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# taz.de -- Corona-Impfstoff in der EU: Von der Leyen am Pranger
> Es gibt Redebedarf, doch die EU-Kommissionspräsidentin will sich nicht
> äußern. Der Vorwurf des Nationalismus wird laut.
Bild: Wie viel deutsche Interessen fließen in von der Leyens EU-Politik?
Ein Interview mit dem ZDF brachte das Fass zum Überlaufen. Am Sonntagabend,
zur besten Sendezeit, stellte sich Ursula von der Leyen den Fragen im
„heute journal“. Trotz der [1][Lieferengpässe bei Corona-Impfstoffen] sei
man „gut vorangekommen“, sagte die Chefin der EU-Kommission. Inzwischen
seien 12 Millionen Menschen in der EU geimpft worden, das sei eine
„stattliche Zahl“.
In Berlin fand das Gespräch wenig Beachtung. Umso mehr Wirbel verursachte
der Fernsehauftritt in Brüssel. Am Montag beschwerten sich viele
EU-Korrespondenten beim Pressebriefing: Wieso richtet sich die Präsidentin
der EU-Kommission bei so wichtigen Fragen wie der [2][Impfstoffkrise] nur
an die deutsche Öffentlichkeit, warum steht sie nicht auch ausländischen
Medien Rede und Antwort? Warum wurden keine Fragen zum Eklat um Nordirland
gestellt, wieso dreht sich alles nur um Berlin und den deutschen
Impfgipfel?
Von der Leyens französischer Sprecher Eric Mamer hatte große Mühe,
Antworten zu finden. Natürlich werde seine Chefin auch europäischen Medien
Interviews geben, sagte er. Als Nächstes sei Le Monde an der Reihe. Und der
Streit um Nordirland, wo die EU-Kommission zunächst Ausfuhrbeschränkungen
für das Vakzin von AstraZeneca angekündigt hatte, was zu einem Aufschrei
der Empörung führte, sei doch längst beigelegt. Man habe einen Fehler
gemacht, ihn jedoch schnell wieder korrigiert.
Schon als Bundesverteidigungsministerin hatte sich Ursula von der Leyen
stets darum bemüht, die Kontrolle über ihre öffentlichen Äußerungen zu
behalten. Wo immer es ging, vermied sie es, dass ihre Antworten auf
unangenehme Fragen von Journalist:innen zitiert werden konnten. Während
ihrer Amtszeit hielt sie keine „klassischen“ Pressekonferenzen ab, sondern
lud lieber zu „Hintergrundgesprächen“ in den Berliner Bendlerblock. Bild-
und Tonaufnahmen waren nicht gestattet und die Ministerin durfte nicht
namentlich zitiert werden. Verwendet werden konnte nur ein kurzes,
vorbereitetes Statement, das sie stets im Anschluss in die Kameras sprach –
ohne den Journalist:innen dann noch die Möglichkeit zu ausführlicheren
Nachfragen zu geben.
## „Wie eine deutsche Ministerin“
Dieses Verhalten in ihrem jetzigen Amt sorgt bei internationalen
Journalisten für Ärger. Am Dienstag war die europäische Presse voller böser
Kommentare, manch einer forderte sogar von der Leyens Rücktritt. „Welche
Mücke hat von der Leyen gestochen?“, fragte Jean Quatremer von der
französischen Tageszeitung Liberation. Ihr Krisenmanagement zeuge von
Inkompetenz, Desorganisation und Paranoia.
Besonders ärgert sich Quatremer darüber, dass von der Leyen die
EU-Kommission „wie eine deutsche Ministerin“ führe – mit einem kleinen S…
deutscher Berater, unter Missachtung der Kommissare und der EU-Verwaltung.
Dass sie nun auch noch die deutschen Medien bevorzuge und ständig den
deutschen Pharmakonzern Biontech hofiere, zeuge von einem fragwürdigen
Amtsverständnis.
Der Vorwurf ist nicht neu, doch angesichts der schweren Coronakrise und der
anhaltenden Impfstoffknappheit bekommt er zusätzliche Brisanz. Verbirgt
sich hinter dem „europäischen Ansatz“ bei der Impfstoffbestellung etwa ein
heimlicher deutscher Gesundheitsnationalismus? Denkt von der Leyen vor
allem an Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn, wenn
sie ihre Bestellungen im Namen der EU aufgibt? Die CDU-Politikerin
bestreitet das. Alles sei mit allen 27 EU-Staaten abgestimmt, betont ihr
Sprecher. Deutschland sei nur ein Land von vielen, in der EU-Kommission
denke und handele man europäisch.
Dabei vertraut von der Leyen tatsächlich mehr als alle anderen Kommissare
auf deutsche Berater, die sie aus ihrem Berliner Amt im
Verteidigungsministerium nach Brüssel mitgebracht hat. Zudem wurden die
entscheidenden Weichen für die holprige europäische Impfstrategie gemeinsam
mit Merkel und Spahn gestellt – während des deutschen EU-Vorsitzes von Juli
bis Dezember 2020. Damals fiel auch die Entscheidung zugunsten von
AstraZeneca, die nun so viel Ärger macht und die EU um Wochen zurückwirft.
## Treffen hinter verschlossenen Türen
Sauer sind deshalb nicht nur die Journalisten, sondern auch viele
Europaabgeordnete. „Ursula von der Leyens Versprechen, dass bis zum Ende
des Sommers 70 Prozent der Europäer*innen geimpft sein sollen, ist sehr
ambitioniert“, kritisiert der grüne EU-Abgeordnete Rasmus Andresen. Sie sei
die Antwort schuldig geblieben, wie dieses Ziel trotz der Probleme noch
erreicht werden soll. „Von der Leyens Impfversprechen wackelt“, so
Andresen. „Die EU-Kommission braucht dringend einen Plan B.“
Auch aus Deutschland kommt Kritik an der EU-Kommissionpräsidentin. „Es muss
einen europäischen Impfstoffgipfel geben, bei dem sich von der Leyen mit
den Mitgliedsländern und aktuellen und potenziellen Herstellern entlang der
Lieferketten an einen Tisch setzt“, fordert Franziska Brantner,
europapolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. Nach den vielen
Irritationen, so Brantner weiter, sollte von der Leyen auch personelle
Schwachstellen oder Engpässe in der EU-Kommission überprüfen.
Bei den Sozialdemokraten und Liberalen in der EU-Kommission rumort es, seit
von der Leyen von [3][Exportbeschränkung spricht und sich protektionistisch
gibt]. Um einen Aufstand im EU-Parlament zu verhindern, griff die
Kommissionschefin zu einem ungewöhnlichen Mittel: Am Dienstag stellte sie
sich außerplanmäßig den Fragen der Abgeordneten. Allerdings nicht in einer
öffentlichen Plenarsitzung, sondern in vertraulichen Treffen mit den großen
EU-freundlichen Fraktionen.
Damit sorgt sie für neuen Ärger. „Von der Leyen zieht Treffen hinter
verschlossenen Türen und den Mangel an Transparenz wieder einmal
demokratischer Kontrolle vor“, kritisiert der Fraktionschef der Linken,
Martin Schirdewan. Linke, Grüne und auch einige Sozialdemokraten fordern,
dass die EU mit ihrem bisherigen Vorgehen bricht und Artikel 122 aktiviert
– eine Art Notfallklausel im EU-Vertrag. So könnten die Patente freigegeben
und die Produktion von Impfstoffen könnte angekurbelt werden.
Auch EU-Ratspräsident Charles Michel unterstützt diesen Ansatz. Doch von
der Leyen will davon nichts wissen. Schließlich wäre es ein Eingeständnis,
dass ihre Strategie nicht funktioniert. Und das wäre wohl das Letzte, was
die EU-Chefin jetzt gebrauchen kann. Lieber gibt sie weitere Interviews,
wenn es sein muss, auch über deutsches Fernsehen hinaus.
2 Feb 2021
## LINKS
[1] /Weniger-Impfstoff-von-AstraZeneca/!5743297
[2] /Probleme-beim-Impfstart-in-Europa/!5743899
[3] /Exportkontrollen-bei-Coronavakzinen/!5743296
## AUTOREN
Eric Bonse
Pascal Beucker
Sabine am Orde
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