
selbst zerstört und uns den ‚way of life‘ diktiert, da kommt Reagan und | |
bringt Waffen und Tod. Und hört er Frieden, sieht er rot. Er sagt als | |
Präsident von USA: Atomkrieg? Ja bitte, dort und da. Ob Polen, Mittlerer | |
Osten, Nicaragua, er will den Endsieg, das ist doch klar. Doch wir wollen | |
Sonne statt Reagan. Ohne Rüstung leben!“ | |
Nicht Beuys, der sich 1941 zur Luftwaffe gemeldet hat und als Funker in | |
einem Sturzkampfbomber diente, hat also für den Endsieg gekämpft, sondern | |
Ronald Reagan hat ihn im Sinn: Der plant einen globalen Atomkrieg. | |
Echos dieser Projektion kann man heute hören, wenn der Brite Roger Hallam, | |
Mitgründer von Extinction Rebellion, erklärt, der Klimawandel sei nur das | |
„Rohr, durch das Gas in die Gaskammer fließt, der Mechanismus, durch den | |
eine Generation eine andere tötet“. Die Klimakatastrophe als Ergebnis der | |
modernen kapitalistischen Gesellschaft und ihres exzessiven | |
Ressourcenverbrauchs wird hier zum tödlichen Generationskonflikt | |
simplifiziert, während die Jungen, die sich ihrer „Ausrottung“ widersetzen, | |
nonchalant zu den Juden von heute erklärt werden. Dass er Personen | |
verantwortlich macht, wo es ein komplexes System zu ändern gälte, entgeht | |
Hallam. Er reproduziert nur das neoliberale Weltbild, laut dem es | |
Gesellschaft gar nicht gibt, sondern nur einzelne Menschen und die um sie | |
herum gruppierte heilige Familie. | |
Wenn Themen wie Überbevölkerung, Raubbau an der Natur und | |
Umweltverschmutzung die öffentliche Diskussion bestimmen, dann habe sich | |
der Gegner verwandelt, meinte vor gut vierzig Jahren Wolfgang Pohrt: Nicht | |
das falsche gesellschaftliche Verhältnis der Menschen, der Mensch selbst | |
erscheint dann als Feind. Pohrt war in den Achtzigern der schärfste | |
Kritiker der Friedensbewegung, deren nationalistische Tendenzen er | |
kritisierte. Zugleich arbeitete er die antihumanistischen Neigungen eines | |
radikalen Ökologismus heraus. | |
Das Verhältnis des apokalyptischen Denkens zur gesellschaftlichen | |
Wirklichkeit interpretierte Pohrt so: In der Tat sei die Frage vernünftig, | |
„ob eine Welt, in welcher die Mehrheit der Bevölkerung keine Möglichkeit | |
hat, wenigstens ihren grimmigsten Hunger zu stillen, während eine große | |
Minderheit verbissen gegen das eigene Fett kämpft, es verdient zu | |
existieren. Erst dieser berechtigte Zweifel, ob es für die vorhandene Welt | |
nicht besser wäre, wenn sie spurlos verschwände, macht die technische | |
Möglichkeit atomarer Vernichtung zur apokalyptischen Vision.“ | |
In der jüdisch-christlichen Tradition der Apokalypse folgt dem Ende der | |
Tage eine neue Welt. In ihr liegen Wolf und Schaf friedlich nebeneinander | |
auf der Wiese. | |
13 Aug 2022 | |
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Ulrich Gutmair | |
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