# taz.de -- Berliner Mobilitätsgesetz: Ein Meilenbordstein | |
> Berlin erweitert sein Mobilitätsgesetz. Womöglich kommt man jetzt endlich | |
> ohne Leistungssporthintergrund zu Fuß bei Grün über die Ampel. | |
Bild: Die 1. Deutsche Meisterschaft im Ampelwettlaufen, am 20. August 2020 in B… | |
BERLIN taz | Viel ist in den letzten Jahren über Wutbürger geschrieben | |
worden, wo nur irgendwelche fremden-, frauen- oder sonst wie | |
menschenfeindlichen Jammerlappen gemeint waren. Wer wirkliche, aufrechte, | |
würdige Wutbürger sehen will, der begebe sich an eine der großen Berliner | |
Hauptverkehrsstraßen mit Mittelinsel. | |
Mittelinsel, allein der Name! Eine Insel im reißenden Verkehrsstrom, und | |
wie Robinson Crusoe fühlt sich auch der Verkehrsteilnehmer ohne Gefährt, | |
der versucht, die Straße während des kurz höhnisch aufflackernden grünen | |
Lichtblitzes der Fußgängerampel zu überqueren, und dort strandet. Denn es | |
ist schlechterdings unmöglich, beide Fahrtrichtungen auf einmal zu | |
schaffen, wenn man nicht gerade Usain Bolt ist. | |
Stattdessen harrt man einsardint zwischen anderen Verkehrsplanungsopfern | |
aus, eine ganze Auto-Grünphase lang, die etwa so lange dauert wie die | |
Wartezeit auf einen Impftermin in Nordrhein-Westfalen, bevor man dann | |
tatsächlich die Expedition zur rettenden anderen Straßenseite antreten | |
kann. Und wehe dem, der diagonal über die Kreuzung muss und beim Passieren | |
der Querstraße dann vom nächsten Rechtsabbieger in seinem Privatpanzer | |
umgenietet wird. 100 Jahre Mobilitätspolitik in a Mittelinsel. | |
Dass die viel geschmähte rot-rot-grüne Berliner Regierung nun ihr ohnehin | |
schon eine Vorreiterrolle einnehmendes Mobilitätsgesetz um einen eigenen | |
Fußgängerteil erweitert hat, ist nicht weniger als ein Meilenbordstein in | |
die richtige Richtung. Geplant sind Ampelphasen, die es Fußgängern ohne | |
Leistungssporthintergrund erlauben, einfach so bei Grün über die Straße zu | |
kommen. Weitere Maßnahmen wie Bordsteinabsenkungen, Orientierungskanten für | |
Sehbehinderte und Blindenampeln sollen Benachteiligten zu mehr Sicherheit | |
verhelfen, Bänke sollen eingerichtet werden, um Ältere zu unterstützen, der | |
Schulweg für Kinder soll sicherer gemacht und bürokratische Hindernisse bei | |
der Umsetzung aus dem Weg geräumt werden. | |
Vorschrift vs. Wirklichkeit | |
Nun ahnt natürlich jeder Insasse Berlins, was das zunächst bedeutet: nichts | |
nämlich. Wer in dieser Stadt leben muss, weiß, was er beispielsweise von | |
der im Gesetz verankerten Behördenpflicht zu halten hat, die Gehwege in | |
Schuss zu halten. Drehbuchanweisung: irres Kichern. Denn nur, weil es in | |
der Hauptstadt irgendwelche Vorschriften gibt, heißt das noch lange nicht, | |
dass etwas davon in die Wirklichkeit übertragen wird. Falls doch, dann mit | |
hoher Sicherheit zu langsam oder so falsch, dass das Ergebnis am Ende noch | |
trauriger ist als der Ausgangspunkt. | |
Geschenkt. Das ist eben die Aufgabe Berlins: den anderen Regionen des | |
Landes ein besseres Gefühl in ihren trostlosen Wohnumfeldern zu vermitteln, | |
weil es im Vergleich selbst im ödesten Provinzkaff immer noch effizient, | |
zügig und funktional zugeht. | |
Jedoch: Der Wille ist ein zu lobender! Und eine Idee, die in Berlin einmal | |
in die Welt gesetzt wird, hat gute Chancen, anschließend ins Land hinaus zu | |
wirken, wo sie dann anderswo womöglich sogar auf Behörden trifft, die in | |
der Lage sind, sie umzusetzen. | |
Autos verdrängen | |
Denn das Gesetz unterstreicht den Kernpunkt der bundesweit anstehenden | |
Verkehrswende. Wo bislang im Verkehrsfluss gewordenen Kapitalismus immer | |
der Schnellere und Stärkere im Recht war, müssen zukünftig die Schwächeren, | |
Langsameren, aber gesellschaftlich Verträglicheren bevorzugt werden. Die | |
einzige Lösung kann nur lauten: Vorrang für Fußgänger und Radfahrer vor | |
Autofahrern. Das umweltschädlichste, platzverschwenderischste und | |
gefährlichste Verkehrsmittel muss zurückgedrängt werden, wo immer es geht. | |
Selbst wenn man sich für diesen Zweck mit so tendenziell unangenehmen | |
Gehhilfen wie dem Fußgänger-Lobbyverband Fuss e. V. behelfen muss, der | |
parallel auch noch einen Kleinkrieg gegen Radfahrer führt und statt einen | |
schlagkräftigen Akteur für eine bessere Verkehrswelt lieber häufig den mit | |
der Krücke am Wegesrand herumwedelnden Meckeropa und damit der | |
CDU/FDP/AfD-Propagandalüge vom gemeingefährlichen „Kampfradler“ als | |
relevantes gesellschaftliches Problem Futter gibt. | |
Dabei wird es ohnehin nur zusammen gehen: mit Fußgängern, Radlern und | |
öffentlichem Verkehr eine attraktive und sichere Alternative zum | |
motorisierten Individualverkehr schaffen. Am Ende werden dann hoffentlich | |
selbst die eingeblechtesten Autofahrer erkennen, dass sie, wenn sie nach | |
zig Umrundungen des Blocks endlich einen Parkplatz gefunden haben, | |
letztlich doch auch einfach nur Fußgänger sind. | |
28 Jan 2021 | |
## AUTOREN | |
Heiko Werning | |
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