# taz.de -- Pop-up-Fahrradwege auf dem Vormarsch: Seit einem Jahr bewegt sich w… | |
> Mit Corona entstanden die ersten temporären Radwege. Für den weiteren | |
> Ausbau liefert ein Berliner Rechtsstreit anderen Städten wichtige | |
> Erkenntnisse. | |
Bild: Bahn frei: Pop-up-Radweg am Halleschen Ufer in Berlin-Kreuzberg | |
Die Esslinger Radaktivist:innen hatten das Gefühl, dass die | |
Stadtverwaltung sie ärgern wollte. Die Demonstrant:innen sollten ihren | |
Protest auf einer Spur der stark befahrenen Ringstraße selbst professionell | |
absichern. Die Anmelder:innen zogen vor das Verwaltungsgericht Stuttgart. | |
„Das hat die Stadt dazu verdonnert, für vier Stunden eine Absicherung | |
aufzustellen“, berichtet Petra Schulz v[1][om ökologischen Verkehrsclub | |
(VCD) Esslingen.] | |
Die Stadt musste damit kurzzeitig das machen, wofür die Aktivist:innen | |
demonstrierten: einen sogenannten Pop-up-Radweg anlegen. Der Protest der | |
Bürger:innen war aber auch längerfristig erfolgreich: Im August entsteht | |
auf der Esslinger Ringstraße ein temporärer Radweg für einen 12-monatigen | |
Probebetrieb. | |
Vor einem Jahr sind die ersten temporären Radwege entstanden, die für die | |
Radaktivist:innen in Esslingen ein Vorbild waren. [2][Mitte März | |
machte die kolumbianische Hauptstadt Bogotá den Auftakt,] schnell folgte | |
Berlin. Paris, Manchester, Edinburgh, Budapest oder das albanische Tirana – | |
viele Städte reagierten im vergangenen Frühjahr auf die steigende Zahl der | |
Menschen, die aus Angst vor einer Ansteckung in Bus und Bahn aufs Rad | |
umgestiegen waren. | |
Mit der Neuverteilung des Straßenraums sollten Radler:innen sicherer | |
unterwegs sein. In etlichen Städten wurden mit Hilfe von farbigen | |
Tape-Bändern oder rot-weißen Baken und Kegeln Streifen von Straßen | |
abgetrennt, die für Radler:innen reserviert wurden – die sogenannten | |
Pop-up-Radwege. | |
Die Bilder liefen beim Kurznachrichtendienst Twitter hoch und runter. In | |
Berlin wurde die Entwicklung von Felix Weisbrich, dem Leiter des | |
Grünflächenamts in Friedrichshain-Kreuzberg, vorangetrieben, also von der | |
Verwaltung. Das ist eine Ausnahme. In Deutschland kämpfen ansonsten | |
Bürger:innen für bessere Radwege. Bislang dauert es von der Planung bis | |
zum Bau viele Jahre, bis neue entstehen. Die provisorischen Radwege dagegen | |
schaffen schnell Fakten. Aktivist:innen hoffen, dass das so überzeugend | |
ist, dass sie bleiben. In Berlin wird das vielfach so sein, in anderen | |
Städten versuchen Bürger:innen, das zu erreichen. | |
## Enormer Auftrieb | |
In den vergangenen Jahren ist eine engagierte Radler:innenbewegung | |
enstanden, die 2020 enormen Auftrieb erhalten hat. Vielerorts schließen | |
sich Leute in sogenannten Radentscheiden zusammen, sie sammeln | |
Unterschriften und machen Aktionen für eine bessere Infrastruktur. Allein | |
unter dem Dach der Initiative Changing Cities sammeln sich 40 | |
Radentscheid-Gruppen, die seit 2015 entstanden sind. Davon sind allein im | |
vergangenen Jahr 14 neue hinzugekommen, so viele wie noch nie. | |
Auch David Grünewald vom Radentscheid Darmstadt sah die Bilder aus Berlin | |
und Bogotá. „Da dachte ich: Was da geht, das geht auch hier“, sagt er. Am | |
25. März des vergangenen Jahres stand der erste Pop-up-Radweg in Berlin, | |
zwei Tage später gab es die erste Fahrrad-Demo in Darmstadt für die | |
Einrichtung temporärer Radwege. Grünewald und seine Mitstreiter:innen | |
zeigten, was sie wollten: Als Ort der Veranstaltung meldeten sie | |
Fahrstreifen an befahrenen großen Straßen an, die sie mit rot-weißen Kegeln | |
abtrennten. Die Stadt nahm das hin. „So konnten wir zeigen, wie es gehen | |
könnte“, sagt der 30-Jährige. | |
Das war das Vorbild für die Esslinger Gruppe. Wie dort brauchte es auch in | |
Darmstadt noch mehr Nachdruck vonseiten der Aktivist:innen, bis die | |
Stadtverwaltung einlenkte. Im August wurden mit gelben | |
Baustellenmarkierungen zwei temporäre Radwege angelegt, auf dem | |
vielbefahrenen Cityring und einer weiteren Straße, außerdem Pop-up-Radwege | |
an zwei Kreuzungen. Ein weiterer soll noch kommen. | |
Bislang waren wenige Initiativen in Deutschland so erfolgreich wie die | |
Darmstädter oder die Esslinger. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) schätzt, | |
dass es hierzulande etwa 40 Kilometer Pop-up-Radwege gibt – in Frankreich | |
sind es nach Angaben der Organisation 400. „In Deutschland ist noch viel | |
Luft nach oben“, sagt Robin Kulpa, Radexperte der DUH. Allein in Berlin | |
wurden rund 25 Kilometer angelegt, vor allem in Friedrichshain-Kreuzberg. | |
In anderen Städten wie München, Stuttgart oder Krefeld, Nürnberg, Fürth und | |
Traunstein sind einzelne Pop-up-Strecken entstanden. | |
## Der ADAC hat seine Probleme | |
Auch wenn 40 Kilometer Pop-up-Strecken vergleichsweise wenig sind, ist im | |
vergangenen Jahr viel gewonnen worden, sagt Kulpa. Es werden auch in | |
Deutschland noch etliche Kilometer hinzukommen. „In vielen Städten wird | |
über neue Radwege diskutiert.“ Die DUH hat in zwei Etappen mehr als 230 | |
Städte angeschrieben und aufgefordert, Pop-up-Radwege anzulegen, viele auf | |
Vorschlag von Bürger:innen. „Wir regen in vielen Städten Diskussionen an“, | |
sagt er. | |
Ein Grund für den schleppenden Ausbau hierzulande: Anders als etwa in | |
Frankreich ist der Ausbau der Radinfrastruktur in Deutschland sehr | |
schwierig, sagt Kulpa. „In Frankreich macht es die Gesetzgebung einfacher, | |
temporäre Pop-up-Radwege einzurichten.“ Die deutsche Straßenverkehrsordnung | |
(StVO) ist völlig auf das Auto fixiert. Alles, was den fließenden Verkehr – | |
und damit ist der Autoverkehr gemeint – stören könnte, gilt als | |
begründungsbedürftig. | |
Auch Radwege. Sie können nicht einfach gebaut werden, etwa weil eine | |
Kommune die Verkehrswende vorantreiben oder Bürger:innen vor Lärm | |
schützen möchte. „Es muss eine Gefahrenlage geben“, erklärt Radexperte | |
Kulpa. Ist die nachgewiesen, folgt in der Regel ein aufwendiger | |
Planungsprozess mit Machbarkeitsstudien und Variantenvergleichen – eine | |
langwierige Sache. Die Pop-up-Radwege zeigen, dass es auch schnell gehen | |
kann. | |
Nicht alle mögen die temporären Radwege. Der Autoverband ADAC etwa findet | |
den regulären Planungsweg besser. [3][In Berlin ist ein AfD-Politiker gegen | |
die Einrichtung der Pop-up-Wege vor Gericht gezogen.] Mittlerweile hat er | |
seine Klage zurückgezogen. Das Gericht hatte klar gemacht, dass sie nicht | |
erfolgreich sein würde. Denn der Senat hat die Einrichtung der Wege | |
ausführlich begründet. | |
## Laufen als Verkehrsversuch | |
„Durch die Klage sind viele Städte verunsichert worden“, berichtet Kulpa. | |
„Sie wollten erst einmal abwarten, wie das ausgeht.“ Gebracht hat das | |
Verfahren immerhin eines: jede Menge rechtliche Expertise. Die DUH hat zu | |
Beginn des Verfahrens ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das sie jetzt | |
Radaktivist:innen und Verwaltungen zur Verfügung stellt. | |
Denn trotz der radwegefeindlichen StVO ist es auch heute möglich, schnell | |
und unbürokratisch neue Strecken anzulegen. „Wer will, der findet einen | |
Weg. Wer nicht will, der findet Gründe“, sagt der Darmstädter Grünewald. | |
Dort nutzte die Verwaltung eine Erprobungsklausel in der | |
Straßenverkehrsordnung. Die temporären Radwege laufen als Verkehrsversuch. | |
Um ihre Forderung durchzusetzen, konnten die Darmstädter auf die Vorarbeit | |
des Berliner Senats zurückgreifen. Die Verwaltung hatte einen Leitfaden für | |
die Errichtung von Pop-up-Radwegen ins Internet gestellt. „Die war zwar | |
gedacht für die Berliner Bezirke, aber die Straßenverkehrsordnung gilt ja | |
überall“, sagt er. Verwaltungen haben nach seinen Erfahrungen oft Probleme, | |
Neuland zu betreten. Vorbilder aus anderen Städten helfen enorm. Und auch | |
der Blick ins Ausland könnte zeigen, dass viel mehr möglich ist. | |
22 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://bw.vcd.org/der-vcd-in-bw/esslingen/ | |
[2] /Neue-Radwege-durch-Coronakrise/!5681083 | |
[3] /Gericht-stoppt-Pop-up-Radwege-in-Berlin/!5712633 | |
## AUTOREN | |
Anja Krüger | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Fahrrad | |
klimataz | |
Öffentlicher Nahverkehr | |
Kolumne Stadtgespräch | |
SPD Schleswig-Holstein | |
Raser | |
Fahrrad | |
Volksentscheid Fahrrad | |
Polizei Berlin | |
Verkehrswende | |
Verkehrswende | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Schwerpunkt Landtagswahl in Baden-Württemberg | |
Fahrrad | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Fahrverbote in Kolumbiens Hauptstadt: Gegen den Verkehrskollaps | |
In Bogotá gibt es ein Fahrverbot. Mal für Autos mit geraden Kennzeichen, | |
mal für die mit ungeraden. Jetzt wurde es ausgeweitet. Das gefällt nicht | |
allen. | |
Aktivistin über Politik und Veränderung: „Wir müssen auf die Barrikaden“ | |
Marlies Jensen-Leier ist 70 Jahre alt und fühlt sich als Teil der | |
Fridays-for-Future-Bewegung. Für den Klimaschutz malte sie illegal | |
Pop-up-Radwege. | |
Grüner Radexperte über höhere Bußgelder: „Das rufen wir wieder auf“ | |
Die Verkehrsminister haben sich auf höhere Bußgelder für Raser geeinigt. | |
Ein Kompromiss mit Makel, sagt Stefan Gelbhaar, Radexperte der grünen | |
Bundestagsfraktion. | |
Fahrradherstellung in Deutschland: Weniger Räder made in Germany | |
Obwohl im Coronajahr 2020 viele aufs Rad umgestiegen sind, wurden | |
hierzulande weniger Fahrräder hergestellt. Zugenommen haben aber die | |
Exporte. | |
Fahrradboom in Berlin: Fahrradfahren bleibt erlaubt | |
Die Fahrradbranche verzeichnet gigantische Zuwächse. Noch sind die Lager | |
gefüllt, aber die Nachfrage ist so groß, dass Nachschub knapp werden | |
könnte. | |
Fahrradstreife in Berlin: Dienst auf dem Zweirad | |
Neben der Fahrradstaffel gibt es in Berlin nun auch Fahrradstreifen der | |
Polizei. Letztere sollen in den Außenbezirken unterwegs sein. | |
Leiter des Grünflächenamts über Radwege: „Man kann leicht nachjustieren“ | |
Felix Weisbrich treibt in Berlin den Ausbau der Pop-up-Radwege voran. Die | |
Vorteile seien klar, sagt er. Doch jeder Meter müsse gerechtfertigt werden. | |
Pop-up-Radwege in Pandemie: Verkehrswende im Hier und Jetzt | |
Die Verkehrswende muss kein Projekt der nächsten Generation sein. Die | |
Corona-Pandemie hat gezeigt, dass es auch schnell und unbürokratisch gehen | |
kann. | |
Volkswagen klimaschädllicher als erlaubt: CO2-Ziele der EU verpasst | |
Volkswagen will die Klimavorgaben mittels E-Fahrzeugen künftig einhalten. | |
Im Coronajahr hat der Konzern mehr als 8 Milliarden Euro Gewinn | |
erwirtschaftet. | |
Vor der Wahl in Baden-Württemberg: Kampf um die Stuttgarter Luft | |
Die Grünen rühmen sich damit, die Luftqualität in den Städten verbessert zu | |
haben. Nur: Bis heute ignoriert das Land Gerichtsurteile dazu. | |
Fahrradbranche floriert: Mit Pedalpower durch die Pandemie | |
Dank der großen Nachfrage nach E-Bikes verzeichnet die Fahrradindustrie | |
Rekordumsätze. Kauflaune und Logistikprobleme treiben die Preise hoch. |