# taz.de -- Atomangst in den 80ern: Als die Wolke kam | |
> Atomraketen und Tschernobyl verdüsterten die 80er Jahre. Mit den Büchern | |
> Gudrun Pausewangs kam die Apokalypse ins Kinderzimmer. | |
Bild: Der Protest gegen die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf war generatio… | |
Um die Spielplätze flatterte Absperrband, aber draußen wollte ohnehin | |
niemand mehr sein. Durch die Tagesschau schwirrten Bilder von Menschen mit | |
Geigerzählern und Begriffe wie Becquerel und Millisievert. Dem | |
Wetterbericht wurde vermutlich selten mit so dermaßen großer Anspannung | |
gelauscht wie in den Tagen nach Tschernobyl – Angst vor Wind, Angst vor | |
Regen und die Panik vor der radioaktiven Wolke. | |
„Ohohoho Tschernobyl, das letzte Signal vor dem Overkill. He, he, stoppt | |
die AKWs“, [1][sang Wolf Maahn]. Im Radio spielten sie den Song nach dem | |
Super-GAU rauf und runter. In einer Strophe geht es um all die Kinder, die | |
nachts weinen, wegen der Furcht, „jetzt verstrahlt“ zu sein. Was | |
Strahlenkrankheit bedeutet, das hatten sie durch die drastischen | |
Schilderungen des körperlichen Zerfalls und Sterbens der kindlichen | |
Romanfiguren in „Die letzten Kinder von Schewenborn“ (1983) von Gudrun | |
Pausewang gelernt. | |
Dieser Jugendroman und der ebenfalls von ihr stammende „Die Wolke“ (1987) | |
haben sich ins Gedächtnis ganzer Generationen von Schüler:innen | |
eingeschrieben. Sätze wie „Morgen wirst du sie auch sehen können, die | |
Gehäuteten und Haarlosen, sie werden ganz Schewenborn füllen“ vergisst man | |
nicht. Pausewangs Bücher brachten die [2][Apokalypse] ins Kinderzimmer. | |
Erst einmal aber brachte Pausewang die Atomkatastrophe literarisch nach | |
Westdeutschland, genauer gesagt, nach Hessen. Schewenborn ist der Name | |
einer fiktiven Kleinstadt in der Nähe von Fulda, wo eine Atombombe | |
explodiert. Danach sieht Hessen aus wie Hiroshima 1945. | |
Bei Pausewangs „Die Wolke“, die im Jahr nach Tschernobyl erschien, ereignet | |
sich der fiktive Reaktorunfall im AKW Grafenrheinfeld. Ausgerechnet in | |
Bayern, dem Land, das Franz Josef Strauß regiert, der Apologet der | |
Atomenergie. Gut 100 Kilometer entfernt, im hessischen Schlitz, beginnt die | |
Fluchtodyssee der 14-jährigen Janna-Berta und ihres kleinen Bruders Uli. | |
Denn ihre Eltern sind auf einem Kurztrip nach Schweinfurt, ganz in der Nähe | |
des Reaktors. Kinder, die sich allein durchschlagen müssen, das ist ein | |
wiederkehrendes Motiv bei Pausewang. | |
## Atomangst und Zweiter Weltkrieg | |
Wie in jedem Katastrophenroman steigert sich der Horror. Die radioaktive | |
Wolke, vor der die Bewohner:innen fliehen, nähert sich rasant. Noch | |
schneller bröckelt der Firnis der Zivilisation. Auf der Flucht ist sich | |
jeder selbst der Nächste, die Autos sind zu voll gepackt, um Passagiere | |
aufzunehmen. Uli wird von einem Wagen überfahren und stirbt. Der Autofahrer | |
rast weiter. Die Spaltung der Gesellschaft in Davongekommene und Opfer | |
zieht sich durch den Roman, „Hibakusha“ werden die Strahlenkranken in der | |
„Wolke“ genannt, so wie in Japan die Überlebenden der Atombombe. Im | |
„Schewenborn“-Roman vollzieht sich der Bruch der Zivilisation, wenn | |
Bewohner kriegsversehrte Kinder ermorden. Ein Vater tötet sein | |
missgebildetes Baby und sagt: „Was ist wohl barmherziger, so oder so?“ | |
Die Komparatistin Jenny Willner hat sich in ihrem Aufsatz „[3][Die letzten | |
Zombies von Schewenborn]“ mit dem Roman befasst. Sie zeigt, dass die | |
atomare Katastrophe hier indirekt auf den Zweiten Weltkrieg verweist, die | |
NS-Vernichtungspolitik aber nicht erwähnt wird – im Unterschied zu anderen | |
Büchern Pausewangs, die ihr Schaffen unter das Credo „Nie wieder | |
Nationalsozialismus“ stellte. Der Horror der Beschreibungen werde in diesem | |
Buch auch dadurch überdeterminiert, dass den dystopischen | |
Zukunftsschilderungen Elemente einer tabuisierten, mit Schuld und Scham | |
besetzten Vergangenheit beigemengt sind, meint Willner. | |
## Angst kann rational sein, aber auch lähmen | |
Pausewang wollte aufklären und Kindern Mut machen, das schreibt sie selbst | |
im Nachwort, was angesichts der Brutalität des Romans irritiert. „Mut zur | |
Angst“ lautet eine Formel des Philosophen Günther Anders, der 1956 in | |
seiner Zeitdiagnose „Die Antiquiertheit des Menschen“ mit Blick auf die | |
Atombombe von Apokalypseblindheit sprach. „I want you to panic“, | |
schmetterte Greta Thunberg 2019 dem Publikum beim Weltwirtschaftsforum | |
entgegen. [4][Angst ist durchaus eine rationale Reaktion auf die | |
Klimakatastrophe], auf Reaktorunfälle und auf die Atombombe. Angst kann zu | |
politischem Handeln bewegen. Darauf setzt heute die Klimabewegung wie die | |
Friedens- und Anti-AKW-Bewegung der 1980er. | |
Pausewangs Bücher passten zum Lebensgefühl dieser Zeit, der Angst vor Krieg | |
und Atomkraft. 1981 gingen Hunderttausende auf die Straße gegen den | |
Nato-Doppelbeschluss und gegen das AKW Brokdorf. Thunberg wurde von | |
Wirtschaftsliberalen und Konservativen „Klimahysterie“ vorgeworfen, | |
Pausewang damals von Unionspolitikern und der Atomlobby Angstmacherei. | |
Trotzdem: Der überbordende Horror der „Letzten Kinder von Schewenborn“ | |
hätte nicht in die Kinderzimmer von 12-Jährigen einziehen müssen. Angst | |
kann auch lähmen. | |
15 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=3XUzXfLb8oU | |
[2] /Klimawandel-und-No-Future/!5871436 | |
[3] https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/00168890.2021.1897776?journalCo… | |
[4] /Psychologe-ueber-Klima-Angst/!5922795 | |
## AUTOREN | |
Martina Mescher | |
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