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# taz.de -- Angst im Schwimmbad: Das Schreckliche leicht gemacht
> Am Fuß des Sprungturms kann man schon Angst bekommen. Aristoteles soll
> helfen. Der Ethikrat bietet philosophische Begleitung im Umgang mit
> Furcht an.
Bild: Jetzt musst du springen!
Kürzlich war ich mit den Kindern im Schwimmbad, als ich am Fünfmeterturm
den Ethikrat entdeckte. [1][Der Ethikrat], das sind drei ältere Herren von
geringer Größe, die mir gelegentlich Ratschläge in Fragen praktischer Ethik
geben. Der Ethikrat trug wie üblich Anzug, aber darüber hatte er weiße
Bademäntel gezogen, vermutlich als Zugeständnis an die Örtlichkeit.
„Guten Tag“, sagte ich, „geben Sie künftig Schwimmunterricht?“, denn d…
Rat war immer aufgeschlossen für neue Tätigkeitsfelder. „Nein“, sagte der
Ethikratsvorsitzende entschieden, „wir bieten hier philosophische
Begleitung im Umgang mit Furcht“, und er nickte einem der beiden anderen
Ratsmitglieder zu, die in der Regel schwiegen. Das Ratsmitglied hob ein
Schild in die Höhe: „Vom Umgang mit der Furcht“, stand darauf. „Erfahrene
Philosophen beraten Sie vor Ort.“ „Oh“, sagte ich überrascht, „ist das…
kostenloses Angebot?“, denn in der Regel war der Ethikrat dringend auf
Einnahmen angewiesen. „Natürlich nutzen wir die Notlage der Menschen nicht
aus, Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende verstimmt, und ich schwieg
beschämt.
Tatsächlich traf sich das mehr als glücklich für mich, denn ich war
bankrott und mein Beratungsbedarf in Sachen Furcht groß. „Vielleicht geht
ihr schon einmal zu den Rutschen“, sagte ich zu den Kindern, die
interessiert die Schwimmnudeln betrachteten, die der Rat neben sich
aufgetürmt hatte. Die Kinder gingen, und mit ihnen ging vorübergehend eine
meiner Ängste, denn ich hatte ihnen gegenüber behauptet, ich würde bei
Gelegenheit das erste Mal vom Fünfmeterbrett springen. Aber es blieben
genügend andere. Vor Kurzen hatte ich endgültig erkannt, dass meine Furcht
zu groß ist, um mich in die Unerbittlichkeit des Autoverkehrs zu wagen.
„Ich finde es demütigend, Angst vor etwas zu haben, wovor Millionen keine
Angst haben“, sagte ich zum Ethikrat. „Nahezu jeder und jede scheint in der
Lage, eine Autobahnauffahrt zu bewältigen, aber für mich ist es
grauenhaft.“ Die beiden schweigenden Ratsmitglieder begannen, die
Schwimmnudeln in farblich passende Bündel zu sortieren, aber wenigstens der
Ratsvorsitzende betrachtete mich vage interessiert. „Es wurmt mich“, sagte
ich, „aber ist es ein Selbstzweck, seine Furcht zu überwinden? Ich meine,
in Zeiten des Klimawandels muss man ja nicht unbedingt mit dem Autofahren
anfangen.“
## Furchtübung auf dem Fünfmeterbrett
„Ich möchte hier auf Aristoteles verweisen“, sagte der Ratsvorsitzende,
„demzufolge es bei der Angst und überhaupt bei den Erlebnissen von Lust und
Unlust ein Zuviel und ein Zuwenig gibt.“ Er wurde von den zurückkehrenden
Kindern unterbrochen. „Springst du jetzt?“, fragten sie, aber es war keine
Frage, und sie betrachteten mich mit der Miene von Katzen, die einer Maus
Mut zusprechen, denn sie kennen meine unfassbare Angst vor Sprungbrettern.
Ich tat so, als hörte ich sie nicht. „Und wo zwischen zu viel und zu wenig
Angst soll ich mich bitteschön ansiedeln?“, fragte ich pampig. Der
Ratsvorsitzende lächelte milde.
„Das entscheiden nur Sie“, sagte er. „Aber wir laden Sie ein, sich in ein…
praktischen Übung mit der Furcht auseinanderzusetzen“, und er wies
einladend auf das Fünfmeterbrett. „Wir haben auch eine Handreichung für
Sie“, fügte er noch hinzu und gab mir ein kleines eingeschweißtes Blatt.
„Das Schreckliche ist leicht zu ertragen“, las ich.
Meine Knie zitterten. Sie zitterten unmäßig. Die Kinder betrachteten
mitleidig die sehr lange Treppe zum Turm. Da ergriff jemand meine Hand. Es
war eines der Ratsmitglieder, die immer schwiegen. Es reichte mir eine
grüne Schwimmnudel, wir stiegen auf den Sprungturm und dann sprangen wir
herab, Hand in Hand, mitten ins Schreckliche.
30 Apr 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Friederike Gräff
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