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# taz.de -- Dokumentarfilm „Atomkraft Forever“: Die Poesie der Kernspaltung
> Der Hamburger Filmemacher Carsten Rau bringt mit „Atomkraft Forever“
> einen so komplexen wie beunruhigenden Dokumentarfilm ins Kino.
Bild: Wohlstand geht vor Sicherheit: Gartenarbeit im Schatten des AKW im bayeri…
„Als hätte ein Stück Heimat gefehlt“: So beschreibt die Wirtin der
Dorfgaststätte in Gundremmingen, wie es war, als einer der Reaktoren des
[1][dortigen Atomkraftwerks] stillgelegt wurde. Sie schwärmt von
gemütlichen Abenden, als viele Ingenieure und Facharbeiter auf Montage bei
ihr gewohnt und gefeiert hätten. Auch der Bürgermeister des bayerischen
Ortes erzählt von guten Zeiten und von den Einnahmen, die das AKW seit
Mitte der 1970er-Jahre beschert.
Die Leute „haben sich für Wohlstand entschieden“, sagt Carsten Rau zu
dieser Sequenz – „und gegen Sicherheit“. Seine Dokumentation „Atomkraft
Forever“ zeigen vom 16. September an bundesweit 40 Kinos. Im Film selbst
enthält der Hamburger sich solch deutlicher Wertungen. Und er führt diese
Menschen, die jahrzehntelang vom Atomkraftwerk in ihrer Nähe profitiert
haben, auch nicht vor mit filmischen Mitteln. Er nimmt sie genauso ernst
wie die Expert*innen, die etwa vom gigantischen Aufwand berichten, den die
Lagerung von Atommüll mit sich bringt.
Rau ist ein Filmemacher, der, anstatt bewusst zu bewerten, möglichst
umfassend zeigen will. Und deshalb hat er penibel darauf geachtet, dass
alle Gesichtspunkte zum Thema „Atomkraft“ gleichwertig und ohne
manipulative Stilmittel präsentiert werden. In Frankreich etwa befragt er
junge, durchaus sympathische Nuklearingenieure auf einer Konferenz mit dem
Titel „Atoms for the Future“. Diese Gesprächspartner schwärmen so
begeistert von den Möglichkeiten der Technologie, als würden sie nicht
heute, sondern in den optimistischen 1970er- Jahren leben.
Der Nuklearphysiker Lucas David spricht gar von der „Poesie der
Kernspaltung“, und auch der Leiter des französischen Kernforschungszentrum
in Cadarache, Guy Brunel, sagt Dinge wie: „Atomkraft ermöglicht ein gutes
Leben mit höherer Lebenserwartung und geringerer Kindersterblichkeit“, was
unterstreicht, dass vielerorts in Europa ein ganz anderer Umgang mit dem
Thema herrscht als in Deutschland.
Rau besucht das ehemalige Atomkraftwerk in Greifswald, das seit 1994
zurückgebaut wird. Mehr als 600.000 Tonnen radioaktiv belastetes Material
müssen dort bearbeitet werden. „Freimessen“ ist ein Begriff, der
beschönigend bei diesen komplizierten Prozessen benutzt wird.
In [2][Gorleben] hat er das atomare Zwischenlager besuchen und einige der
dort eingelagerten Castorbehälter filmen können; die mit dem am stärksten
strahlenden Material werden derart warm, dass man das beim Betreten der
Lagerhalle bemerkt. Maximal 40 Jahre lang können diese Behälter ihren
Inhalt sicher isolieren – was danach kommt? Bessere Container jedenfalls
hat noch niemand entwickelt.
Wie schwierig die [3][Suche nach einem Endlager] für den deutschen Atommüll
ist, verdeutlicht Raus Besuch bei der Bundesgesellschaft für Endlagerung
(BGE): Dort spekulieren Geolog*innen darüber, wie die Welt in einer
Million Jahren aussehen wird – so lange soll das Endlager sicher sein.
Wenn sie dabei „etwa zehn Eiszeiten“ einberechnen, macht das deutlich, wie
absurd das gesamte Lösungskonzept ist. Und wenn, basierend auf einer
solchen wissenschaftlichen Kaffeesatzleserei, in zehn Jahren tatsächlich
ein geeigneter Ort für das Endlager gefunden sein sollte, dürfte seine
Errichtung kaum gegen den Widerstand der dort lebenden Bevölkerung
durchzusetzen sein. Das macht im Film der Sprecher der Umweltinitiative
„Ausgestrahlt“, Jochen Stay, klar.
Sehr geschickt setzt Rau auch Archivmaterial aus den 1970er-Jahren ein: Er
nutzt etwa Ausschnitte eines Pro-Atomkraft-Propagandafilms aus der DDR, der
den AKW-Bau in Greifswald als Großtat des Proletariats feiert. Das
westliche Spiegelstück ist ein Werbefilm aus Bayern, in dem die damals sehr
beliebte Moderatorin Caroline Reiber zu säuselnder Musik die schöne neue
Welt der Atomenergie bejubelt.
Auch eine Reportage des Bayerischen Rundfunks über den Bau und die
Inbetriebnahme des AKW Gundremmingen wirkt im Rückblick alles andere als
neutral. Darin wird zwar immerhin auf die Gefahren bei einem Atomunfall
hingewiesen, doch wenn dazu der Bäcker durch sein Dorf fährt und aus seinem
fahrenden Auto Alarm auf seiner Trompete bläst, wirkt das doch eher komisch
als beängstigend.
Carsten Rau hat 13 Jahre lang für den NDR gearbeitet. 2006 dann machte er
sich mit der Produktionsfirma „Pier 53“ selbstständig. Seit seiner
Fernsehdokumentation „Unter Strom“ (2008) hat der Hamburger immer wieder
zum Thema „Energiepolitik“ gearbeitet. „Atomkraft Forever“ nun hat er v…
Anfang an als Kinofilm konzipiert – nur so ließ sich eine derart aufwendige
Produktion finanzieren. Fünf Jahre lang hat Rau an diesem Projekt
gearbeitet. So brauchte er allein schon zwei Jahre und viel Geduld, um die
Drehgenehmigung im französischen Kernforschungszentrum zu bekommen.
Auch stilistisch ist „Atomkraft Forever“ ein Film für die große Leinwand:
Die Industrieruine Greifswald, eine riesige Lagerhalle für Castorbehälter
in Gorleben oder die Nähe der Kühltürme zum dörflichen Leben in
Gundremmingen [4][fängt Kameramann Andrzej Król] in eindrucksvollen,
detailreichen Totalen ein.
Rau erlaubt sich einige unkonventionelle Regieeinfälle. So hat er bei den
Interviewsequenzen den „Vorlauf“ im Film gelassen, wenn also ein
Teammitglied mit den Händen die Klappe für den Drehbeginn schlägt. Zu
sehen, wie unterschiedlich die Interviewten auf diesen für sie
überraschenden Moment reagieren, lockert die vielen Talking Heads ein wenig
auf.
Ähnlich spielerisch arbeitet Rau, wenn er bei den Aufnahmen im Bürogebäude
der BGE in mehreren langen Einstellungen zeigt, wie eine Bürokraft mit
Rollwägelchen auf den verschiedenen Etagen Akten verteilt. Dem
Nuklearingenieur Jörg Meyer sehen wir dabei zu, wie er nach den richtigen
Unterlagen sucht, weil er präzise beantworten will, wie viele Räume in
Greifswald schon gereinigt wurden. Und dann zählt er mehr als 200 Vorgänge
– vor der Kamera. Solch ein rührend komischer Moment ist ein Glückstreffer
für einen Dokumentarfilmer und es spricht für Rau, dass er so seine
Protagonist*innen eben nicht als Funktionsträger*innen zeigt,
sondern als Menschen.
16 Sep 2021
## LINKS
[1] /AKW-Sicherheit/!5124269
[2] /Endlagerprojekt-Gorleben-und-die-taz/!5720325
[3] /Buergerbeteiligung-bei-der-Endlagerfrage/!5799014
[4] https://www.filmundtvkamera.de/produktion/spuerbare-strahlung/
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