| # taz.de -- Aktivistin über Politik und Veränderung: „Wir müssen auf die B… | |
| > Marlies Jensen-Leier ist 70 Jahre alt und fühlt sich als Teil der | |
| > Fridays-for-Future-Bewegung. Für den Klimaschutz malte sie illegal | |
| > Pop-up-Radwege. | |
| Bild: Früher Björn Engholms Referentin, jetzt Klima-Aktivistin: Marlies Jense… | |
| taz: Frau Jensen, Sie sind 70 Jahre alt und haben gerade eine kriminelle | |
| Karriere begonnen – was haben Sie getan und sind Sie stolz auf sich? | |
| Marlies Jensen: Das Wort „stolz“ mag ich nicht. Ich möchte tun, was | |
| notwendig ist. Ich fühle mich mitverantwortlich als Mensch auf diesem | |
| Planeten. | |
| Okay, das war das Warum, aber erklären Sie doch bitte, warum die Polizei | |
| hinter Ihnen her ist? | |
| Wir, das heißt meine Mitstreiterin Dorothee Tamms und ich, haben Farbe | |
| besorgt und Schablonen geschnitten, sind [1][nachts losgezogen und haben | |
| Radwegmarkierungen gesprüht]. In meiner Heimatstadt Schleswig gibt es | |
| grottenschlechte Radwege und absurde Bedingungen für Radfahrer. Es ist oft | |
| versucht worden, auf die Situation hinzuweisen, aber es ist nichts | |
| passiert. Wir wollten ein Zeichen setzen. | |
| Wie kam es dazu? | |
| Eigentlich geht es alles von meinem Buch aus, beziehungsweise einem | |
| Interview, das ich den Schleswiger Nachrichten gegeben hatte, als das Buch | |
| als „Politisches Buch 2020“ der Friedrich-Ebert-Stiftung nominiert war. | |
| Damals habe ich gesagt, ich würde gern mal nachts losziehen und an | |
| brisanten Stellen Striche ziehen, also: konkret etwas ändern in der Stadt. | |
| Daraufhin haben mich Umweltgruppen angesprochen, nach dem Motto: „Sie | |
| brauchen wir.“ | |
| Ihr Buch trägt einen langen Titel: „Weil es mich fassungslos macht, was | |
| trotz der Vorsätze meiner Generation weltweit geworden ist – Holm – engHolm | |
| und zurück“. Worum geht’s da? | |
| Ich mache eine politische Zeitreise. Es geht mir um eine kritische | |
| Auseinandersetzung mit der Nachkriegsgeneration. Ich appelliere an alle, | |
| dass wir von uns aus handeln müssen. Denn die Politik schafft es allein | |
| nicht, die globalen Probleme zu lösen. In Schleswig haben wir | |
| Bürger*innen versucht, Themen einzubringen. Aber dann haben wir | |
| jahrelang zugesehen, wie sich die Parteien im Stadtrat gegenseitig | |
| blockieren. Alle Vorschläge wurden weggefegt. Mein Eindruck ist, dass es | |
| für Normalbürger*innen oder NGOs schwer ist, mit der Politik ins | |
| Gespräch zu kommen. Wenn es so weitergeht, habe ich Sorgen um das System. | |
| Wir müssen einen neuen gesellschaftlichen Dialog schaffen, um Lösungen zu | |
| finden. | |
| Das versuchen Sie hier im Kleinen? | |
| Ich glaube, nur wenn wir auf die Barrikaden gehen, passiert was. Und dafür | |
| ist es nötig, dass Einzelne anfangen. | |
| Bei Ihrem Einsatz für Radwege geht es Ihnen um die Klimakrise. Das ist | |
| eigentlich ein Thema für die Generation Greta, warum engagieren Sie sich | |
| dafür? | |
| Sie können sich nicht vorstellen, wie schön es für mich ist, die | |
| Friday-for-Future-Bewegung zu sehen! Ich bin durch Rudi Dutschke | |
| politisiert worden und wäre eigentlich gern nach Berlin gegangen, aber das | |
| erlaubten meine Eltern nicht, das machte ein Mädchen damals nicht. Aber ich | |
| war bereits in den 1970er-Jahren in der Anti-AKW-Bewegung engagiert. Die | |
| Meiler stillzulegen, war für mich ein Urthema, das jetzt durch Fukushima | |
| zum Ende gekommen ist. In der SPD in Schleswig-Holstein, diesem linken, | |
| fortschrittlichen Landesverband, haben wir in den 1980er-Jahren alles | |
| Wichtige diskutiert, es gab klare Positionen zu Kernkraft, Frieden, ÖPNV | |
| und Gentechnik. Dann kamen die 1990er-Jahre, und alles war weg. Zum Schluss | |
| kam Gerhard Schröder mit Hartz IV. Aber die ganze Zeit habe ich gehofft, | |
| dass eine neue Bewegung wie ’68 entsteht. Ich stimme völlig mit Fridays for | |
| Future überein. So gesehen bin ich nach wie vor 18 Jahre alt und mit | |
| Gleichaltrigen unterwegs. Meiner Mitstreiterin Dorothee geht es genauso. | |
| Was erleben Sie im Umfeld? Sagt jeder: Ach, jetzt kommt wieder Marlies | |
| Jensen mit ihrem Klima-Thema, das kennen wir doch alles schon und es lässt | |
| sich ja doch nichts ändern? | |
| Wir kriegen von den Bürger*innen positive Reaktionen. Wir sind sozusagen | |
| auf zwei Schienen unterwegs: Es geht um den praktischen Nutzen für die | |
| Stadt, und es geht um das Weltklima. Ich glaube, ein großer Teil der Leute | |
| hat begriffen, wie ernst die Lage ist. Dieser Teil ist weiter im Denken, | |
| als die Politik es manchmal glaubt. Was noch nicht heißt, dass man | |
| persönliche Konsequenzen zu ziehen bereit ist, zum Beispiel mal das Auto | |
| stehen lässt. Wir wünschen uns, dass Schleswig eine Modellstadt wird, | |
| weitgehend autofrei, mit Parkplätzen vor der Stadt und Solar-Shuttles. Das | |
| können sich viele nicht vorstellen. | |
| Sie waren nicht das ganze Leben Aktivistin, sondern haben eine Bürolehre in | |
| der Stadtverwaltung gemacht … | |
| Ja, Jungs wurden Beamte, Mädchen wurden Bürogehilfin, so war das damals. | |
| Ich bin 1950 auf dem Holm, der Fischersiedlung in Schleswig, geboren worden | |
| und ich habe den letzten Augenblick einer verschwindenden Kultur erlebt. | |
| Meine Vorfahren waren Fischer, und sie haben so nachhaltig gewirtschaftet, | |
| dass auch die folgenden Generationen ihr Auskommen fanden. Aber dieses | |
| Gleichgewicht ist zerstört, seit wir aufgehört haben, uns an den Grundlagen | |
| des Planeten zu orientieren. Das müssen wir verstehen und wer es verstanden | |
| hat, müsste anders leben. | |
| Wann war für Sie der Punkt, an dem Sie das verstanden haben? Sie sind | |
| irgendwann nach Kiel gegangen, haben in der SPD-Landtagsfraktion für Björn | |
| Engholm gearbeitet … | |
| Ja, aber davor habe ich geheiratet, war bei der Husumer Schiffswerft | |
| angestellt, habe ein Kind bekommen und habe dann endlich den Sprung in mein | |
| geliebtes Kiel geschafft. Von 1981 bis 1991 war ich Wahlkreisassistentin | |
| für den Europaabgeordneten Gerd Walter und durfte sozusagen ganz | |
| Schleswig-Holstein beackern. 1991 fragte mich Björn Engholm, der ja seit | |
| 1988 Ministerpräsident in Schleswig-Holstein war und nun Parteivorsitzender | |
| wurde, ob ich für ihn in seiner Eigenschaft als SPD-Bundesvorsitzender | |
| arbeiten wollte. 1993 kandidierte er dann für das Kanzleramt. Ich war seine | |
| Terminreferentin und zuständig für die Koordinierung seiner Büros und habe | |
| den Wahlkampf mitgeplant. Und dann ging die Schublade auf. | |
| Sie meinen die sogenannte Schubladen-Affäre im Kieler Landtag, es ging um | |
| die Verstrickung der SPD in die Barschel-Pfeiffer-Affäre. | |
| Ja, diese ganze Sache und damit auch die Kandidatur endeten mit großer | |
| Enttäuschung. Engholm trat zurück. Und ich wollte nur noch raus. | |
| Sind Sie noch Genossin? | |
| Ich bin 2000 ausgetreten, weil das Versprechen der SPD, aus der Atomenergie | |
| auszusteigen, unter Schröder zur Bestandsgarantie verkam. Aber ich wäre | |
| sonst sicher wegen Hartz IV ausgetreten. Hartz IV hat diese bedeutende | |
| Partei ganz klein gemacht. | |
| Sie sind dann nach Schleswig zurückgezogen? | |
| Nee, das war später. Ich habe weiter in Kiel gelebt, aber nachts von der | |
| alten Insel geträumt. Ich habe sogar auf Plattdeutsch geträumt. Langsam ist | |
| mir klar geworden, dass hier eine Kultur unterging. In meiner Kindheit | |
| lebten 60 Fischer auf dem Holm, heute sind es fünf. Als meine Eltern | |
| gestorben sind, sind mein Lebensgefährte und ich in das alte Haus gezogen. | |
| Und Sie haben angefangen zu schreiben – auf Platt? | |
| Das erste Buch habe ich auf Hoch- und Plattdeutsch geschrieben, aber ich | |
| musste es mir erarbeiten und wieder aus den Tiefen ausgraben. Wenn ich ein | |
| Wort suche, leben die Alten in mir, meine Vorfahren, wieder auf. Manchmal | |
| schicken sie mir den Begriff im Schlaf. Früher galt Platt als minderwertig, | |
| für die Schule war es wichtig, Hochdeutsch zu können. Heute kommt in der | |
| plattdeutschen Szene einiges platt daher, aber es ist eine kluge Sprache. | |
| Ich habe Kafkas „Bericht an eine Akademie“ ins Plattdeutsche übersetzt, das | |
| hat viel Freude gemacht. | |
| Um noch mal auf die Gegenwart zu kommen: Welche Aktionen haben Sie weiter | |
| geplant? | |
| Wir sind in Kontakt mit den Landfrauen: Es geht ums Überleben auf dem | |
| Planeten, also müssen wir uns um eine andere Ernährung bemühen. Ich will | |
| nicht sagen, früher war alles besser, aber in meiner Kindheit war es | |
| selbstverständlich, dass man sich aus der Region ernährte. Die Meierei muss | |
| wieder ins Dorf. Die Landfrauen sind eine wichtige Gruppe, wenn die laut | |
| werden, wird das gehört. | |
| Und da gibt es noch eine Aktion, bei der es um den Schleswiger Dom geht? | |
| Ja, unser Dom wird gerade renoviert, und seit über einem Jahr hängt ein | |
| Riesenbanner an der Fassade mit der Werbung, dass Fensterpaten gesucht | |
| werden. Hübsch, aber wir dachten: Gibt es nichts anders zu verkünden? Wir | |
| dachten an den Klimawandel, an Corona. Das wären doch gute Themen. Also | |
| haben wir einen Brief an den Bischof geschrieben und ihm das vorgeschlagen. | |
| Und? | |
| Es kam eine Absage. Inzwischen haben wir unsere Idee an den | |
| Ratsvorsitzenden der EKD geschickt. Warum nicht ein Banner zum Klimawandel | |
| an jedem Kirchturm hängen? | |
| Was passiert mit der drohenden Klage wegen der unerlaubten Radweg-Malerei? | |
| Wir haben einen Strafbefehl erhalten, die Geldstrafe finden wir viel zu | |
| hoch. Dagegen haben wir Widerspruch eingelegt. Um der Sache willen werden | |
| wir nicht klein beigeben! | |
| 7 May 2021 | |
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| [1] /Pop-up-Radwege-selbst-gemacht/!5733737 | |
| ## AUTOREN | |
| Esther Geißlinger | |
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