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# taz.de -- Soziale Folgen der Pandemie: Das Virus Ungleichheit
> Die Coronakrise zeigt: Wer reich ist, muss sich kaum sorgen. Ärmere
> trifft die Krankheit härter. Forscher sprechen von einer „doppelten
> Pandemie“.
Bild: Die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft wird durch die Pandemie fort…
Zu den größten Problemen, die uns die Covid-19-Pandemie beschert hat, zählt
[1][dass wir nur noch über eines reden – über die Pandemie]. Und dabei
zumeist über Oberflächenphänomene: Wann öffnen die Friseure? Hat die
Bundesregierung im internationalen Impfstoffpoker schlecht verhandelt?
Sticht Söder am Ende doch noch Laschet aus?
[2][Die ungleiche soziale Betroffenheit durch die Pandemie] beziehungsweise
durch die herrschende Krisenpolitik ist im öffentlichen Diskurs hingegen
nur am Rande Thema. Wenn doch einmal, ist von dem Virus als dem „großen
Ungleichmacher“ die Rede, so als hätten wir es mit einer neuartigen,
eigenständigen Dynamik sozialer Spaltung zu tun, die nicht in der für diese
Gesellschaft charakteristischen Ungleichheitslogik aufgehen würde.
Doch eigentlich verweist „Corona“ nur wieder einmal auf Bekanntes. Der
Reichtum der einen ist die Armut der anderen. [3][Wer reich ist, lebt
besser und länger]; wer arm ist, muss schlechter arbeiten und früher
sterben. Und: In einer von den Ideen und Interessen der Reichen bestimmten
Öffentlichkeit kommen die Stimmen und Belange der Armen nicht vor.
Mit den „Reichen“ sind hier nicht nur die Familien Albrecht, Schaeffler und
Quandt gemeint, und „arm“ sind in dieser Gesellschaft keineswegs nur
Obdachlose oder Insass*innen von Asylheimen. [4][Reich ist in
Deutschland, wer zu den obersten Einkommens- und Vermögensgruppen zählt],
über ein hohes Maß an Autonomie in der Erwerbsarbeit verfügt,
privilegierten Zugang zu sozialer und kultureller Infrastruktur hat und
sich einer hohen Lebenserwartung erfreut. Arm hingegen sind diejenigen, für
die all dies außer Reichweite liegt: all jene Menschen also, die im
Niedriglohnsektor arbeiten, die in schlechten Wohnverhältnissen und mit
reduzierten Bildungs- und Teilhabechancen leben – und das auch noch kürzer
als die Mitglieder jener Parallelmilieus, die aller materiellen Sorgen
enthoben sind.
## Krasse soziale Ungleichheit
In dieser Gesellschaft herrscht eine krasse soziale Ungleichheit – auch
wenn die Bessergestellten und deren politische, wissenschaftliche und
mediale Lobbyist*innen dies immer wieder bestreiten. Diese soziale
Ungleichheit wird durch die Pandemie fortgeschrieben. Während von den
Haushalten mit hohem Einkommen ersten empirischen Erhebungen zufolge kaum
wirtschaftliche Sorgen bekundet werden, befürchtet mehr als ein Drittel der
Erwerbstätigen mit geringem Haushaltseinkommen im Zuge der Coronakrise
große wirtschaftliche Einbußen.
„Corona“ verschärft all jene Ungleichheitsrelationen, die die
bundesdeutsche Klassengesellschaft durchziehen. Der in Kürze zu
veröffentlichende sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
etwa weist aus, dass auf die Haushalte der unteren Hälfte der Verteilung
rund 1 Prozent des gesamten Nettovermögens entfällt, während die obersten
10 Prozent der Haushalte mehr als die Hälfte desselben auf sich vereinen.
Die in der Pandemie boomenden Aktienmärkte verstärken eben dieses Muster.
Auch die Einkommensspreizung zwischen industriellen Kernbelegschaften und
sogenannten einfachen Dienstleistungsbeschäftigungen hat 2020 weiter
zugenommen.
Gleichwohl ist unwahrscheinlich, dass mit dem politisch-medialen Fokus auf
das Virus auch das Bewusstsein für die strukturelle Ungleichheit geschärft
werden könnte. Zu sehr dominieren ungleichheitspolitische Phantomdebatten
den öffentlichen Diskurs. Ein Beispiel dafür ist die anhaltende Rede von
den „Alten“ und von „Personen mit Vorerkrankungen“ als den vorrangig zu
schützenden Gruppen – so als sei die Population der älteren Menschen nicht
sozial extrem heterogen und das Risiko der Vorerkrankung nicht eindeutig
sozial strukturiert. Wer hier nicht von Klassenunterschieden reden möchte,
sollte eigentlich schweigen.
## Legitimationsargument der Oberklasse
Denn ist es nicht zu bestreiten, dass es keineswegs „die“ Alten sind, für
die das Coronavirus eine Frage von Leben und Tod ist, sondern eben die
Armen unter ihnen. Und Vorerkrankungen, die das Risiko schwerer
Krankheitsverläufe erhöhen, betreffen nicht zufällig jene Milieus, die
wiederum alles andere als zufällig (laut den Abwertungskategorien aus dem
Legitimationsarsenal der Oberklassen) „ungebildet“ sind, sich „schlecht“
ernähren und in „billigen“ Wohnungen hausen. Übergewicht, Diabetes und
Bluthochdruck etwa steigern das Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken,
signifikant – alle drei Krankheitsbilder aber haben einen eindeutigen
sozialen Index.
Gesundheitsforscher*innen sprechen daher schon von einer „doppelten
Pandemie“. Ein 40-jähriger Zuckerkranker hat US-Daten zufolge ein ebenso
hohes Risiko, bei Infektion mit dem Coronavirus auf der Intensivstation zu
landen, wie ein gesunder 80-Jähriger. Während dieser aber mit hoher
Wahrscheinlichkeit den oberen sozialen Schichten angehören wird, entstammt
der mittelalte Diabetespatient typischerweise den Unterklassen.
Genau diese Milieus kommen in der Pandemie selbst nicht zu Wort.
Bestenfalls wird über sie geredet, und bestenfalls in bester Absicht. Mit
ihnen zu reden wäre schon zu viel verlangt von jenem juste milieu der
Privilegierten, die ihre im Sozialvergleich obszön erhöhten Lebenschancen
letztlich als irgendwie doch verdient erachten. In der Pandemie befürworten
sie mit voller Überzeugung jede Einschränkung des Alltagslebens, die für
sie selbst lebensweltlich unerheblich ist.
Geld oder Leben? Für die privilegierten Klassen ist dies keine Alternative.
Insofern lautet das sozialpolitische Gebot der Stunde nicht anders als
schon vor Corona. Mehr denn je bedürfte es im Zeichen der Pandemie einer
radikalen ökonomischen Umverteilung. Wo aber bleibt die linke
Sozialbewegung, die statt des möglichst kompletten „Lockdowns von unten“
den möglichst weitreichenden Reichtumstransfer von oben fordert?
20 Mar 2021
## LINKS
[1] /Entwicklung-der-Corona-Zahlen/!5754626
[2] /Soziale-Spaltung-in-Pandemie/!5757378
[3] /Auswirkungen-der-Coronakrise/!5730001
[4] /Neuer-Armuts--und-Reichtumsbericht/!5756171
## AUTOREN
Stephan Lessenich
## TAGS
Pandemie
soziale Ungleichheit
Armutsbericht
Klassengesellschaft
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Mittelschicht
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