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# taz.de -- Energiepolitik nach Fukushima: Die letzten Kurven der Talfahrt
> Angela Merkel wird als Ausstiegskanzlerin in die Geschichtsbücher
> eingehen. Die energiepolitische Zukunft aber ist hart umkämpft.
Bild: Guter Knalleffekt: Das Ende des Kühlturms des RWE-Atomkraftwerks Mülhei…
Die Erinnerung funktioniert noch. Fukushima! Sofort hat jeder seine eigenen
Bilder im Kopf: die milchig-schemenhaften Silhouetten der havarierten
Meiler; die erste Wasserstoffexplosion, die das Dach des Reaktorblocks in
den japanischen Himmel katapultiert; die hilflosen Helfer, die den
strahlenden Trümmerhaufen aus Wasserschläuchen bespritzen, wie der Nachbar
seinen Zierrasen; die Straßenszenen in Tokio mit verhuschten Menschen
zwischen Ohnmacht und Scham.
Fukushima war nach Majak, Windscale, Church Rock, Harrisburg und
Tschernobyl die sechste atomare Großkatastrophe. Sie alle hätten nach den
Vorhersagen einschlägiger Risikostudien nur einmal in hunderttausend Jahren
geschehen dürfen. „Kinder, wie die Zeit vergeht!“, höhnten die AKW-Gegner.
Und der Klimaökonom Ottmar Edenhofer warnte, man solle sich jetzt bloß
nicht als Rechthaber oder Sieger der Geschichte aufspielen.
[1][Fukushima war der erste sichtbare Super-GAU], er passierte vor den
Augen der Weltöffentlichkeit, begleitet vom neuen Nachrichtenkosmos des
Internets. Fukushima war die endgültige Bestätigung, dass diese Technologie
des Schreckens auf den Komposthaufen der Geschichte gehört. 1979, nach
Harrisburg, konnte die Branche noch die Beherrschbarkeit selbst des
schlimmsten denkbaren Unfalls behaupten, weil die Kernschmelze weitgehend
im Reaktorgebäude stecken geblieben war. 1986, nach Tschernobyl, waren die
„kommunistischen“ Reaktoren schuld, die der westlichen Sicherheitstechnik
weit unterlegen waren. 2011, nach Fukushima, waren die Ausreden
aufgebraucht, das Entsetzen nicht mehr zu kanalisieren. Nur der gnädige
Westwind, der die radioaktiven Wolken auf den Pazifik trieb, hatte die
30-Millionen-Metropole Tokio vor der Evakuierung bewahrt.
Kein anderes Land stellte nach Fukushima die energiepolitischen Antennen
stärker auf Empfang als die Bundesrepublik. Die energiepolitische Lage war
plötzlich sonnenklar: „Die Dinger müssen weg“, schrieb der 11-jährige
Schüler Enno Ebersbach in einem Gastbeitrag für die Fukushima-Sonderausgabe
des Umweltmagazins zeozwei (heute taz FUTURZWEI), „ich finde es wichtig,
dass jetzt jeder weiß, dass Atomkraftwerke keine Lösung sind!“
## Der politische Instinkt der Kanzlerin
Fukushima hieß schnell Stuttgart. Die Landtagswahl in Baden-Württemberg
folgte nur zwei Wochen nach der dreifachen Kernschmelze. Die Grünen surften
auf der 13 Meter hohen Flutwelle, die am 11. März mit Tempo 160 auf die
japanische Küste zugerast war, in die Regierungsverantwortung, ein
unmissverständlicher Hieb für die alten Atomparteien. Mit Fukushima war die
grüne Partei endgültig in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ihr
Kernthema Energiepolitik hätte nicht eindrucksvoller bestätigt werden
können. Gleichzeitig setzte der japanische Fallout die Südwest-CDU nach 58
Jahren ununterbrochener Regentschaft auf die Oppositionsbank.
Dabei hatte Merkel eigentlich schnell reagiert. Während die EU noch
„Stresstests“ für alle Reaktoren forderte, sendete der politische Instinkt
der Kanzlerin sofort die richtigen Signale. Schneller, als man AKW
buchstabieren konnte, vollzog sie – nach Krisentelefonaten mit dem
baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus – eine diametrale
Kehrtwende ihres energiepolitischen Kurses und verkündete ein
Atom-Moratorium und die Abschaltung von sieben, später acht Reaktoren.
Merkel, die Kanzlerin der schwarz-gelben Laufzeitverlängerung, wird als
Kanzlerin des Atomausstiegs in die Geschichtsbücher eingehen. Dabei hatte
sie nie verstanden, wie fundamental der Atomkonflikt die westdeutsche
Gesellschaft über Jahrzehnte vergiftet hatte. Die blutigen Schlachten an
den Bauzäunen Ende der 70er Jahre, die Massenproteste der 80er Jahre, die
jahrzehntelangen Kämpfe unzähliger Bürgerinitiativen, die die Grünen erst
möglich machten: Merkel kannte die relevanteste Protestbewegung der alten
Bundesrepublik nur aus den Kurzmeldungen im Neuen Deutschland.
Ihre späte Kehrtwende zum Atomausstieg war aber nicht nur Opportunismus.
Sonst hätte Merkel nach dem langsamen Abklingen der Fukushima-Welle wieder
gewackelt. In der schwarz-gelben Regierungskoalition gab es genug
Atomfreunde, die nach Verstreichen einer Schamfrist die Neutronen wieder
flitzen lassen wollten. Doch die Physikerin Angela Merkel hatte womöglich
begriffen, dass diese Technik tatsächlich unverantwortbar ist, die Wucht
des Tsunamis hatte auch das Bundeskanzleramt erwischt. Die Autorität der
Katastrophe ließ das Gerede von der „Brückentechnologie Atomkraft“
verstummen. Nicht nur die Brücke, das ganze Lügengebäude deutscher
Energiepolitik war eingestürzt.
## Beißkrampf um den Ausbau der erneuerbaren Energien
Nach Fukushima war die neue Allparteienkoalition des Ausstiegs – von
Greenpeace bis Seehofer – auch eine Chance für die Gesellschaft. Das war
sie leider nur kurze Zeit. Der alte Grabenkrieg des Atomkonflikts mündete
umstandslos in den verschärften Beißkrampf um den weiteren Ausbau der
erneuerbaren Energien – bis heute. Heute wird das Irrsinnsprojekt
Nordstream 2 gebaut, ebenso das Flüssiggasterminal für US-Frackinggas. Die
Stilllegung der Kohlekraftwerke und das Ende des steinzeitlichen
Braunkohletagebaus werden trotz Klimakrise verzögert, der Ausbau von Solar-
und Windanlagen wird permanent gedeckelt, bekämpft, ausgebremst.
Aber warum konnte die Atomenergie als Kind der 1950er Jahre überhaupt so
lange überleben? Warum taucht selbst heute immer wieder die Fata Morgana
eines nuklearen Comebacks auf? Die Politik, das zeigt sich an vielen
Zukunftsvorhaben, war leider immer schon anfällig für den großen Wurf. Und
die Kräfte des gespaltenen Urans sind tatsächlich ungeheuer, die
Erlöserfantasien des aufziehenden Atomzeitalters Ende der 50er und Anfang
der 60er Jahre waren grandios. Keine Stromzähler mehr, die Begrünung der
Wüsten und der Polkappen, dazu Atomlokomotiven, -autos, -flugzeuge, das
Füllhorn für alle. Die „friedliche“ Nutzung der Atomkraft, die jetzt
Kernenergie hieß, sollte zudem Wiedergutmachung sein für die Leichenberge
von Hiroshima und Nagasaki.
In Deutschland bekam der Ausbau der Erlösertechnologie Atomkraft schnell
religiöse Züge. Politik, Energiewirtschaft, Teile der Wissenschaft und der
Polizeiapparat vereinten sich zur verschworenen Atomgemeinde, die im
Stellungskrieg mit den Atomgegnern rationalen Argumenten bald nicht mehr
zugänglich war. Am Ende ging es vor allem darum, dass die grünen
Latzhosenbrigaden und der verhasste Umweltzirkus nicht gewinnen durften.
Dann kamen die Katastrophen. Dann kam Fukushima. Warum Urankerne spalten,
um Kaffee zu kochen, wenn ich sogar aus Hühnerscheiße Strom machen kann,
schrieb der 11-jährige Enno. Der Junge hatte recht.
2022 geht bei uns der letzte Atommeiler vom Netz. Aber auch bei globaler
Betrachtung wird klar: Die Atomindustrie fährt ihre letzte Etappe, der
Besenwagen wartet schon. Ihr Anteil an der weltweiten Stromversorgung hat
sich gegenüber den Boomjahren glatt halbiert. Nur noch wenige Länder, meist
keine demokratischen, bauen neue Meiler. Und die laufenden Altkraftwerke
der in Zahl und Leistung stagnierenden weltweiten Reaktorflotte nähern sich
langsam der 40-Jahres-Grenze. Isch over! Atomkraft ist nicht nur
lebensgefährlich und atombombentauglich, sie hat nicht nur
Akzeptanzprobleme und hinterlässt strahlenden Müll für Millionen Jahre. Sie
ist inzwischen auch doppelt so teuer in den Stromgestehungskosten wie Wind
und Sonne an guten Standorten. Es gibt in vielen Ländern auch keinen
Nachwuchs mehr. Kein vernünftiger Mensch will in einem Atomkraftwerk
arbeiten.
## Ein Albtraum, der nicht enden will
Dass es trotz allem immer noch eifrige Diskussionsrunden gibt zu den ewigen
„Chancen und Risiken“ der Atomkraft und dass jetzt der seriell produzierte
niedliche Minireaktor erneut als atomarer Hoffnungsträger auftaucht, das
sind die letzten Kurven einer langen Talfahrt. Sie hatte schon Ende der
1970er Jahre begonnen, als nach dem atomaren Höhepunkt immer weniger neue
Atommeiler projektiert wurden. Tschernobyl beschleunigte diesen
Negativtrend. Fukushima setzte zwar nicht den Schlusspunkt, beseitigte in
den meisten Ländern aber letzte Zweifel.
Der 11-jährige Enno schrieb im März 2011, er wolle einen Teil seines
Taschengelds für den Wiederaufbau in Japan spenden. Enno, das wird nicht
reichen. Die Kosten der nuklearen Katastrophe summieren sich inzwischen auf
21,5 Billionen Yen (180 Milliarden Euro) und schon jetzt ist absehbar, dass
auch diese Summe längst nicht reichen wird. Fukushima – das ist auch ein
Albtraum, der nicht enden will.
9 Mar 2021
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## AUTOREN
Manfred Kriener
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