| # taz.de -- Trotz der Generation X: Als die Zukunft noch egal war | |
| > Die Generation X wuchs in einer Gegenwart auf, in der viel konsumiert und | |
| > wenig protestiert wurde. Eine Selbstkritik. | |
| Bild: Babyboomer gegen die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf in München 19… | |
| Wir sind wirklich hoffnungsvoll gestartet. Wir – damit meine ich die Kinder | |
| der Achtziger, geboren irgendwann zwischen Ende der Sechziger und Mitte der | |
| Siebziger in der BRD. Dieses Wir ist [1][natürlich ein hypothetisches, | |
| konstruiert] aus ganz persönlichen Erfahrungen und einem naturgemäß völlig | |
| unvollständigen Datenabgleich. | |
| Die erste Generation ohne direkte Auswirkungen eines Krieges, von den alten | |
| Nazis in der Familie, der Nachbarschaft und dem Schuldienst mal abgesehen. | |
| Es ging ums Wohlstandsichern, Häuschen abbezahlen, sich was leisten können. | |
| Offiziell herrschte Frieden, aber wir changierten in einem merkwürdigen | |
| Zustand aus Bequemlichkeit und Bedrohung. Der uns allerdings nicht zu | |
| irgendwelchen Aktivitäten veranlasste, wir hockten stattdessen drinnen vor | |
| dem Fernseher und zogen uns die Welt vom Sofa aus rein. Die RAF bombte sich | |
| noch unter letzten Zuckungen durch die Republik, Kriegstreiber Reagan | |
| stationierte Pershings in Deutschland und wir hockten in unserer | |
| bundesdeutschen Innerlichkeit und heulten bei „E. T. – Der Außerirdische�… | |
| Wir sind noch zwischen Blöcken aufgewachsen, in einer binären Welt – da | |
| fiel die Orientierung deutlich leichter. Anfang der Achtziger, zu Zeiten | |
| des Nato-Doppelbeschlusses und den Protesten gegen Brok- und Wackersdorf, | |
| haben wir als Kinder noch blind alles inhaliert, heiß gewünscht und toll | |
| gefunden, was aus den USA kam: Musik, Süßkram mit klebriger Erdnussbutter, | |
| Jeans, die einen nicht gar so birnenförmig erscheinen ließen. | |
| Natürlich gab es unter uns auch die, die dann später Anwälte geworden sind | |
| – weniger aus Gründen der Gerechtigkeit, sondern damit der Konsum nie | |
| wieder aufhören muss. Die, die nur auf Kohle aus waren, gab’s halt immer. | |
| Keine Ideale zu haben ist viel leichter zu erfüllen. Wer kein blinder | |
| Konsument sein wollte, der war halt irgendwie links. Dafür reichte es | |
| schon, dass man die Amis nicht ganz so toll und die Sowjetunion nicht ganz | |
| so scheiße fand. Man musste sich einfach nur bequem irgendwo einfädeln, | |
| denn die Wege der echten Rebellion waren bereits kindersicher für uns | |
| vorplaniert: Die 68er waren jetzt Lehrer und bei den frisch gegründeten | |
| Grünen, die Friedensbewegung war genauso erfunden wie die Proteste gegen | |
| Atomkraft. Und der Punk [2][war längst schon wieder tot]. | |
| Es war nicht mehr ungewöhnlich, dass beide Eltern arbeiteten, wir bekamen | |
| also den Haustürschlüssel mit Paketkordel um den Hals gehängt und durften | |
| fortan zu Bürozeiten unbeobachtet jung sein, nach Schulschluss die | |
| klebrigen Liköre aus Papas Hausbar austrinken und keine größere Not haben | |
| als die der eigenen Hormone, des nächsten Konsums und der dringende Wunsch, | |
| jemanden zu finden, mit dem man zu Tracey Chapman knutschen kann. | |
| Moden und Gesinnungen gab es zuhauf im Angebot, man musste sich nur eine | |
| aussuchen und sich dementsprechend uniformieren. Mufflige Wildlederjacke | |
| vom Flohmarkt als Ausweis dafür, dass wir zu den Guten gehören, Poloshirts | |
| [3][mit hochgestelltem Kragen und dem kleinen Krokodil] auf Brusthöhe für | |
| die anderen. Zum Bund oder Zivi, Lehre oder Studium, Interrail oder Lloret | |
| de Mar – das waren erst mal die dringendsten Fragen. | |
| ## Risikoarme Westarroganz | |
| Wir demonstrierten hin und wieder gegen eine damals glücklicherweise noch | |
| überschaubare Anzahl von Nazis – bis die Wende kam. Ihr im Osten hattet | |
| zwar keine richtigen Jeans und auch keinen richtigen Sozialismus, aber | |
| dafür eine richtige Revolution. Ihr habt euch 1989, ganz im Gegensatz zu | |
| uns, wirklich was getraut, und wir standen da mit unserer risikoarmen | |
| Westarroganz und machten ein dummes Gesicht. Wir knutschten und vögelten | |
| den aus dem anderen Deutschland mal einen Sommer lang als gegenseitige | |
| Trophäenjagd, aber so richtig warm wurden wir trotzdem nicht miteinander. | |
| Wir kreisten mit dem Walkman auf den Ohren, abgekoppelt auf der eigenen | |
| Umlaufbahn, während ein paar gleichaltrige Nerds – die Ersten, die lieber | |
| mit Pacman auf dem heimischen Fernseher statt mit echten Menschen | |
| interagierten – auf der anderen Seite des Atlantiks beschlossen, einen | |
| Golem namens Google zu erschaffen, um sich bald sämtliche Informationen der | |
| Welt untertan zu machen. Aber das wussten wir damals noch nicht. Auch | |
| Tschernobyl konnte uns nicht aus unserer Bräsigkeit reißen. Ich erinnere | |
| mich noch, als ich vom Uni-Asta frisch politisiert und die Gesinnung | |
| zwischen Infoladen und Bauwagenplatz zum Sixpack gestählt, in einem | |
| Anti-AKW-Camp herumhing und ankettungswillig an den Bahngleisen den | |
| Castortransport herbeisehnte, der dann nicht kam. | |
| Stattdessen lauschten wir abends andächtig den Vorträgen verhärmter | |
| RAF-Veteranen, die selbstgedrehte Kippen zwischen ihren gelben Fingern | |
| hielten und ex cathedra von der Isolationshaft referierten, dem bewaffneten | |
| Kampf und dem Bullenstaat. | |
| ## Bleibendes der Generation | |
| Jetzt sind wir alle um die fünfzig, und ich kann mich nicht erinnern, dass | |
| unsere Generation irgendwas Bleibendes gerissen hätte – weder musikalisch | |
| noch literarisch noch gesellschaftlich. Wir haben nichts erfunden, nichts | |
| gegründet, die Welt wirklich nicht vorangebracht. | |
| Auch das erbärmlich-hilflose X als Bezeichnung ist mehr Krücke als Ausdruck | |
| eines Lebensgefühls. Höchstens: Ein Satz mit X – war wohl nix. Natürlich | |
| gibt es viele ehrenwerte Menschen, die Ärzte oder Lehrer geworden sind, ein | |
| paar Journalisten oder Schauspieler sind auch dabei – aber sonst? | |
| Wir haben halt ein bisschen rumprobiert, dabei aber vor allem uns selbst im | |
| Blick. Die meisten verkrochen sich mit Eintritt ins Steuerzahleralter | |
| zurück in die dröge Innerlichkeit ihrer Jugend, diesmal im geerbten Haus | |
| mit selbst gefliester Terrasse. | |
| ## Von hinten überholt | |
| Viele haben inzwischen Jobs mit aufgeblasenen, englischen Bezeichnungen, | |
| verkaufen irgendwas und gucken auf ihren Firmenfotos im Anzug willensstark | |
| in die Kamera. | |
| Muss ja. Immer war irgendwer schneller als wir, und jetzt werden wir auch | |
| noch mit Karacho von hinten überholt: Die Klimakids, LGBTQ, | |
| Gendergerechtigkeit, MeToo und endlich mal ein ernstzunehmendes Aufbegehren | |
| gegen Rassismus in den Institutionen. Kam alles nicht von uns. | |
| Anstatt zum ersten Mal so etwas wie Größe zu zeigen, dass jemand das tut, | |
| was wir uns immer als Privileg eingefordert hatten, nämlich, es besser zu | |
| können, werden wir stattdessen auch noch knurrig. Natürlich fanden wir | |
| Fridays for Future am Anfang toll. Es ist großartig, junge Menschen für | |
| eine gute Sache demonstrieren zu sehen, wenn man sich selbst auch noch | |
| heimlich dazu zählt. Bösen Konzernen irgendwas wegzunehmen – da sind wir | |
| natürlich dabei. Theoretisch. | |
| ## Zu den Guten gehören | |
| Aber wir als Kreateure und Kreaturen des perfekten Konsums sollen uns | |
| selbst auch noch immer grenzenloser verfügbare Freuden verkneifen? Ach | |
| komm, hört doch uff, man kann’s auch übertreiben! Gemeinschaft und | |
| Solidarität haben wir verwöhnten Solisten einfach nicht wirklich gut drauf. | |
| Diese Kids mit ihrer heiligen Ernsthaftigkeit im Verzicht machen uns auch | |
| ein bisschen Angst: Veganismus, selbst wenn keiner hinguckt, Lastenrad | |
| statt Sitzheizung im lausigen November und nicht mal ein sexistischer Witz, | |
| wo wir doch alle wissen, dass es gar nicht so gemeint ist? Richtig | |
| ernsthaft können wir nämlich gar nicht so gut, Zynismus beherrschen wir | |
| besser – den kalten, abgefuckten Sound der Achtziger. | |
| Natürlich sind wir für Gleichberechtigung. Ich war schon Feministin, als | |
| sie noch Emanzen hießen. Gendern ist völlig o. k. Aber mit Augenmaß, Kinder | |
| – überall diese Gendersternchen, das sieht ja aus wie Einschusslöcher, so | |
| kann man doch kein Buch mehr lesen! Macht uns doch unsere heimelige, duale | |
| Welt nicht gleich kaputt. Wahrscheinlich kommen wir auch deshalb auf „nicht | |
| binär“ nicht gut klar. Muss jetzt jeder persönlichen Spielart mit | |
| größtmöglichem politischem Tamtam Rechnung getragen werden? | |
| Das denken wir heimlich, wenn keiner hinguckt, und schämen uns, weil wir | |
| auf den nicht mehr vorplanierten Wegen alles andere als trittfest sind. | |
| Wenn wir ehrlich sind, sind wir schon längst die alten weißen Männer. | |
| Irrlichtern wie Catweazle durch eine unübersichtlich-diverse Welt, der wir | |
| uns immer noch halsstarrig verweigern, weil wir sie nicht selbst gestaltet | |
| haben. Unsere Kernkompetenz ist der Trotz. Natürlich wollen wir zu den | |
| Guten gehören, aber trotzdem auch mal ganz sorglos grillen. Das haben wir | |
| uns verdient – wir sind schließlich schon länger da. | |
| Die Hälfte unseres Lebens haben wir jetzt schon hinter uns. Also immer noch | |
| genügend Zeit, um endlich mal Größe zu zeigen und neidlos die nächste | |
| Generation vorzulassen. Die es einfach besser draufhat. Oder um vielleicht | |
| selbst doch noch etwas zu reißen. | |
| 1 Jun 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tania Kibermanis | |
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