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# taz.de -- Parteitag der Grünen: Der Elefant im Raum
> Wahrscheinlich werden die Grünen mit der Union koalieren. Das wird kein
> mutiger Aufbruch, sondern eine zaghafte Modernisierung des Status quo.
Bild: Wie viel grün ist noch übrig in einer Koalition mit der Union?
Auch an diesem Wochenende werden die Grünen den Elefanten im Raum wieder
ignorieren. Wenn sie sich zu ihrem digitalen Parteitag treffen, um ihr
Wahlprogramm zu beschließen und die etwas [1][gerupfte Annalena Baerbock]
als Kanzlerkandidatin zu bejubeln, wird viel von „Aufbruch“, „Erneuerung�…
und „Mut“ die Rede sein.
Der Elefant im Raum, das Problem, über das tunlichst geschwiegen wird, ist
die sehr wahrscheinliche und von führenden Grünen schon antizipierte
Aussicht, dass die Partei am Ende mit CDU und CSU koalieren wird. Mit
Partnern also, die auf Erneuerung so viel Lust haben, wie die Grünen auf
die x-te Bild-Schlagzeile zu angeblich skandalösen Benzinpreisen. Annalena
Baerbock tut so, als laufe sie über einen Regenbogen einer bunten Zukunft
entgegen. Aber am Ende wartet kein Topf voll Gold, sondern Alexander
Dobrindt.
Über diese Wahrheit spricht man lieber nicht, und zwar nicht nur, um die
wenigen Restlinken, Degrowth-Fans und puritanischen Ökos zu halten, die
noch grün wählen. Zu einer ehrlichen Betrachtung gehörte auch, dass dieses
Bündnis eben keinen mutigen Aufbruch verspricht, sondern nur eine behutsame
Modernisierung des Status quo.
Schwarz-Grün ist der Pakt zwischen altem und neuem Bürgertum. Der
55-jährige Ingenieur aus Baden-Württemberg würde plötzlich von Baerbock
regiert, die hippe Ökolinke aus Berlin-Kreuzberg von Armin Laschet. Wie
sich das gesellschaftspolitisch auswirkt, ist offen. Einerseits wird man
sich schwerlich wegen Gendersternchen streiten können, wenn man gemeinsam
Gesetze formuliert. Ein paar hässliche Kulturkämpfe könnten also
heruntergedimmt werden. Andererseits wird das Narrativ der AfD gestärkt,
die angeblichen Systemparteien seien alle gleich.
## Realistisches Erwartungsmanagement wäre angebracht
Entscheidender sind die sozialen und ökonomischen Fragen. Die Grünen werden
auf ihrem Parteitag ein inhaltliches Feuerwerk zünden, Dutzende
Abstimmungen über das eigene Programm stehen an. Ihre euphorischen
Versprechen wecken riesige Erwartungen bei den ökologisch interessierten
Teilen der Öffentlichkeit, dabei wäre ein etwas realistischeres
Erwartungsmanagement angebracht. Ein Großteil der Ideen wird in der
Koalition mit CDU und CSU nämlich nie das Licht der Welt erblicken.
Es wird mit CDU und CSU keinen Abschied von Hartz IV geben, also keine
sanktionsfreie Grundsicherung und auch keine Regelsätze von 603 Euro. Es
wird keine Bürgerversicherung geben und auch keinen Mindestlohn von 12
Euro, außerdem keine Kindergrundsicherung, keine Vermögensteuer, keine
Abschaffung des Ehegattensplittings, keinen Klimapass für Geflüchtete,
keine Änderung des Transsexuellengesetzes und keine echte Abkehr von der
Schuldenbremse, also kein Geld für all die grünen Investitionswünsche, die
viele Milliarden Euro kosten.
Die Liste ließe sich fortsetzen bis zur letzten Zeile dieses Textes. Aus
grüner Sicht ist Schwarz-Grün eine Nicht-Ermöglichungs-Koalition. Aber
angesichts dessen, dass selbst linke Grüne nicht mehr an Grün-Rot-Rot
glauben und eine Ampel unwahrscheinlich ist, wird man selbstverständlich
das Gegenteil behaupten.
Ein valides Projekt gibt es ja: die Versöhnung von Ökologie und Wirtschaft.
Die deutsche Wirtschaft hat längst verstanden, dass es in Zukunft ohne
Klimaschutz nicht gehen wird. Aus dem Ökothema, das früher als
postmaterielles Sahnehäubchen galt, ist eine zutiefst materielle Frage
geworden: Wer nicht mitzieht, geht unter.
## Rückhalt der Grünen in der Wirtschaft ist groß
Das haben deutsche Autokonzerne wie VW verstanden, die sich an der
chinesischen E-Auto-Quote orientieren, die Stahlindustrie ebenfalls, die
schon mit grünem Wasserstoff plant, und der Handwerker, der in bayerischen
Dörfern Solarzellen auf die Dächer pflastert, sowieso. Bei der Aufregung
über Baerbocks aufgehübschten Lebenslauf geht unter, wie groß der Rückhalt
der Grünen in der Wirtschaft inzwischen ist. Viele CEOs können sich
inzwischen eher die Grüne im Kanzleramt vorstellen als CDU-Mann Laschet.
Sie wissen, dass Rendite und Jobs inzwischen an Klimaschutz hängen.
Aber die sanfte, schwarz-grüne Wirtschaftswende produziert harte
Widersprüche – und viele Verlierer. Um es mal old school zu sagen:
KapitalistInnen haben kein Problem damit, Geld mit Öko zu verdienen statt
mit fossilem Energieverbrauch. Aber der Allgemeinheit vom Reichtum abgeben,
die die Unternehmen in der Pandemie mit viel Steuergeld unterstützt hat? Da
sei Gott (und Markus Söder) vor.
Mit Schwarz-Grün wird es deshalb keine fairere Reichtumsverteilung geben.
Nicht nur, weil sich die Union seit jeher als Interessenvertretung der
Vermögenseliten versteht, sondern auch weil die Grünen den Konflikt
umschiffen. Sie brauchen ja die milliardenschweren Unternehmerdynastien für
ihre Ökowende, die Familie Quandt, der ein Großteil von BMW gehört, soll
nicht verärgert werden.
Die moderat linken Steuerpläne waren das Erste, was bei den Sondierungen
über Schwarz-Grün 2013 und über Jamaika 2017 in den Papierkorb wanderte.
Die Grünen gaben in Windeseile klein bei. Die harsche Spaltung in Arm und
Reich zu ignorieren, ist für eine Partei, die gleichzeitig steigende Mieten
skandalisiert, schwer zu rechtfertigen. Viel Geld bedeutet viel Macht.
Reiche und Superreiche haben mehr Einfluss und mehr Möglichkeiten, ihre
Interessen durchzusetzen.
## Fortschritte in Sozialpolitik werden überschaubar sein
Armut wiederum prägt und mindert nachweislich Lebenschancen, auch die der
Kinder und Kindeskinder. Eine gleichere Gesellschaft wäre zudem
glücklicher. Das haben die Epidemiologin Kate Pickett und der
Wirtschaftshistoriker Richard Wilkinson schon vor zehn Jahren in ihrer
empirischen Studie „The Spirit Level“ gezeigt.
Menschen in Ländern mit einer weniger schroffen Spaltung sind zufriedener.
Sie werden älter, sind gesünder und vertrauen sich gegenseitig eher. Es
gibt weniger Drogenabhängige, weniger Mörder, weniger Übergewichtige.
Eigentlich müssen die Grünen gerade in der Coronapandemie mit aller Kraft
für mehr Gleichheit kämpfen, weil sie Gesellschaften widerstandsfähiger
macht. Wer internationale Ungleichheit und zu wenig Ausgaben für
Entwicklungspolitik geißelt, kann Ungleichheit im eigenen Land nicht
ignorieren.
Die Grünen werden solche Argumente ausblenden, mit Bauchschmerzen und nicht
ohne öffentlich groß beworbene Trostpflaster. Aber Hartz-IV-EmpfängerInnen
werden dem schwarz-grünen Zug hinterherschauen, der mutig in die Zukunft
düst. Wenn Markus Söder schwärmt, beide Kräfte hätten die ganz großen
Fragen im Blick, die Versöhnung von Ökologie und Ökonomie, muss man
ergänzen: Die Versöhnung der Wohlhabenden mit denen da unten ist nicht
geplant.
Während progressive Fortschritte in der Sozial- oder Verteilungspolitik
überschaubar sein werden, sind sie in einem anderen Bereich so gut wie
gesetzt. Die Grünen werden keinen Koalitionsvertrag unterschreiben können,
der das Pariser Klimaschutzziel nicht einhält.
## Auf die Union wartet Clash mit der Realität
Es gibt hier einen gewissen Korridor, nicht umsonst sprechen Grüne etwas
vage vom „1,5-Grad-Pfad“, auf den man kommen müsse. Aber diese Koalition
wird die erste sein, die sich an der unerbittlichen physikalischen Realität
messen lassen muss. Den Grünen ist das klar, für sie geht es bei dieser
Wahl bei ihrem Herzensthema um alles.
Aber CDU und CSU steht ein Clash mit der Realität bevor. Nachdem das
Verfassungsgericht im April in einem wegweisenden Urteil festgelegt hat,
dass Politik beim Klimaschutz auch Freiheitsrechte künftiger Generationen
berücksichtigen müsse, haben sie in Rekordzeit ein neues Klimaschutzgesetz
aufgelegt. In den Zielen liegen sie nicht mehr weit von den Grünen
entfernt, auch wenn das im Wahlkampfirrsinn dieser Tage gern – und oft
bewusst – vergessen wird. Die einen wollen den CO2-Ausstoß bis 2030 um 65
Prozent mindern, die anderen um 70 Prozent.
Allein CDU und CSU fehlt – einzelne FachpolitikerInnen ausgenommen – bisher
jede Idee, wie der Weg dahin aussehen könnte. Die konkreten Maßnahmen sind
aber entscheidend. Die Union hat eine Revolution unterschrieben, von der
sie noch nicht weiß, wie sie sie umsetzen will. Dem
Immer-mit-der-Ruhe-Christdemokraten Armin Laschet wird die Tragweite des
Karlsruher Urteils klar sein, aber er hat keine Politik und keine Erzählung
dafür gefunden.
Als Annalena Baerbock neulich die Banalität aussprach, dass ökologische
Preispolitik auch das Benzin verteuert, verfiel Laschet in die alten
Reflexe der Illusion ungebremsten fossilen Konsums. Obwohl er selbst in
Interviews für einen höheren CO2-Preis warb, dessen Sinn es ist, Heizöl,
Diesel und Benzin zu verteuern, kritisierte er höhere Benzinpreise.
## In der Theorie dafür, in der Praxis dagegen
In der Theorie dafür, in der Praxis dagegen, diese Strategie funktioniert
vielleicht in einem von der Bild-Zeitung befeuerten Schlagabtausch. Aber
für eine Volkspartei, die stolz auf ihren Pragmatismus ist, ist sie schwer
durchzuhalten.
Normalerweise neigt die Union zu gemütlicher Behäbigkeit, der
Konservatismus zieht aus dem Bewahren seine Daseinsberechtigung.
Ausgerechnet CDU und CSU müssten aber in der nächsten Legislatur enorme
Veränderungen anschieben, wenn sie ihre Willenserklärung ernst nehmen.
Wie das ausgeht, ist noch nicht sicher. Führende Grüne waren in den
Jamaika-Sondierungen 2017 verblüfft, wie bereitwillig CDU-Leute schön
klingende Überschriften unterschrieben, sich dann aber erbittert gegen die
konkrete Umsetzung wehrten.
Dieses Spiel könnte sich im Herbst mit anderer Besetzung wiederholen. Wenn
die Union beim Klimaschutz riesige Zugeständnisse an die Grünen macht, wird
sie anderswo Erfolge brauchen. Mit Schwarz-Grün könnte deshalb eine
[2][beinharte Flüchtlings- oder Innenpolitik] drohen.
Ein Selbstläufer ist das Bündnis deshalb nicht, aber die Koalitionen in
Baden-Württemberg und Hessen zeigen, dass man im Zweifel auch große
Widersprüche geräuschlos wegregieren kann. Winfried Kretschmann ist dann
eben für eine Kaufprämie für Verbrenner, aber irgendwie auch für die
ökologische Verkehrswende.
Den Grünen steht das bevor, was die SPD lange ertragen hat: eine
ordentliche Portion Selbstverleugnung, um kleine Fortschritte zu erreichen.
12 Jun 2021
## LINKS
[1] /Nach-Kritik-an-unkorrekten-Angaben/!5776580
[2] /Fluechtlingspolitik-im-Gruenen-Programm/!5762707
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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