# taz.de -- Debatte Erosion der Mittelschichten: Reich sein lohnt sich | |
> Die Mittelschichten fühlen sich benachteiligt. Das ist keine | |
> Wahrnehmungsstörung. Denn unter dem Strich zahlen sie mehr an den Staat | |
> als die Spitzenverdiener. | |
Zwiebel oder Pyramide? Welcher Vergleich beschreibt die deutsche | |
Gesellschaft besser? Diese Frage sollten kürzlich 2.000 Studenten | |
beantworten. Entworfen hatte den Test die Soziologin Jutta Almendinger. | |
Passt also noch das Bild von der gemütlichen Knolle - wo es oben und unten | |
ein paar Reiche und Arme gibt, während sich die Mitte prall rundet? Oder | |
ruht inzwischen eine schmale Oberschicht auf einem breiten Sockel von | |
Armut? Es war dieses zweite Bild der Pyramide, für das sich fast alle | |
Studenten entschieden. Das Vertrauen in die Chancengleichheit, bisher | |
zentral für die Bundesrepublik, ist offenbar tief gestört. Die | |
Mittelschicht empfindet, dass die Mittelschicht abgedankt hat. | |
Aber vielleicht leiden die Studenten ja an einer Wahrnehmungsstörung und | |
Deutschland ist gerechter, als sie meinen? Dieser Eindruck könnte | |
aufkommen, wenn man eine kürzlich veröffentlichte Studie des Deutschen | |
Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) liest, die in der Conclusio endet: | |
"Umverteilung funktioniert." Dort ist dann zu erfahren, dass die 450 | |
Deutschen mit dem höchsten Einkommen 34 Prozent Steuern zahlen. Das ist | |
zwar weit entfernt vom offiziellen Spitzensteuersatz von 45 Prozent für | |
Reiche - aber doch deutlich mehr als das, was der Rest der Bevölkerung | |
abführt. So trägt die untere Hälfte der Einkommensbezieher überhaupt nur 5 | |
Prozent zum Steueraufkommen bei. Umgekehrt zahlt das oberste Zehntel mehr | |
als die Hälfte aller Einkommensteuern. Und das oberste Prozent ist bereits | |
für ein Viertel des Aufkommens verantwortlich. | |
Fast stellt sich Mitleid mit diesen Bestverdienern ein, dass sie derart von | |
der Allgemeinheit geplündert werden. Sind es also die Reichen, die den | |
Staat tragen und die Armen füttern? Diese Optik kann nur entstehen, wenn | |
man den Blick gezielt verengt. Das DIW hat allein die individuelle | |
Steuerlast untersucht - die Sozialabgaben blieben unberücksichtigt. | |
Methodisch mag dies berechtigt sein, sind doch Unternehmensvorstände von | |
der Pflicht befreit, in die Rentenkassen einzuzahlen. Und ihre | |
Krankenversicherung können sie sich auch privat organisieren. Aber es | |
verzerrt das Bild, sich nur auf Steuern zu kaprizieren. | |
Rechnet man nämlich die Sozialbeiträge hinzu, kehrt sich das | |
Belastungsszenario um. Dann werden die Reichen geschont. Selbst | |
Geringverdiener führen relativ gesehen mehr an den Staat ab, wie eine | |
OECD-Studie der vergangenen Woche zeigt. Denn ab einem Bruttoeinkommen von | |
800 Euro monatlich werden die Sozialbeiträge in voller Höhe fällig - anders | |
als die Steuer sind sie nicht progressiv nach Verdienst gestaffelt. Und so | |
gehen denn bei einem alleinstehenden Otto Normalverbraucher 52,2 Prozent | |
seiner Arbeitskosten an die Allgemeinheit. Da ist es geradezu lächerlich, | |
was die Spitzenverdiener an Steuern zahlen. Zur Sicherheit sei es | |
wiederholt: Es sind nur 34 Prozent ihres Einkommens. | |
Wer diese Rechnung nicht glauben will, könnte einwenden, dass auch | |
Einkommensmillionäre in eine Krankenversicherung einzahlen. Stimmt. Aber | |
meist sind die Spitzenverdiener privat versichert und kümmern sich damit | |
nur um ihr eigenes Risiko - die Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen | |
hingegen kommen auch für die Gesundheitskosten der Arbeitslosen und | |
Geringverdiener auf. Doch selbst wenn die Einkommensmillionäre einer | |
gesetzlichen Kasse angehören sollten, kommen sie billig davon: Es gilt eine | |
Beitragsbemessungsgrenze von 3.600 Euro monatlich. Das sind "Peanuts" im | |
Vergleich zum restlichen Millionenverdienst, der vor dem Zugriff der | |
Sozialkassen geschützt wird. Die Umverteilung funktioniert also bestens, | |
aber von unten nach oben. Die Intuition hat die Studenten nicht getrogen, | |
dass sich der deutsche Sozialaufbau zur Pyramide entwickelt. | |
Aber es bleibt bei der Intuition. Der Skandal wird gefühlt, jedoch nicht | |
immer verstanden. Schon erklingen wieder die gut gemeinten Forderungen, die | |
Steuern für Geringverdiener zu senken - obwohl es die Sozialabgaben sind, | |
die sie so drücken. Für die Reichen ist dieses Missverständnis bequem und | |
wird von den Lobbygruppen sogar gefördert: Von jeder Steuersenkung in den | |
niedrigen Progressionsstufen profitieren auch sie. | |
Dieses Durcheinander beim Thema Sozialabgaben trübt aber nicht nur die | |
Analyse des deutschen Reichtums. Es stiftet auch Chaos, wenn es gilt, Armut | |
zu beschreiben, was vielleicht noch gefährlicher ist. Denn dieses | |
Missverständnis vom Wesen der Armut schadet nicht nur den Bedürftigen, | |
sondern ist auch eine der zentralen Ursachen, warum die Mittelschichten | |
erodieren. | |
Dazu muss man etwas ausholen: An diesem Wochenende wurde ja der 5. | |
Jahrestag von Hartz IV begangen und dabei in vielen Elogen | |
herausgestrichen, dass sich endlich die Langzeitarbeitslosigkeit reduziert | |
hätte. Es mag ja sein, dass in der Statistik nur noch 3,617 Millionen | |
Arbeitslose zu finden sind. Aber wo ist der Rest geblieben? Dieses Rätsel | |
wird noch irritierender, wenn man sich die Entwicklung der | |
sozialversicherungspflichtigen Stellen ansieht. In diesem Boom sind seit | |
Mitte 2006 rund 1,3 Millionen reguläre Jobs entstanden und nun sind es | |
27,22 Millionen. Das sieht zunächst wie eine Erfolgsbilanz aus, bis man | |
diesen Trend mit den Zahlen vom letzten Aufschwung vergleicht, der von Ende | |
1998 bis Anfang 2001 währte. Auch damals entstanden rund 1,1 Millionen | |
sozialversicherungspflichtige Jobs - und am Ende waren es damals gar 28,2 | |
Millionen. | |
Daraus sind zwei Lehren zu ziehen: Offenbar entstehen bei jedem Aufschwung | |
neue sozialversicherungspflichtige Jobs - mit oder ohne Hartz IV. Vor allem | |
aber haben die Schröder-Reformen nicht verhindern können, dass in nur sechs | |
Jahren die Zahl der regulären Stellen auf 27,2 Millionen geschrumpft ist. | |
Eine Million weniger sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, so lautet | |
die ehrliche Bilanz der Agenda 2010. Wenn jetzt plötzlich viele | |
Langzeitarbeitslose Stellen finden, dann müssen sich diese in einem | |
obskuren Niedriglohnbereich auftun. | |
Nicht jeder findet die vielen Geringverdiener problematisch. Agenda-Fans | |
wie DIW-Chef Klaus Zimmermann formulieren erfreut, "Gerechtigkeit ist | |
nicht, wenn die Leute ein paar Euro mehr haben, sondern wenn mehr Menschen | |
einen Job haben". | |
Diese Sicht empfiehlt sich jedoch nur, solange man zu den Spitzenverdienern | |
dieser Republik gehört. Dann ist es egal, wenn die Arbeit vieler | |
Niedriglöhner zur Gesamtsolidarität nichts beitragen kann. Die | |
Mittelschicht hingegen müsste es zutiefst irritieren, dass immer weniger | |
von ihnen so viel verdienen, dass sie die Lasten des Sozialstaats schultern | |
können. Das muss in weiter steigenden Beiträgen enden, solange man nicht | |
die Alternative der Fairness denkt. Sie lautet schlicht: Die Reichen | |
müssten sich ein Beispiel an der Mittelschicht nehmen und statt 34 | |
ebenfalls 52,2 Prozent ihres Einkommens an den Staat abführen - sei es, | |
dass die Spitzensätze der Einkommensteuer steigen oder eine echte | |
Bürgerversicherung eingeführt wird. Aus der Pyramide würde dann langsam | |
wieder eine Zwiebel. | |
17 Mar 2008 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
Ulrike Herrmann | |
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Umverteilung | |
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