# taz.de -- Corona und Geschlechterrollen: Ein Drahtseilakt | |
> Was macht die Pandemie mit den Geschlechterrollen? Traditionelle | |
> Vorstellungen gewinnen an Gewicht. | |
Bild: Mit und ohne Pandemie ist das Leben mit Kindern ein Drahtseilakt – vor … | |
„Die Frauen werden eine entsetzliche Retraditionalisierung weiter erfahren. | |
Ich glaube nicht, dass man das so einfach wieder aufholen kann, und dass | |
wir von daher bestimmt drei Jahrzehnte verlieren“, [1][echauffierte sich | |
Jutta Allmendinger] im letzten Jahr in der Talkshow „Anne Will“. Aber | |
stimmt das wirklich? | |
Katapultiert uns die Pandemie wieder zurück in die 1980er oder gar 1950er | |
Jahre? Die kurze Antwort lautet: Nein, natürlich nicht. Die kritische | |
Situation von Familien verdient dennoch besondere Aufmerksamkeit. Deshalb | |
jetzt auch eine ausführliche Antwort. | |
[2][Retraditionalisierung meint das Wiedererstarken einer familiären | |
Rollenteilung], bei der Männer für den Broterwerb und Frauen für Kinder und | |
Küche zuständig sind. Im Zuge der Coronapandemie, so die These, gibt es nun | |
ein Rollback in diese Geschlechterrollen. | |
Diese These geht jedoch von drei Annahmen aus: 1. Vor der Pandemie gab es | |
in Familien eine (zumindest annähernde) Gleichverteilung der Aufgaben. 2. | |
In der Pandemie haben vor allem die Frauen verstärkt familiäre | |
Sorgetätigkeiten übernommen. 3. Diese neue, alte Rollenverteilung wird nach | |
dem Ende der Pandemie bestehen bleiben. Von diesen Annahmen wird lediglich | |
die zweite durch Studien gestützt. Die erste Annahme kann leicht widerlegt | |
werden, die dritte ist weitgehend haltlos. | |
## Wirkmächtige Rollenmuster | |
Der Blick in die Zeit vor der Pandemie zeigt, wie wirkmächtig die alten | |
Rollenmuster sind: Nach wie vor sind es fast immer die Frauen, die nach der | |
Geburt eines Kindes in Elternzeit gehen, auch wenn sie gut ausgebildet | |
sind. Auch erbringen Frauen weiterhin den Löwenanteil der Hausarbeit und | |
verbringen mehr Zeit mit ihren Kindern als Männer. Bei Müttern mit | |
Kleinkindern waren es 2019 ca. 6,5 Stunden am Tag; bei Vätern 2,8 Stunden. | |
Aber es ist auch viel geschehen. [3][Die Verteilung von Erwerbs- und | |
Sorgearbeit] hat sich in den vergangenen Jahren angeglichen. Immer mehr | |
Mütter sind erwerbstätig; immer mehr Männer mit Kindern beteiligen sich an | |
der Sorgearbeit. Ein entscheidender Faktor für die Verwirklichung | |
beruflicher Pläne von Müttern ist der massive Ausbau der | |
Kindertagesbetreuung und die Ausweitung der Ganztagsbetreuung in Schulen. | |
In Ostdeutschland schon lange etabliert, ist die umfassende | |
Kindertagesbetreuung für die westdeutschen Bundesländer ein Quantensprung. | |
Kitas sind zu einem verlässlichen und wichtigen Baustein im | |
Betreuungsarrangement von Eltern geworden. | |
Die große Bedeutung der institutionellen Betreuung von Kindern führt | |
unmittelbar zu den Ursachen der besonderen Belastung von Müttern (aber auch | |
von Vätern) während der Coronapandemie, denn dieser Baustein löste sich von | |
einem auf den anderen Tag in Luft auf. | |
## Wie ein Kartenhaus zusammengefallen | |
Mit den Schließungen von Kitas und Schulen im März 2020 fiel das sorgfältig | |
errichtete Betreuungsgebäude für viele Familien wie ein Kartenhaus | |
zusammen. Väter und Mütter mussten – neben ihrer Erwerbsarbeit – auch | |
tagsüber für ihre Kinder da sein. In dieser Situation entschieden sich die | |
meisten Paare für das Naheliegende: Es kümmerte sich derjenige um die | |
Kinder, der weniger zum Familieneinkommen beiträgt. Und das war meistens | |
die Mutter, und zwar umso eindeutiger, je jünger das jüngste Kind war. | |
Die bereits vor der Pandemie etablierte Arbeitsteilung hat sich in der | |
Schließungsphase fortgesetzt. Bei 84 Prozent der Familien war die Mutter | |
Hauptansprechpartnerin beim Fernlernen. Psychische Belastung und | |
Stressempfinden nahmen insbesondere bei Frauen zu. Sie mussten die | |
angestiegene Zeit für Kinderbetreuung mit deutlichen Abstrichen nicht nur | |
bei der eigenen Erwerbsarbeit, sondern auch in den Lebensbereichen Schlaf | |
und Freizeit kompensieren. Besonders stark litten Familien mit geringem | |
Einkommen und Ein-Eltern-Familien. Gerade bei Paaren mit einer zuvor | |
egalitären Rollenteilung haben Frauen den überwiegenden Teil oder die | |
gesamte Verantwortung für Kinder und Haushalt übernommen. Diese Befunde | |
verdeutlichen, dass Mütter besonders unter den Belastungen der Pandemie | |
leiden und in besonderem Maße geschlechtsstereotype Aufgabenbereiche | |
übernehmen. Zugespitzt formuliert: Während der Pandemie haben | |
traditionelle Geschlechterrollen wieder an Bedeutung gewonnen. | |
Nichts deutet jedoch darauf hin, dass sich die Aufgabenteilung während der | |
Coronapandemie auch danach fortsetzen wird. Wir erleben derzeit eine | |
ungeahnte Krise. Die Bundeskanzlerin sprach von der größten Krise seit dem | |
Zweiten Weltkrieg. Um die Krise und ihre Folgen für den Alltag zu | |
bewältigen, sind viele Menschen in einen Notfallmodus gewechselt. Sobald | |
aber Kitas und Schulen wieder in den Normalbetrieb übergehen, spricht wenig | |
dafür, dass dieser familiäre Notfallmodus beibehalten wird. Denn davon | |
würde niemand profitieren. Sowohl Mütter als auch Väter haben unter der | |
Potenzierung der Mehrfachbelastung gelitten. Einen deutlichen Hinweis auf | |
den drängenden Wunsch von Eltern, nach der Pandemie zu den gewohnten | |
Aufgabenverteilungen zurückzukehren, gibt auch die derzeitige Situation in | |
Kitas und Schulen: Dort, wo kein Regelunterricht und keine Regelbetreuung | |
stattfand, liefen die sogenannten Notbetreuungen über. | |
Die Rede von einer langfristigen Retraditionalisierung ist deshalb eine | |
Übertreibung. Aber die Erfahrung zeigt, dass es manchmal der Übertreibung | |
bedarf, um auf Missstände und Gefahren aufmerksam zu machen. Der | |
tatsächliche Missstand ist jedoch ein anderer: Für Kinder zu sorgen erhöht | |
für viele Menschen – Männer wie Frauen – die Gefahr, in Existenznot zu | |
geraten. Die Coronapandemie macht besonders deutlich, dass das Leben mit | |
Kindern ein Drahtseilakt ist. Frauen sind oftmals diejenigen, die sich | |
dabei am meisten verrenken müssen – mit und ohne Pandemie. | |
26 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Helen Knauf | |
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