# taz.de -- Verkehrspolitik und Mobilitätswende: Albtraum Auto | |
> Teuer, schmutzig, laut: Das System des individuellen Kraftfahrzeugs ist | |
> ein Auslaufmodell. Eine Verkehrswende ist dringend nötig. | |
Das geht nicht, dachte sich ein Autofahrer, der sich in seiner automobilen | |
Freiheit beschränkt sah, als ihm [1][nur noch zwei anstatt drei | |
Fahrstreifen zur Verfügung] standen. [2][In erster Instanz wurde seine | |
Klage positiv beschieden], der Berliner Senat muss seine Begründung | |
überarbeiten. | |
Hintergrund ist, dass die Einrichtung einer sicheren Radinfrastruktur laut | |
StVO einen besonderen Grund haben muss. Die Tatsache, dass derzeit fast 60 | |
Prozent der Verkehrsflächen von Kraftfahrzeugen genutzt werden und dem 3 | |
Prozent für Radverkehrsanlagen gegenüberstehen, reicht nicht. Das | |
Verwaltungsgericht monierte somit, dass die von der StVO geforderte | |
„spezielle Gefahrenlage“ nicht klar dargelegt sei; die neuen Radwege seien | |
wieder abzubauen. Die allgemeine Gefahrenlage [3][(dieses Jahr sind zum | |
Beispiel bereits 14 RadfahrerInnen in Berlin getötet worden]) reicht nicht. | |
Wie hat sich der Autoverkehr eigentlich den enormen Raum verdient, der ihm | |
allerorten zugesprochen wird? Vielleicht durch Steuern? | |
Nein. Autofahrer bezahlen für nicht einmal die Hälfte aller von ihnen | |
verursachten Kosten. Den Rest zahlen alle – also auch Radfahrer, Fußgänger | |
oder Nutzer des öffentlichen Verkehrs. Denn wer bei den Kosten des | |
Kfz-Verkehrs nur an den Bau und Erhalt von Straßen denkt, vergisst einiges: | |
Bau und Unterhalt von Parkplätzen, Straßenreinigung, Straßenbeleuchtung und | |
Straßenentwässerung, erhebliche Mehraufwendungen bei Feuerwehr, Polizei, | |
Wirtschaftsförderung, Grünflächenämtern und städtischen Bauhöfen. | |
Je nach Kommune sind bei Einrechnung dieser Nebenkosten laut Verkehrsclub | |
Deutschland (VCD) nur 15 bis 45 Prozent der Kfz-Ausgaben durch Einnahmen | |
gedeckt. Jeder Bürger finanziert somit den städtischen Autoverkehr mit | |
durchschnittlich 150 Euro pro Jahr mit. Und darin enthalten sind noch nicht | |
einmal die Unfallfolgekosten von knapp 30 Milliarden Euro im Jahr, die | |
kapitalisierbaren Umweltkosten und die gesundheitlichen Schäden etwa durch | |
Lärm- und Feinstaubbelastung! | |
Anders als die gefühlte Wirklichkeit vermuten ließe, sind Autofahrer also | |
nicht die Melkkühe, sondern die Schmarotzer des Systems. | |
Und haben ungewöhnliche Rechte. Wer käme etwa auf die Idee, seinen | |
Kleiderschrank auf die Straße zu stellen, sich dort ab und an ein frisches | |
Hemd zu holen und zu glauben, darauf ein kostenfreies Anrecht zu haben? | |
Autofahrer hingegen stellen millionenfach ihre Stehzeuge (gefahren wird so | |
ein Auto durchschnittlich lediglich eine Stunde pro Tag) kostenfrei in | |
unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung ab. Sie beherrschen so das Stadtbild, | |
behindern die Mobilität andere Verkehrsteilnehmer (besonders von Menschen, | |
die mit einem Rollstuhl oder Kinderwagen unterwegs sind) und blockieren | |
schlicht Raum. Gesellschaftlich ist das akzeptiert, gilt als normal und ist | |
legal. | |
Wie [4][wäre es mit einem Bewusstseinswandel] – und einer Neufassung des | |
entsprechenden Paragrafen 12 StVO, der festlegt, wann das Halten und Parken | |
von Kraftfahrzeugen unzulässig ist. Parken könnte zum Beispiel | |
grundsätzlich verboten sein, es sei denn, es wird anhand von Schildern | |
ausdrücklich erlaubt. Zugleich wäre es im Sinne der Gleichbehandlung von | |
Mietern und Autofahrern angemessen, die Parkgebühren dem örtlichen | |
Mietspiegel anzupassen; schließlich geht es um die private Nutzung | |
öffentlichen Raumes. | |
Was würde das konkret bedeuten: In Berlin beträgt der Quadratmeterpreis | |
einer Mietwohnung derzeit durchschnittlich 13,56 Euro. Bei einer | |
Parkplatzgröße von 12 Quadratmetern und einer durchschnittlichen | |
Wohnhausgröße von sechs Stockwerken ergäbe sich als monatlicher Mietpreis | |
für einen Parkplatz in mittlerer Lage ein Betrag von 976,32 Euro. Das | |
entspricht einer täglichen Gebühr von 32,54 Euro und einem Stundentarif von | |
1,36 Euro. Nicht eingerechnet sind hier die anteiligen Kosten für Reinigung | |
und Beleuchtung des Parkplatzes, sodass eine Gebühr von 1,5 Euro pro Stunde | |
zumindest kostendeckend wäre. Deutlich platzsparender, im öffentlichen | |
Raum schöner und der Lagerung ungenutzter Dinge angemessener wären | |
stattdessen privat finanzierte Tiefgaragen. | |
Aber wie soll das denn gehen?, heißt es in hitzigen Diskussionen stets, | |
Auto fahren ist ohnehin schon so teuer, und es sind doch so viele Menschen | |
auf das Auto angewiesen! Dass Auto fahren auch für den Autofahrer teuer | |
ist, stimmt. Der ADAC hat vorgerechnet, dass selbst der günstigste | |
Kleinwagen (ein Citroën C1 VTi 72 Stop&Start) zusätzlich zum | |
Anschaffungspreis ganze 331 Euro im Monat, also fast 4.000 Euro im Jahr | |
kostet. Nur mal so zum Vergleich: Eine Jahreskarte für den Berliner ÖPNV | |
kostet im Abonnement 728 Euro. Und der Unterhalt eines Fahrrads vielleicht | |
200 Euro. Wer also mit Rad und ÖPNV fährt, hat jährlich noch mehr als 3.000 | |
Euro gespart und, selbst wenn er diese in Mietautos und Taxifahrten | |
investiert, immerhin den Parkraum entlastet. | |
Und wer genau ist eigentlich auf das Auto angewiesen? Längst nicht jeder. | |
Ganze 60 Prozent aller mit dem Auto zurückgelegten innerstädtischen | |
Wegstrecken sind kürzer als 5 Kilometer – und damit für die meisten | |
Menschen gut zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu bewältigen. Zumal wenn es dank | |
guter Infrastruktur mehr Spaß machen würde! | |
Aber ist es denn überhaupt nötig, das Auto in die Defensive zu drängen? | |
Zumindest bei den erhitzten Diskussionen in Leserbriefspalten könnte der | |
Eindruck entstehen, das Auto führe ohnehin nur noch ein unterdrücktes | |
Nischendasein und müsse seine letzten Räume verteidigen. | |
Fakt ist indes, dass am 1. Januar des Jahres 2020 rund 47,7 Millionen | |
Fahrzeugen in Deutschland zugelassenen waren – das sind 6 Millionen mehr | |
als zehn Jahre zuvor und ist insgesamt der höchste Wert aller Zeiten. Das | |
Sterben des Autos zeigt sich also an seinem konstanten Wachstum. | |
Und das nicht nur in der Anzahl, sondern auch in der Größe – mit dem Alter | |
geht das Auto immer mehr in die Breite. Der VW Golf zum Beispiel war bei | |
seiner Entwicklung 1974 noch 17 Zentimeter schmaler als 2019. Und ist | |
dennoch noch ein Hänfling im Vergleich zu den als SUV bezeichneten modernen | |
Minipanzern, die inzwischen ein Fünftel der Neuzulassungen ausmachen. | |
Wobei der SUV ein schönes Beispiel für Handlungsmöglichkeiten der Politik | |
ist. So ein Gefährt hat nämlich für den Insassen durchaus Vorteile. Man | |
sitzt schön hoch, bequem und sicher – für die individuelle Kaufentscheidung | |
ist das wichtig. Zugleich sind SUVs allerdings aufgrund ihrer Größe und | |
Geometrie für alle anderen Verkehrsteilnehmer gefährlicher als herkömmliche | |
Pkws. | |
Radfahrer und Fußgänger etwa prallen bei Unfällen gegen harte Strukturen, | |
besonders Kinder können dabei schwer verletzt werden. Zudem stürzen | |
Menschen, die von einem SUV angefahren werden, häufig deutlich ungünstiger | |
auf den Boden, als wenn sie von einem anderen Fahrzeug getroffen werden. | |
Auch Pkw-Insassen werden bei einem Zusammenstoß mit einem SUV schwerer | |
verletzt als beim Zusammenstoß mit einem Auto derselben Gewichtsklasse. | |
Diese Ergebnisse sind übrigens nicht selbst ausgedacht, sondern beim ADAC | |
nachlesbar. Kauf und Nutzung solcher gesellschaftlich dysfunktionalen | |
Gefährte auch noch etwa durch das Dienstwagenprivileg zu fördern ist | |
politisch fragwürdig. | |
Denn es bringt zwar Freude, Dinge im Konsens lösen zu können. Ein | |
realistischer Blick auf unsere Straßen zeigt jedoch, dass eine | |
Verkehrswende ohne mutige Entscheidungen nicht funktionieren wird. Eine | |
davon wäre, alle Verkehrsmittel zunächst rechtlich zumindest | |
gleichzustellen: Durch grundlegende Änderungen in StVO und StVG würden | |
zukunftsträchtige, gesunde und ökologische Mobilitätsformen wie das | |
Radfahren und Zu-Fuß-Gehen als Verkehr anerkannt werden, deren Flüssigkeit | |
und Sicherheit gewährt werden muss. Zudem könnte die Subventionierung | |
individueller Mobilitätsformen eingestellt werden. | |
Dazu gehören die Einstellung des Dienstwagenprivilegs, eine durchgängige | |
Parkraumbewirtschaftung und eine Verlagerung der durch Automobilität | |
verursachten, derzeit von der Gesellschaft getragenen Kosten auf deren | |
Verursacher. Die frei werdenden Gelder könnten in den Ausbau einer modernen | |
Umweltverbund-Infrastruktur fließen. Und nicht zuletzt würde eine | |
innerstädtische Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 Stundenkilometer | |
bedeuten, dass Unfallzahlen gesenkt, Umweltschäden verringert würden und | |
der Verkehrsfluss gefördert würde – schließlich verlangt ein langsameres | |
Tempo weniger Sicherheitsabstand und erlaubt somit mehr Fahrzeuge auf der | |
gleichen Fläche im Fließverkehr. | |
Eine Verkehrswende, die diesen Namen verdient, würde zum einen Rad- und | |
Fußverkehr nicht mehr als Resterampe für übrig bleibenden Platz und übriges | |
Geld ansehen, und zum anderen nach vierzig Jahren des Spardiktats den | |
öffentlichen Verkehr wieder als das Rückgrat jeder Infrastruktur begreifen. | |
Das Auto jedoch kann nicht flächeneffizient organisiert werden, es ist | |
teuer, schmutzig, laut, gefährlich – und deshalb ein Auslaufmodell. | |
5 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Kerstin Finkelstein | |
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