# taz.de -- Buch über das Schicksalsjahr 1923: Wo bleibt das Negative? | |
> Mark Jones schildert in „1923“ Chaos und Stabilisierung der Weimarer | |
> Republik und versucht eine lange Tradition der Demokratie freizulegen. | |
Bild: Im Januar des Krisenjahres 1923 besetzten die Franzosen das Ruhrgebiet | |
[1][Das Jahr 1923] ist im kollektiven Gedächtnis mit dem gescheiterten | |
Putsch von Hitler und Ludendorff am 9. November in München verbunden – und | |
mehr noch mit der Hyperinflation. Die traf Arbeiter und Ärmere besonders | |
hart. Kinder wuchsen wegen Mangelernährung weniger, die Kleinkriminalität | |
explodierte, die Selbstmordrate bei jungen Frauen stieg. | |
Abgespeichert wurde die Inflation als Enteignung von Teilen des Bürgertums | |
(während andere extrem reich wurden) und somit als eine Bedingung für 1933. | |
Thomas Mann schrieb 1942, dass „ein gerader Weg vom Wahnsinn der Inflation | |
zum Wahnsinn des Dritten Reiches führte“ und „die ausgeräuberten Deutschen | |
zu einer Nation von Räubern wurden“. | |
Mark Jones’ Studie über das Jahr 1923 setzt einen anderen Akzent. Inflation | |
und Hitler-Putsch kommen zwar ausführlich vor, ebenso die politischen | |
Wirren. Die politische Mitte aus Liberalen, SPD und katholischem Zentrum | |
mühte sich mehr schlecht als recht um die Rettung der Republik. | |
In Berlin wechselten hektisch die Regierungen. Mit Josef Wirth, Wilhelm | |
Cuno und Gustav Stresemann gaben sich drei Kanzler die Klinke in die Hand. | |
Die militant antisemitische Rechte, auf deren Konto Ende [2][1922 die | |
Ermordung von Walther Rathenau] gegangen war, wurde von der Justiz | |
glimpflich behandelt. | |
## Eine Ereignisgeschichte | |
Wie tief demokratiefeindlich der deutsche Katholizismus zum Teil war, | |
zeigte der Münchener Kardinal Faulhaber, der die Novemberrevolution 1918 | |
zum Hochverrat erklärte. Die KPD suchte 1923 vergeblich und zum letzten Mal | |
per gewaltsamem Putsch ein deutsches 1917 zu reinszenieren – der Versuch | |
endete mit dem Hamburger Aufstand als blutige Farce. | |
Am Ende des Jahres hatte die Republik den rechten Terror, die Verarmung und | |
das letzte Aufflackern des linken Putschismus mit Wunden überstanden. Die | |
Hyperinflation verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Am Horizont | |
tauchte der Dawes-Plan auf, der das Versailler Schuldenregime für die | |
deutsche Demokratie erträglich machte. | |
In den Fokus rückt bei Mark Jones die Ruhrbesetzung durch französisches | |
Militär, das spektakulärste Ereignis des Jahres. Dem entspricht die Form | |
des Buches: eine chronologisch erzählte Ereignisgeschichte, für jeden Monat | |
ein Kapitel. Die Chronik ist keine kreativere dramaturgische Inszenierung. | |
Jones versteht es allerdings, dieses enge Korsett erzählerisch mit Mitteln | |
zu weiten, die an filmische Drehbücher erinnern. So wechseln Totalen, die | |
Überblick verschaffen, mit Nahaufnahmen, die das Geschehen journalistisch | |
und dicht vor Augen führen. | |
## Gewalt gegen Frauen | |
Man liest detailliert von der Vergewaltigung, die drei französische | |
Soldaten während der Ruhrbesetzung am 6. Mai 1923 bei Hattingen verübten. | |
Sie drangen nachts in das Haus der Familie Böhme ein, schlugen den Mann | |
ohnmächtig und vergewaltigen die Frau mehrmals mit äußerster Brutalität. Es | |
gab rund 70 dokumentierte Vergewaltigungen durch französischen Soldaten | |
während der Ruhrbesetzung. | |
Jones zeigt, dass diese Übergriffe exakt parallel zu Gewaltakten der | |
französischen Armee gegen den passiven Widerstand der Deutschen verliefen – | |
und verschwanden, als die Gewalt der Besatzer nachließ. Die | |
Vergewaltigungen waren keine spontanen zufälligen Übergriffe, sondern | |
Machtdemonstrationen, die vom französischen Militär kaum geahndet wurden. | |
Auch deutsche Männer nutzten Frauen als Objekte für Inszenierungen. Die | |
sogenannten Scherenklubs bestraften Frauen, die Beziehungen zu | |
französischen Soldaten unterhielten. Jones liest dieses Phänomen als „Krise | |
deutscher Männlichkeit“, die durch die Ruhrbesetzung und die Drohung | |
entstand, den Westen dauerhaft von Deutschland abzutrennen. | |
Die Vergewaltigungen, mitunter vor den Augen deutscher Männer, und die | |
Demütigungen deutscher Frauen durch die Scherenklubs waren komplementäre | |
Erscheinungen. Die besten Passagen von „1923“ verknüpfen | |
Alltagsschilderungen mit analytischen Blicken. | |
## Ein Deutungsversuch | |
Die Ruhrbesetzung war eine Rache Frankreichs für den Ersten Weltkrieg, für | |
die Verwüstung, die Deutschland in Nordfrankreich angerichtet hatte. Als | |
böser Geist erscheint in „1923“ der französische Ministerpräsident Raymo… | |
Poincaré, der, gegen den Widerstand der klügeren Briten, die Ruhrbesetzung | |
forcierte, ohne zu begreifen, dass er damit die zerbrechliche deutsche | |
Demokratie riskierte. | |
Der passive Widerstand der Deutschen war nicht minder kurzsichtig. Denn er | |
führte direkt in den wirtschaftlichen Kollaps – und, weil die | |
Reichsregierung die Streikenden im Revier finanzieren musste, in die als | |
Katastrophe erlebte Inflation. Die Besetzung und der passive Widerstand | |
schadete beiden Ländern gleichermaßen. | |
Wenig überzeugend ist indes Jones’ Versuch, 1923 zum „größten Erfolg der | |
deutschen Demokraten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ zu | |
stilisieren. Das Bild in „1923“ ist viel zu ambivalent für Urteile mit | |
Superlativ und Ausrufezeichen. | |
Die Zwiespältigkeit dieses Jahres brachte der Historiker Friedrich Meinecke | |
einst weit treffender auf die Formel, dass die Hoffnungen der | |
Rechtsextremen auf Umsturz zwar schwanden. „Aber die innere Verhärtung | |
gegen die neue Zeit ist nach meinen Betrachtungen eher noch starrer und | |
bitterer geworden“. | |
## Tradition der Demokratie? | |
Die Deutschen, findet Jones, ganz im Einklang mit Bundespräsident | |
Frank-Walter Steinmeier, sollten „mehr über die lange Tradition der | |
Demokratie in ihrer Geschichte wissen“. Es mag sein, dass 1933 lange den | |
Blick auf die demokratischen Möglichkeitsräume der Weimarer Republik | |
versperrt hat. | |
Der Historiker Robert Gerwarth hat in „Die größte der Revolutionen“ die | |
Novemberrevolution überzeugend rehabilitiert und die vitale, demokratische | |
Energie der deutschen Demokratie in den Vordergrund gerückt. Doch nun ein | |
neues, positives Gegennarrativ zu etablieren und die Weimarer Republik zu | |
feiern, wo es irgendwie vertretbar scheint, ist unbrauchbar. Eine | |
staatspädagogisch überformte Demokratiegeschichte, die uns zwanghaft | |
ermuntern will – wem ist denn damit gedient? | |
17 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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