# taz.de -- Probleme beim Impfstart in Europa: Mehr Geimpfte, noch mehr Kritik | |
> Überlastete Hotlines und Widersprüche bei der Zulassung: | |
> Negativschlagzeilen dominieren den Impfstart in Europa. Sie verdecken | |
> Fortschritte. | |
Bild: Ein Lichtblick: Die Impfungen in Alten- und Pflegeheimen kommen voran, wi… | |
BERLIN/BRÜSSEL taz | Es ist eine Entwicklung, die sich nahtlos in die | |
vielen Rückschläge, Widersprüche und Unklarheiten beim Start der | |
Corona-Impfungen in Europa einreiht: Die Europäische Arzneibehörde hat am | |
Freitagnachmittag empfohlen, den Impfstoff, den die Universität Oxford | |
zusammen mit dem Pharmaunternehmen AstraZeneca entwickelt hat, als dritten | |
Impfstoff in der Europäischen Union zuzulassen, und zwar für alle Menschen | |
über 18. Die deutsche Impfkommission war allerdings zuvor zu einer anderen | |
Einschätzung: Der Impfstoff von AstraZeneca soll nur bei Personen | |
eingesetzt werden, die [1][jünger als 65 Jahre sind], entschied sie am | |
Freitag. Denn für ältere gebe es bisher nicht genug Daten. | |
Die Impfpläne werden so noch weiter durcheinander geraten. Zuvor hatte | |
Astrazeneca bereits mitgeteilt, dass die EU bis Ende März statt der | |
geplanten 80 Millionen Impfdosen [2][nur 31 Millionen erhalten soll]. Und | |
bei dem Impfstoff, den Biontech zusammen mit dem US-Konzern Pfizer | |
vertreibt, fiel die Liefermenge in dieser Woche wie angekündigt deutlich | |
geringer aus als ursprünglich geplant, weil ein Werk in den Niederlanden | |
umgerüstet wird. | |
Dieser Engpass verschärft die ohnehin schon chaotische Lage in vielen | |
Bundesländern. Länder, die die zweite Impfdosis nicht zurückgelegt, sondern | |
dafür auf die neuen Lieferungen gesetzt hatten, können derzeit kaum | |
Erstimpfungen durchführen und müssen teils geplante Termine wieder | |
absagen. Und dort, wo Termine vergeben werden, bricht die Infrastruktur | |
[3][unter dem Andrang teils komplett zusammen]. | |
Etwa in Niedersachsen, wo am Donnerstag die Terminvergabe für alle begann, | |
die älter als 80 Jahre sind und nicht in Heimen leben: Rund 500.000 | |
Menschen waren dort auf einen Schlag berechtigt, sich impfen zu lassen. Dem | |
standen 250 Mitarbeiter*innen an einer Telefonhotline und eine völlig | |
überlastete Website gegenüber. Die zunächst zur Verfügung stehenden 15.000 | |
Termine waren nach gut einer Stunde vergeben, die ganz überwiegende Zahl | |
der Impfwilligen blieb frustiert zurück. Ähnlich unbefriedigend war der | |
Impfstart außerhalb der Pflegeheime am Montag in Nordrhein-Westfalen | |
verlaufen. | |
## Mangel war absehbar | |
Doch auch wenn die Länder die Terminvergabe weitaus besser hätten | |
organisieren können: Dass es anfangs nicht genug Impfstoff für alle | |
Interessenten geben würde, war von Anfang an absehbar. Von den schon | |
zugelassenen Impfstoffen von Biontech und Moderna wurden bisher rund 3,5 | |
Millionen an die Bundesländer ausgeliefert. | |
Rund 2,2 Millionen davon sind bisher verimpft worden. Die Differenz liegt | |
vor allem daran, dass viele Länder die zweite Dosis, die drei Wochen nach | |
der ersten gespritzt werden soll, sicherheitshalber zurückhalten. Die Zahl | |
der täglich verabreichten Dosen hat sich zuletzt bei knapp 100.000 | |
eingependelt. | |
Das Chaos bei den Impfterminen verdeckt aber, dass es zumindest bei den | |
besonders Gefährdeten gut vorangeht: Von den rund 800.000 Menschen, die in | |
deutschen Pflegeheimen leben, haben bis Freitag rund 560.000 zumindest ihre | |
erste Spritze erhalten, zeigt die [4][Statistik des | |
Robert-Koch-Instituts]. „Bis Mitte Februar werden wir allen | |
Pflegeheimbewohnern ein Impfangebot machen können“, ist Jens Spahn | |
überzeugt. | |
Der CDU-Gesundheitsminister scheint ohnehin genervt von den negativen | |
Schlagzeilen und den damit verbundenen Schuldzuweisungen. Schließlich sei | |
nur ein Jahr nach dem Ausbruch der Corona-Epidemie nun schon der dritte | |
Impfstoff zugelassen worden und weitere würden in Kürze folgen, sagte Spahn | |
am Freitag. „Das ist eine Erfolgsgeschichte.“ | |
Das sehen nicht nur in Deutschland viele Menschen anders. In vielen | |
EU-Staaten ist die Lage noch wesentlich kritischer – und die Stimmung daher | |
noch schlechter. Portugal hat den Notstand ausgerufen und die Armee um | |
Hilfe gebeten. Spanien musste die Impfungen wegen Impfstoffmangel | |
vorübergehend einstellen, Frankreich hat seine Kampagne wegen Engpässen | |
beim Hersteller Moderna heruntergefahren. Italien droht dem US-Konzern | |
Pfizer wegen gekürzter Lieferungen mit einer Klage, und Belgien überprüft, | |
ob es im örtlichen Werk von Astrazeneca wirklich Produktionsprobleme gibt. | |
Der britisch-schwedische Konzern steht in Brüssel derzeit im Mittelpunkt | |
der Kritik, nachdem er mit Verweis auf Anlaufschwierigkeiten in seinem | |
belgischen Werk die vereinbarten Liefermengen drastisch gekürzt hat. Diese | |
Begründung stellt weder Belgien noch die EU zufrieden. „Wir wollen wissen: | |
Was ist los?“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am | |
Freitag. AstraZeneca habe sich verpflichtet, die Impfstoffe auf Halde zu | |
produzieren, heißt es in Brüssel. Deshalb könne sich der Konzern nun nicht | |
mit aktuellen Problemen herausreden. Der Vertrag mit dem Unternehmen, den | |
die EU-Kommission am Freitag auf Druck vieler Mitgliedstaaten | |
veröffentlichte, trägt zur Klärung nur wenig bei, weil entscheidende Teile | |
darin geschwärzt sind. | |
Ebenfalls am Freitag beschloss die EU dann eine | |
„Ausfuhrgenehmigungspflicht“ für Corona-Imfpstoffe. Alle Pharmakonzerne, | |
die mit der EU Lieferverträge abgeschlossen haben, müssen demnach künftig | |
Lieferungen an Drittstaaten in Brüssel anmelden. | |
Der Ärger mit AstraZeneca ist aber nur das letzte Beispiel für eine | |
monatelange Pannenserie, die die gesamte Impfstrategie der EU infrage | |
stellt und die sich, ähnlich wie schon im Frühjahr, zu einer EU-Krise | |
ausweiten könnte. | |
Angefangen hat alles bereits im August 2020, unter deutschem EU-Vorsitz. | |
Damals unterzeichnete die EU-Kommission ihren Vertrag mit AstraZeneca. Der | |
Deal kam allerdings erst zweieinhalb Monate nach einem Vorvertrag zustande, | |
den Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande ausgehandelt | |
hatten. | |
Die Impf-Allianz, die Spahn initiiert hatte, war auf Drängen von Kanzlerin | |
Angela Merkel und von der Leyen in eine Gemeinschaftsinitiative übergeführt | |
worden. Damit wollten Merkel und Leyen verhindern, dass es wie zu Beginn | |
der Coronakrise zu nationalen Alleingängen kam. Gleichzeitig wollten sie | |
mit der geballten Marktmacht von 27 Ländern für bessere Konditionen bei den | |
Pharmakonzernen sorgen. | |
Doch die EU nahm weniger Geld in die Hand als die USA – und sie kam auch | |
langsamer voran. Nicht nur der Vertrag mit AstraZeneca wurde | |
hinausgezögert. Auch bei den Deals mit Biontech/Pfizer und Moderna war | |
Brüssel in Verzug. Am Ende brauchte auch noch die Zulassung mehr Zeit als | |
in Großbritannien oder in den USA. Spahn musste Druck bei der EMA machen, | |
damit die Genehmigung für den ersten Impfstoff noch rechtzeitig zu | |
Weihnachten kam. | |
„Dies ist Europas Moment“, feierte von der Leyen den späten Erfolg. Dabei | |
war die EU bereits weit zurückgefallen. Dies rächt sich nun; die Probleme | |
bringen die Kommissionschefin sogar persönlich in Bedrängnis. Von der Leyen | |
muss sich für die späte Bestellung und die Lieferprobleme rechtfertigen – | |
dabei war ihre Behörde vor allem ausführendes Organ für die 27 | |
Mitgliedsstaaten. Die Fäden liefen in Berlin zusammen, bei Merkel und | |
Spahn. | |
Die Kanzlerin und ihr Gesundheitsminister sorgten nicht nur dafür, dass | |
Brüssel die meisten Vakzine bei den beiden deutschen Herstellern Biontech | |
und CureVac bestellte. Sie sicherten sich auch noch deutsche Extradosen aus | |
der Gemeinschaftsbestellung. Sogar die Zusatzbestellung, die von der Leyen | |
Anfang Januar bei Biontech aufgegeben hat, kommt Deutschland und dem neuen | |
Werk in Marburg zugute. | |
## Gute Zwischenergebnisse | |
In vielen anderen EU-Staaten sieht es völlig anders aus. In ihrer | |
Verzweiflung attackieren Spanien, Italien und Schweden die EU-Kommission | |
und fordern Nachbesserungen. Österreich, Tschechien, Dänemark und | |
Griechenland haben sogar Ratspräsident Charles Michel um Hilfe gerufen. | |
Der hat nun bisher noch nie genutzte Notmaßnahmen ins Spiel gebracht – bis | |
hin zu Zwangslizenzen für Impfstoffe. Das lehnt die Bundesregierung bisher | |
ab. Spahn etwa verweist darauf, dass die Hersteller ohnehin schon auf die | |
Produktionsstätten anderer Unternehmen zugreifen, um die Herstellung | |
schnell auszuweiten. | |
Schon im zweiten Quartal, so hofft die Bundesregierung weiterhin, sollen | |
die Liefermengen darum stark steigen und die Impfungen deutlich | |
beschleunigt werden. Und noch im Sommer soll jeder Impfwillige die erste | |
Spritze bekommen, versichert Spahn weiterhin – wobei es dabei mittlerweile | |
nicht mehr um den meteorologischen Sommer geht, sondern um den | |
kalendarischen, der am 21. September endet. Weil wenige Tage später die | |
Bundestagswahl stattfindet, dürfte es auch politisch relevant werden, ob | |
dieses Versprechen eingehalten wird. | |
Helfen könnte dabei die Tatsache, dass es bei weiteren Impfstoffen gute | |
Zwischenergebnisse gibt: Der US-Konzern Novavax meldete am Dienstag eine | |
Wirksamkeit von rund 90 Prozent in seiner Phase-2-Studie, und zwar auch | |
gegen die britische Virusmutation. Die EU befindet sich mit dem Unternehmen | |
bereits in Vertragsverhandlungen; über den genauen Stand machte die | |
Kommission am Freitag keine Angaben. Der Pharmahersteller Johnson & Johnson | |
berichtete am Freitag, in verschiedenen Studien sei eine Wirksamkeit von 57 | |
bis 72 Prozent festgestellte worden, und kündigte an, schon nächste Woche | |
die Notfallzulassung in den USA zu beantragen. | |
Und auch beim Impfstoff von AstraZeneca, mit dem in Deutschland nur | |
Menschen bis 65 geimpft werden, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. | |
Denn anders als von einigen Medien berichtet, haben die bisherigen Studien | |
nicht ergeben, dass er bei Älteren eine geringere Wirksamkeit hat. Es gibt | |
bisher lediglich zu wenig Daten, um die Wirksamkeit zu beurteilen. Das wird | |
sich aber ändern, sobald weitere Studienergebnisse vorliegen. Oder | |
Erfahrungen aus Großbritannien, wo der Impfstoff bereits genutzt wird – und | |
zwar ohne Altersbeschränkung. | |
29 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Aktuelle-Nachrichten-in-der-Coronakrise/!5747919 | |
[2] /Weniger-Impfstoff-von-AstraZeneca/!5743297 | |
[3] /Am-Impftermin-fuer-Corona-scheitern/!5746226 | |
[4] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Impfquot… | |
## AUTOREN | |
Malte Kreutzfeldt | |
Eric Bonse | |
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