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# taz.de -- Fukushima und das AKW-Risiko: Die einkalkulierte Katastrophe
> Weil das Unwahrscheinliche eingetreten sei, schwenkte Merkel 2011 zum
> Atomausstieg. Eine richtige Entscheidung, nur die Begründung war falsch.
Bild: Fukushima: Das absolut Unwahrscheinliche wurde plötzlich sehr greifbar
Berlin taz | Das Unglück in Japan war ein Knaller mit weitreichenden
Folgen, speziell in Deutschland. [1][Erst im Herbst 2010], wenige Monate
vor dem Super-GAU in Fukushima, hatte die damalige schwarz-gelbe
Bundesregierung den unter Rot-Grün vereinbarten Atomausstieg gekippt und
die Laufzeit der deutschen Atomkraftwerke [2][um durchschnittlich 12 Jahre
verlängert]. Doch nach den eindrücklichen Bildern aus Japan sah die Lage
ganz anders aus.
Binnen weniger Tage wurde ein Laufzeitmoratorium verhängt, sieben ältere
Meiler gingen vom Netz, [3][zunächst vorläufig], im Sommer dann endgültig.
Und auch für alle anderen AKW wurde der Betrieb begrenzt. Ende 2022 sollen
die letzten deutschen Atomkraftwerke stillgelegt werden.
Den Grund für die Kehrtwende nannte die Bundeskanzlerin am 17. März 2011 in
einer Regierungserklärung. „Wenn, wie in Japan, das scheinbar Unmögliche
möglich, das absolut Unwahrscheinliche Realität wurde, dann verändert das
die Lage“, [4][sagte Angela Merkel im Bundestag]. Aber war der Super-GAU
tatsächlich absolut unwahrscheinlich? Hatte sich die Lage wirklich
geändert?
Die Sicherheit von Atomkraftwerken war von Beginn an umstritten. Klar war
nur, dass ein Restrisiko bleibt. Befürworter beschrieben dies als extrem
gering, schließlich komme es, so ein gern genanntes Argument, nur alle
10.000 Jahre zu einem schweren Unfall.
## Umstrittene Studie war Grundlage der Energiepolitik
Die Zahl war nicht einfach aus der Luft gegriffen. Sie stammt aus der
[5][“Deutschen Risikostudie – Kernkraft“], die 1979 im Auftrag des
Bundesforschungsministeriums erstellt wurde. Darin unterschieden die
Autoren insgesamt sechs „Freisetzungskategorien“, bei denen im Falle einer
Kernschmelze Spaltmaterial mit tödlichen Folgen in die Umwelt gelange. Die
Wahrscheinlichkeit, dass dies eintreffe, liege bei allen Kategorien
insgesamt bei 1 mal 10 hoch -4 mal a hoch -1. Oder anders formuliert: „Die
Wahrscheinlichkeit je Reaktorjahr für einen Kernschmelzunfall wurde mit
etwa eins zu zehntausend abgeschätzt“, mithin ein solcher Unfall pro 10.000
Jahren. Die Studie belege, schrieb der damalige Forschungsminister Volker
Hauff (SPD) im Vorwort, „daß störfallbedingte Risiken durch Kernkraftwerke
relativ klein sind“.
Nun kann man über den Wert der Studie streiten. Da es bekanntlich keine
Rückschau auf 10.000 Jahre Nutzung der Atomenergie geben kann, beruht sie
vor allem auf Annahmen, Vergleichen, Abschätzung, die man im Detail auch
immer anders hätte setzen können. So wurden „Störfälle durch
Kriegseinwirkung, Sabotage und Terrorismus gar nicht, Naturereignisse wie
Sturmfluten, Erdbeben oder Blitzschläge nur am Rande berücksichtigt“,
[6][kritisierte der Spiegel] schon kurz nach der Veröffentlichung.
Die Autoren selbst betonten, „daß es sich bei der vorliegenden Studie nicht
um eine exakte Risikoberechnung handelt, sondern um eine Risikoabschätzung,
die mit erheblichen Schätzunsicherheiten behaftet ist.“ Sie stellten sogar
die Frage, „inwieweit Ereignisabläufe mit extrem geringer
Wahrscheinlichkeit für die Bewertung von Risiken von Bedeutung sein
können“.
Aber die Studie war eine der Grundlagen deutscher Energiepolitik. Also muss
man sie so ernst nehmen wie der damalige Forschungsminister. Der sah sich
in seiner positiven Einstellung zur friedlichen Nutzung der Kernenergie
bestätigt. Ein gutes Dutzend AKW, darunter alle aktuell noch laufenden,
wurde nach Veröffentlichung der Studie in der Bunderepublik in Betrieb
genommen.
## Mehr als 400 Kernkraftwerke weltweit in Betrieb
„Alle 10.000 Jahre“, das klingt auf den ersten Blick beruhigend, auch weil
solche statistischen Angaben häufig falsch verstanden werden. Denn das
Ergebnis bedeutet nicht, dass erst in 10.000 Jahren ein AKW in die Luft
fliegt, sondern dass es im Schnitt alle 10.000 Jahre zu einem
unkontrollierbaren Unfall kommt – also viellleicht auch morgen schon. Aber
es bleibt dennoch extrem unwahrscheinlich, oder?
Auch das ist Ansichtssache. So liegt die Chance auf den Gewinn eines
Lottojackpots bei 1 zu 139.838.160. Wer also jeden Samstag seine sechs
Kreuze plus Zusatzzahl abgibt, gewinnt statistisch gesehen alle 2,7
Millionen Jahre. Das ist also 270 mal unwahrscheinlicher als eine
Kernschmelze in einem AKW. Dennoch geben nicht nur viele Menschen Geld für
Lottoscheine aus, sondern man liest sogar immer wieder davon, dass jemand
gewonnen hat. Das absolut Unwahrscheinliche wird also Realität, fast jede
Woche.
Das liegt daran, dass es nicht nur einen Lottospieler gibt, sondern mehrere
Millionen. So ähnlich läuft das auch bei den AKW. Zwar geht die Zahl der
Reaktoren zum Glück nicht in die Millionen. Aber weltweit sind über 400 in
Betrieb. Und es heißt eben nicht, dass es binnen 10.000 Jahren in
irgendeinem AKW zur Kernschmelze mit Freisetzung kommt, sondern in jedem
einzelnen.
## Statistisch gesehen ist alle 25 Jahre ein Unfall fällig
So wird das absolut Unwahrscheinliche plötzlich sehr greifbar. Denn bei 400
Reaktoren ist statistisch gesehen ein Unfall alle 25 Jahre fällig. Und 25
Jahre, das ist exakt der Abstand zwischen Tschernobyl 1986 und Fukushima
2011, zwischen den beiden bisher registrierten Super-GAUs.
Ein Zufall? Ja sicher. Es hätten genauso gut 2 Tage oder 200 Jahre
dazwischen liegen können, ohne dass die Erwartung der Risikoforscher
widerlegt worden wäre. Man muss auch wissen, dass die Autoren selbst
angaben, dass nicht jede Kernschmelze mit radioaktiver Freisetzung wirklich
schlimm sei. Eine Katastrophe wie in Tschernobyl oder Fukushima hielten sie
für noch unwahrscheinlicher. Und spätere Studien rechneten das Risiko sogar
noch wesentlich kleiner. Aber dass die Autoren der „Deutschen Risikostudie“
mit ihrer Zahlenspielerei so richtig lagen, irritiert schon.
Und es zeigt, dass das absolut Unwahrscheinliche dann doch nur scheinbar
unmöglich ist, wie Angela Merkel es vor 10 Jahren formulierte. Fukushima
war kein Unfall, mit dem niemand rechnen konnte. Im Gegenteil: Fukushima
war exakt die Katastrophe, mit der Atompolitiker gerechnet hatten.
Auch mit ihrer Behauptung, dass der Unfall in Fukushima nun alles ändere,
lag Merkel leider falsch. In Deutschland ist der Atomausstieg zwar fest
geplant. Weltweit aber liegt die Zahl der aktuell betriebenen Reaktoren
[7][seit Beginn der 90er Jahre bei rund 440] – mit leicht steigender
Tendenz. Das Risiko also bleibt.
11 Mar 2021
## LINKS
[1] /Bundestag-beschliesst-laengere-Laufzeiten/!5133231
[2] /Atomsteuer-ab-Januar-2011/!5131583
[3] /Atomausstieg-mit-kleinem-Puffer/!5119669
[4] /AKW-Moratorium/!5124630
[5] https://www.grs.de/sites/default/files/pdf/Deutsche_Risikostudie_Kernkraftw…
[6] https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-39908738.html
[7] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/28688/umfrage/anzahl-der-ato…
## AUTOREN
Gereon Asmuth
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