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# taz.de -- Umverteilung der Steuerlast: Ran an die Obermittelschicht!
> In der Umverteilungspolitik fordern die Parteien viel zu wenig. Die
> höhere Mittelschicht muss mit ins Boot genommen werden.
Bild: Die obere Mittelschicht muss von ihrem Kuchen ein Stückchen abgeben
Die obere Mittelschicht kann unsympathisch sein, jedenfalls aus der
Perspektive von [1][Sophie Passmann]. „Immer, wenn ich mit solchen Menschen
Zeit verbringe, die allem Anschein nach ihr Leben nur bis zur
Erstausschüttung des Erbes ihrer Eltern geplant haben, denke ich Nazis“,
schreibt Sophie Passmann in ihrem Bestseller „Komplett Gänsehaut“. Die
Erbengesellschaft, die „obersten zehn Prozent“, das ist ein Milieu, das
„stinkt vor Geld“, wie Passmann in einem Interview sagte.
Das Gegenstück zu den vermögendsten 10 Prozent stellt die besitzlose
„[2][Working Class]“ dar im gleichnamigen Buch von Julia Friedrichs. Dazu
gehören ein Putzmann in U-Bahnhöfen, eine freiberufliche Musiklehrerin, ein
prekär beschäftigter Marktforscher. Es sind „Menschen, die keine
Unternehmensanteile halten, über keine Mietshäuser verfügen, keine
Erbschaften erwarten, denen keine Windräder gehören, nicht mal Fonds für
die Altersvorsorge“, schreibt Friedrichs. Diese Hälfte werde zu wenig
gehört, meint sie.
Ist das die neue soziale Spaltung, die sich auftut in Deutschland? Die
Spaltung zwischen Vermögenden und Erben einerseits und besitzlosen
ArbeitnehmerInnen und Kleinselbstständigen andererseits? Wenn dem so ist,
müsste auch hier jede [3][Umverteilungspolitik] ansetzen.
Umverteilungspolitik, die im Wahlkampf 2021 von den Parteien propagiert
wird. Wer sich die Wahlprogramme der Parteien anschaut, dem fällt aber auf:
Die obere Mittelschicht mit ihrem erheblichen Privatbesitz wird ziemlich
geschont. Die SPD will laut Wahlprogramm eine [4][Vermögensteuer] von
jährlich 1 Prozent für „sehr hohe Vermögen“ einführen. [5][Die Grünen]
sprechen sich für eine Vermögensteuer von 1 Prozent aus, wobei Freibeträge
von 2 Millionen Euro pro Person gelten sollen. Die Linkspartei will
Vermögen von über 1 Million Euro mit einem Satz ab 1 Prozent besteuern, der
dann erst bei hohen Vermögen steigt.
## Bis zu einer Million Euro schonungsbedürftig
In Sachen Erbschaftsteuer sind SPD und [6][Linke] lediglich dafür, die
privilegierte Freistellung für Erben von Betriebsvermögen einzuschränken.
Wer etwas unter 1 bis 2 Millionen Euro besitzt, pro Person wohlgemerkt,
gilt also noch als schonungsbedürftig. Früher war man weniger zimperlich
im Umgang mit Wohlhabenden. Wer ein langes politisches Gedächtnis hat,
erinnert sich noch an die Ideen der Grünen in den 90er Jahren, die
Erbschaftsteuer auf 30 Prozent anzuheben. Bis 1996 gab es die
Vermögensteuer:
Sie betrug jährlich 1 Prozent auf ein Vermögen, das die Freigrenze von pro
Person 120.000 Mark, also umgerechnet etwa 60.000 Euro, überstieg
(inklusive Immobilien). Die historische Inflation berücksichtigt, müsste
ein entsprechender Freibetrag heute bei 84.000 Euro liegen. Doch die
Forderung nach einer Vermögensteuer von 1 Prozent auf alle Vermögen über
84.000 Euro käme heute einem politischen Selbstmord gleich.
Wie kommt es zu dieser Schonung von Vermögenden, von denen viele rein
statistisch schon zur Oberschicht zählen? Nach der Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe (EVS) gehören Haushalte mit einem Vermögen ab 477.000
Euro (inklusive Immobilien) rechnerisch zum reichsten Zehntel der
Gesellschaft.
Wer aber etwa mit einer Erbschaft in Berlin eine Eigentumswohnung für
500.000 Euro erwirbt, um mit der eigenen Familie dort einzuziehen, wird
argumentieren, dass das Erbe ja nur für das Nötigste reicht, nämlich die
Wohnung, und dass deshalb keinesfalls eine alljährliche Besitzsteuer
erhoben werden sollte.
## Immobilien für den Eigenbedarf zählen nicht
Im [7][Wahlprogramm 2021 der Linkspartei] heißt es, dass die Vermögensteuer
auch jene nicht belasten sollte, die „etwa mit einer Eigentumswohnung in
der Innenstadt lediglich ‚Papier-Millionäre‘ “ seien. „Dies ist
insbesondere wegen der Entwicklung der Immobilienpreise wichtig“, so das
Linken-Programm. Der große besitzsteuerfreie Schonbereich wird also mit
steigenden Kosten für einen Lebensstandard, den man als mittelschichtig
empfindet, gerechtfertigt.
Die reichsten 10 Prozent empfinden sich auch kaum als „Oberschicht“,
sondern eben als Mittelschicht. Diese Verschiebung der Selbstwahrnehmung
ist entscheidend für die Verteilungsdebatte in Deutschland. In den Milieus
der oberen Mittelschicht herrscht nicht das Bewusstsein vor, privilegiert
zu sein. Es mischen sich vielmehr Absturzängste, die Furcht vor steigenden
Lebenshaltungskosten mit der Abwehr von höheren Steuern und Abgaben.
Ein Grund für diese Ängste ist die Metropolisierung, die das Wohnen viel
teurer macht: Doppelverdienende Paare bevorzugen Metropolen, denn dort
lassen sich am leichtesten Arbeitsplätze für beide Elternteile und
Kitaplätze finden. Der Zuzug wiederum verschärft die Konkurrenz um
Wohnungen. Wenn [8][bezahlbare Mietwohnungen in den Metropolen] knapp
werden, wird es zur Existenzfrage, ob man sich eine Eigentumswohnung
leisten kann, am besten mithilfe einer Erbschaft, oder eben nicht.
Das durchschnittliche Nettovermögen von Haushalten, die bereits geerbt
haben, ist mit 470.000 Euro mehr als doppelt so hoch wie das von Haushalten
ohne Erbschaft mit 185.000 Euro, heißt es im neuen [9][Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung]. Ein weiterer Grund für die Ängste
der Wohlhabenden ist der Druck, für das Alter viel Vermögen aufbauen und
halten zu müssen. Die Appelle der Politik, dass private Altersvorsorge
unerlässlich sei, weil die gesetzliche Rente nicht ausreiche, verstärken
diesen Druck.
## Steigende Angst vor Altersarmut
Angesichts der Verlustängste der Wohlhabenden ist es politisch
verführerisch, nur Geld bei den besonders Reichen abzuschöpfen und die
„Obermittelschicht“ sicherheitshalber in Ruhe zu lassen. Zumal es von den
sehr Reichen auch nicht sehr viele gibt und der rechnerische Verlust an
Wählerstimmen daher begrenzt wäre.
In einer [10][Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)
aus dem Jahr 2016] errechneten die ForscherInnen, dass nur 400.000
Haushalte, also etwa 1 Prozent der Haushalte in Deutschland, betroffen
wären, würde man eine Vermögensteuer von 1 Prozent ansetzen und dabei
Vermögen unter einem Freibetrag von 1 Million Euro pro Person
unberücksichtigt lassen.
Würde man den Freibetrag für Privatvermögen, das in Betrieben steckt, auf 5
Millionen Euro festsetzen, kämen insgesamt etwa 10 Milliarden Euro an
Einnahmen aus der Vermögensteuer zusammen. Das ist nicht viel angesichts
der hohen Staatsverschuldung. Eine noch höhere Besteuerung von sehr wenigen
Superreichen stieße auf verfassungsrechtliche Probleme.
Wer etwa, wie die Linkspartei, 5 Prozent jährliche Vermögensteuer auf
Besitz im Wert von über 50 Millionen Euro fordert, nimmt eine
„Teilenteignung“ vor, und deren systemische Folgen muss man bis zum Ende
durchdenken. Die großen Vermögen stecken in Betrieben, und dort geht es um
Investitionen und um Arbeitsplätze. Es wäre sinnvoll, in die Vermögen- und
Erbschaftsteuer auch die Obermittelschicht einzubeziehen.
Man könnte die jährliche Vermögensteuer mit 0,5 Prozent über einem
Freibetrag von 500.000 Euro pro Person beginnen lassen und ab einer Million
dann auf 1 Prozent steigern; für Betriebsvermögen müssten höhere
Freigrenzen gelten. Das würde bedeuten, dass immer noch weniger als die
obersten 5 Prozent betroffen wären. Für die Altersvorsorge Angespartes,
etwa von Selbstständigen ohne Rentenanspruch, müsste zu einem gewissen Teil
freigestellt bleiben. Noch mehr Handlungsbedarf besteht bei der
Erbschaftsteuer.
Für Kinder besteht bei der Erbschaftsteuer ein Freibetrag von 400.000 Euro
– pro Elternteil. Der überschießende Teil wird mit einem Steuersatz ab 7
Prozent versteuert. Wer etwa von den Eltern nach dem Tod von Vater und
Mutter in zwei Schritten ein Vermögen von 1 Million Euro erbt, muss dafür
nicht einmal 20.000 Euro Erbschaftsteuer entrichten. Eine selbst genutzte
Immobilie, auch wenn es sich um eine Villa handelt, bleibt darüber hinaus
grundsätzlich steuerfrei.
## Reale Umverteilung ist unpopulär
Außerdem kann ein Teil des Vermögens schon zu Lebzeiten durch Schenkungen
überschrieben werden. Auch für Schenkungen gelten hohe Freibeträge und
niedrige Steuersätze. In Familien der Ober- und Obermittelschicht ist es zu
einer Art Sport geworden, die Erbschaftsteuer zu vermeiden oder gering zu
halten durch vorzeitige Schenkungen und stufenweise Vererbung nach dem Tode
des einen, dann des anderen Elternteils.
Eine Absenkung der Freibeträge und eine Erhöhung der Erbschaftsteuersätze
sind daher überfällig, davon findet sich aber nichts Konkretes in den
Parteiprogrammen. Für vererbte Betriebsvermögen müssen höhere Freibeträge
gelten, aber die weitgehenden Befreiungen für betriebliches Vermögen, wie
es sie bisher gibt, sollten eingeschränkt werden.
Dies dürfte die Familienunternehmen auf den Plan rufen, die mit Abwanderung
und dem Verlust von Arbeitsplätzen drohen, sollte bei der Weitergabe an die
Kinder eine nennenswerte Erbschaftsteuer fällig werden. Da müsste man cool
bleiben als Partei. Reale Umverteilung ist nicht strahlend wie Robin Hood,
sondern ernüchternd und unsexy und auch nicht wirklich beliebt.
Man käme damit aber aus dem ermüdenden Schlagabtausch beim Thema
Umverteilung heraus, der oft nicht darüber hinausgeht, die gravierenden
Unterschiede zwischen Arm und Reich anzuprangern und mit dem Finger auf die
Superreichen zu zeigen, ohne dass sich irgenetwas ändert. Schwieriger ist
es, auch der Obermittelschicht den Spiegel vorzuhalten. Mutig wäre, wer
dieses politische Risiko trotzdem einginge.
16 Apr 2021
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=TcVOM04MSOE
[2] /Buch-ueber-deutsche-Working-Class/!5754580
[3] /Hoehere-Steuern-fuer-Besserverdienende/!5750625
[4] https://www.spd.de/aktuelles/vermoegensteuer/
[5] https://www.gruene.de/themen/steuern
[6] https://www.linksfraktion.de/themen/a-z/detailansicht/erbschaftsteuer/
[7] https://www.die-linke.de/wahlen/wahlprogrammdebatte-2021/wahlprogrammentwur…
[8] /Berliner-Mietendeckel/!5617933
[9] https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Startseite/start.html
[10] https://www.econstor.eu/bitstream/10419/126190/1/846572575.pdf
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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