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# taz.de -- Kommunikation und Kinderspiele: Der Zwang zum moralisch Richtigen
> Soll man was tun müssen, was man nicht mag. Auch wenn es was Gutes ist?
> Das ist eine Abwägung zwischen Autonomie und Vorbildfunktion, sagt der
> Ethikrat.
Bild: Genug Eventcharakter für Kindergeburtstage: Luftschlangen
Kürzlich stand ich im Tierfuttergeschäft, als ich den Ethikrat in der
Abteilung „Hundesnacks und -leckerlis“ stehen sah. Der Ethikrat, das sind
drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in
Fragen praktischer Ethik geben. Vor dem Regal stand der Vorsitzende und
eines der Ratsmitglieder, die in der Regel schweigen. Aber als ich mich
umwandte, sah ich das andere Mitglied vor der Tür stehen. Es hielt drei
dickliche schwarze Pudel an der Leine, die erwartungsfroh zu ihm
hochschauten.
„Arbeiten Sie jetzt als Hundesitter?“, fragte ich und bereute die Frage
direkt, weil sie die prekären Finanzen des Ethikrats in den Vordergrund
rückte.
Der Ethikrat war unbeeindruckt. „Wir verbinden hier ein Nebeneinkommen mit
der mentalitätsgeschichtlichen Untersuchung eines moralisch bedeutsamen
Konzepts“, sagte der Ratsvorsitzende. „Oh ja“, sagte ich, „welches ist …
denn?“ „Die Treue“, sagte der Ratsvorsitzende. Er hielt eine Tüte mit der
Aufschrift „Hühnerbrust-Kaurolle“ in die Höhe. „Wir evaluieren die
Faktoren, die für eine Verlagerung des Zugehörigkeitsgefühls sorgen.“ Die
Pudel betrachteten die Tüte interessiert.
„Ist das nicht deprimierend?“, fragte ich. Vielleicht war das nicht die
einzig mögliche Sichtweise, aber mir schienen die Zeiten trostlos und der
Bedarf an weiteren Ernüchterungen gering. „Ich weiß nicht“, sagte ich,
„gerade scheint mir, dass man nicht weiß, was man tun soll in diesem Meer
von Unglück. Man versucht, ein paar geringfügig richtige Dinge zu tun und
dann sind selbst die zweifelhaft.“ „Hätten Sie da ein Beispiel?“, fragte
der Ratsvorsitzende, der ein Feind unpräziser Argumentation ist.
Ich dachte an die Geburtstagsfeier des jüngeren Kindes, die ich ohnehin
fragwürdig fand, weil sie mit einem Besuch eines Jump Houses verbunden war.
Das lag daran, dass das größere Kind auch dorthin gedurft hatte, aber das
zeigte nur, dass wir an dieser Stelle falsch abgebogen waren. Und zwar zu
jener Gattung Kindergeburtstag, die ohne Not [1][einen Eventstandard]
einzieht, den man sich leisten können muss. Aber was mich noch mehr
beschäftigte, war die Tatsache, dass ich das Kind gedrängt hatte, eine aus
der Ukraine geflüchtete Klassenkameradin einzuladen.
„Ich mag sie nicht besonders“, hatte mein Kind gesagt und ich hatte
geantwortet, dass es für das ukrainische Kind bitter sein müsse, nie zu
Geburtstagen eingeladen zu sein, und dass mein größeres Kind bei dem Fest
die Betreuung übernehmen könne. „Es ist doch sinnvoller, wenn unser Kind in
den Pausen mehr mit ihr spielt, statt sie jetzt unfreiwillig einzuladen“,
hatte mein Freund eingewandt. Das stimmte und war zugleich
wirklichkeitsfremd, denn warum sollte unser Kind mit dem ukrainischen
Mädchen spielen, wenn es es nicht mochte?
Das ukrainische Kind wurde eingeladen. Mein eigenes, großes Kind war krank
und fiel als Betreuung aus, das kleinere kümmerte sich ein bisschen; im
Großen und Ganzen wirkte der ukrainische Gast ganz zufrieden. Die Mutter
blieb beim Abholen noch ein bisschen und unterhielt sich über Google
Translator mit einer anderen Mutter. Und doch war unübersehbar: Es war
nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen den Kindern.
„Ist es richtig, das eigene Kind im Sinne des Richtigen zu übertölpeln?“,
fragte ich den Ratsvorsitzenden. „Wir müssen hier zwischen Vorbildfunktion
und Autonomie abwägen“, sagte er und schien meine unwissenschaftliche Frage
mit einer echten Antwort würdigen zu wollen. Aber da entrissen ihm die
Pudel die Hühnerbrust-Kaurolle und drängten zu einer winzigen Frau mit
silbernen Locken, die ihnen vor der Scheibe des Ladens zuwinkte.
20 Feb 2023
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## AUTOREN
Friederike Gräff
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