# taz.de -- Neues Asyl- und Migrationspaket der EU: Unwort des Jahres | |
> Die „Rückführungspatenschaft“ des EU-Migrationspakets kehrt Solidarität | |
> um. Es geht nicht mehr um das Teilen der Asyl-, sondern der | |
> Abschiebelast. | |
Bild: Fernbedienung und Bibel in einer Zelle in der Abschiebhaftanstalt Eisenh�… | |
Von den Plänen für das neue EU-Asylsystem, die die EU-Kommission am | |
Mittwoch vorgestellt hat, blieb ein Begriff hängen: | |
„Rückführungspatenschaften“. [1][Im Netz wurden] ihm noch am selben Tag | |
beste Chancen für die Wahl zum „Unwort des Jahres“ bescheinigt. | |
Auf das, was dahintersteckt, muss man erst mal kommen. Wenn in Brüssel von | |
„Solidarität“ im Zusammenhang mit Flucht und Migration die Rede war, war | |
damit in der Vergangenheit eines gemeint: Die Lasten der | |
Flüchtlingsaufnahme möglichst gleichmäßig zu verteilen. Das wird nun | |
umgedreht: Solidarität könne auch heißen, die Lasten der Abschiebungen zu | |
teilen, verkündete die Kommission. Es ist eine bemerkenswert peinliche | |
politische Verrenkung. | |
Regierungen wie die von Viktor Orbán in Ungarn leben von ihrer | |
Kompromisslosigkeit in der Flüchtlingsfrage. Doch statt wenigstens zu | |
versuchen, die Haltung der Visegrád-Staaten plus Österreich zu | |
sanktionieren, nahm die Kommission sie jetzt anbiedernd vor Kritik in | |
Schutz: „Die Sorge des einen ist nie legitimer als die des anderen. Alle | |
Sorgen verdienen es, angepackt zu werden“, sagte der Kommissar für die | |
Förderung des europäischen Lebensstils, Margaritis Schinas, am Mittwoch. | |
Doch die populistisch hochgepeitschte „Sorge“ vor angeblicher Überfremdung | |
und die [2][Bereitschaft zu Menschenrechtsbrüchen] ist eben nicht genauso | |
legitim wie das Anliegen, Grund- und Menschenrechte zu wahren und die daran | |
hängenden Lasten zu teilen. Wenn die Kommission mit demonstrativer | |
Indifferenz derartig vor Orbán buckelt, gibt sie sich als politischer | |
Akteur auf. Die „Abschiebepatenschaften“ wollen genau das kaschieren. | |
## Frontext bildet Abschiebeexperten aus | |
In ihrem Pakt schreibt die Kommission, dass im Schnitt in der EU jedes Jahr | |
rund 370.000 Asylanträge abgelehnt, aber nur etwa ein Drittel dieser | |
Personen abgeschoben werden. Sie erweckt den Eindruck, als läge es daran, | |
dass sich in der EU niemand um Abschiebungen kümmere und die | |
Abschiebepatenschaften (und ein zusätzlich zu ernennender | |
„Abschiebe-Koordinator“) diesen Mangel beheben würden. Das ist Unsinn. | |
Die Lasten der Abschiebungen sind längst europäisch kollektiviert: Seit | |
Jahren wird die EU-Grenzschutzagentur Frontex aufgerüstet, damit mehr und | |
schneller abgeschoben wird. Frontex koordiniert und finanziert heute | |
Abschiebungen der Mitgliedstaaten. Sie chartert dafür Flugzeuge und bucht | |
Sitzplätze auf Linienflügen. Frontex hilft den nationalen Ausländerbehörden | |
bei der Beschaffung von Pässen und verhandelt mit den Behörden in den | |
Zielländern. | |
Sie baut einen Pool von spezialisierten Abschiebeexperten, | |
„Escort-Officers“ genannt, auf. Für diese „Return“-Aktivitäten kann F… | |
in diesem Jahr 70 Millionen Euro, die aus Brüssel kommen, ausgeben. | |
Nächstes Jahr werden es noch mehr sein. Und übernächstes wohl auch. | |
Dass trotzdem „nur“ ein Drittel aller Abgelehnten pro Jahr abgeschoben | |
werden, liegt nicht daran, dass die armen Außengrenzen-Staaten mit den | |
Abschiebungen alleingelassen werden und es deshalb die Patenschaften | |
bräuchte. | |
Der Grund ist, [3][dass viele Menschen] trotz abgelehnten Asylantrags nicht | |
abgeschoben werden können: Weil sie krank sind oder in Ausbildung, weil sie | |
minderjährig sind, weil sie aus einem Kriegsgebiet stammen, weil sie keinen | |
Pass haben, ihre Identität unklar ist, weil ein Gerichtsverfahren noch | |
nicht entschieden ist, weil sie untergetaucht sind oder weil ihre | |
Herkunftsländer sie nicht zurück nehmen. | |
Ein Teil von ihnen ist ausreisepflichtig, und trotzdem haben sie Rechte, | |
die einer Abschiebung entgegenstehen können. Und das ist auch richtig so. | |
Welchen Effekt werden da nun die „Abschiebepatenschaften“ haben? | |
## Entrechtung ist eingebaut | |
Die Kommission will festlegen, dass alle Staaten freiwillig Aufnahmequoten | |
erfüllen sollen. Machen sie das nicht, sollen sie ersatzweise eine Anzahl | |
abgelehnter Asylbewerber aus den Außengrenzen-Staaten abschieben. Dafür | |
haben sie pro Fall acht Monate Zeit. Gelingt ihnen das nicht, müssen sie | |
die Betreffenden doch selber aufnehmen. | |
Mal angenommen, das Modell der „Paten-Abschiebungen“ lässt sich umsetzen �… | |
und bulgarische Polizisten würden etwa nach Valletta reisen, um von dort | |
abgelehnte Asylsuchende nach Ghana zu bringen: Es ist zu bezweifeln, dass | |
Staaten, die seit Jahren die Konfrontation mit Brüssel suchen, um [4][keine | |
Flüchtlinge aufnehmen] zu müssen, sich um die Rechte der anderswo | |
abgelehnten kümmern. | |
Denn ansonsten müssten sie diese zu sich ins Land lassen. Die Entrechtung | |
der Flüchtlinge ist in dem Modell schon eingebaut. | |
25 Sep 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/hashtag/R%C3%BCckf%C3%BChrungspatenschaften | |
[2] /Gefluechtete-in-Griechenland/!5715343 | |
[3] /Aktivismus-und-Migration/!5714747 | |
[4] /Flucht-nach-Grossbritannien/!5711448 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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