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# taz.de -- Mit dem Zug nach Osteuropa: Oder mal nach Osten
> Gleich hinter Berlin lässt sich auf Zugstrecken gen Osten gemeinsame
> Geschichte erleben. Und Osteuropa kommt näher.
Bild: Breslau/Wroclaw: Radfahrer vor der Dominsel
Warum nennen sie ihn nicht beim Namen? Der Nachtzug, der seit anderthalb
Jahren zwischen Berlin und Wien verkehrt, heißt „Nightjet“, wie alle
Nachtzüge der Österreichischen Bundesbahnen. Dabei ist die Verbindung viel
mehr: Sie ist ein wahrhaftiger „Oderzug“. Gleich acht Bahnhofe liegen am
Oderufer: Frankfurt (Oder), Glogau/Głogów, Breslau/ Wrocław Główny,
Oppeln/Opole Główne, Cosel/Kędzierzyn-Koźle, Ratibor/Racibórz, Annaberg/
Chałupki und Ostrau/Ostrava. Rechnet man noch das nicht weit von der Oder
gelegene Grünberg/Zielona Góra dazu, verzeichnet der Oderexpress der
Österreicher neun Stationen an dem tschechisch-polnisch-deutschen Strom.
Nur der Intercity der polnischen Staatsbahn PKP „Swarożyc“ von
Stettin/Szczecin nach Kattowitz/ Katowice bringt es auf mehr Oderbahnhöfe
(zwölf einschließlich Grünberg). Allerdings ist auch der nicht nach der
Oder benannt, sondern nach einer slawischen Gottheit.
Als der Nachtzug am 9. Dezember 2018 erstmals startete, ließ es sich
Frankfurts Oberbürgermeister Ren Wilke nicht nehmen, persönlich am Bahnhof
zu erscheinen. Schließlich war es nach 2001 der erste reguläre Zug, der
wieder zwischen Frankfurt und Breslau verkehrte. Beide Oderstädte waren vor
dem Krieg aufs engste miteinander verbunden, auch wenn diese Verbindung
nicht immer konfliktfrei war. Als Berlin 1810 eine zweite preußische
Landesuniversität gründete (die heutige Humboldt-Universität), wurde die
altehrwürdige Viadrina in Frankfurt (Oder), 1506 als erste brandenburgische
Landesuniversität gegründet, kurzerhand aufgelöst. Das Mobiliar wurde auf
Kähnen oderaufwärts nach Breslau verschifft. Dort wurde aus dem
Jesuitenkolleg durch die Fakultäten, die aus Frankfurt (Oder) kamen, 1811
die erste Volluniversität im preußischen Schlesien.
Doch das ist vergessen und vergeben. Heute begreift sich Frankfurt (Oder)
zusammen mit dem auf dem gegenüberliegenden Oderufer gelegenen Słubice als
deutsch-polnische Doppelstadt. Sogar eine gemeinsame Innenstadtentwicklung
haben beide Städte vereinbart. In ihrem Zentrum steht die Oderbrücke, das
Symbol des gemeinsamen Stadtmarketings.
Der nächste Halt, an dem es sich lohnt, aus dem Oderexpress zu steigen, ist
Grünberg, eine der beiden Verwaltungshauptstädte der Woiwodschaft Lebuser
Land. Das Denkmal des Bacchus in der Altstadt zeigt, dass sich die Stadt
wieder auf eine alte Tradition bezieht, den Weinanbau. 40 Winzer bauen auf
einer Fläche von 100 Hektar wieder Wein an. Das ist zwar nichts gegenüber
den 1.700 Hektar Weinbergen, die es vor zweihundert Jahren gab. Aber
immerhin kann man den Wein aus Grünberg, der in den Neunzigern nur bei
feierlichen Anlässen ausgeschenkt wurde, nun in den Weinläden probieren und
kaufen. Der besonders leckere Riesling wird übrigens auch im Restaurant
Starka in Oppeln ausgeschenkt, man kann ihn dort auf der Terrasse
unmittelbar am Ufer der Oder schlürfen.
Die nächste Station ist die Hauptstadt der Oder. Als Breslau 2016 Europas
Kulturhauptstadt wurde, war der Kulturzug die einzige Verbindung in die
Odermetropole mit ihren 650.000 Einwohnern. Als 1997 die Scheitelwelle des
Oderhochwassers auf die Stadt zurollte, verteidigten die Bürgerinnen und
Bürger ihren gerade erst sanierten Marktplatz mit Sandsäcken. An der
Universität am Oderufer brachten Freiwillige die Bücher aus dem Keller in
die oberen Stockwerke. Selbst Hooligans, die wohl noch nie ein Buch in der
Hand hatten, waren unter den Helfern, sagte jemand, der damals dabei war.
Nach Oppeln hält der Oderexpress in Cosel. Dort befand sich einst der nach
Duisburg zweitgrößte Binnenhafen des Deutschen Kaiserreichs. Denn über
Cosel wurde die Kohle aus dem oberschlesischen Revier über einen Kanal auf
die Oder verschifft. Heute ist der Kanal ein Grund dafür, dass sich auch
Kattowitz dem Odergebiet zugehörig fühlt.
Von Ratibor, das die KreuzbergerInnen wohl vor allem wegen der nach der
Stadt benannten Straße kennen, nähert sich der Zug dem
polnisch-tschechischen Grenzgebiet. Im nahen Schloss Lubowitz, heute eine
Ruine, wurde Joseph von Eichendorff geboren. Immer wieder hat der
Romantiker am Oderufer die Gesänge der Flößer mit ihrem „wasserpolnischen�…
Dialekt gehört, einige ihrer Lieder hat er ins Deutsche übersetzt. Dass
Eichendorff auch Polnisch sprach, machte ihn zum Gegenstand
literaturwissenschaftlicher Forschungen, deren Ergebnisse in den Zeszyty
Eichendorffa, den Eichendorff-Heften veröffentlicht werden.
Der letzte Oderbahnhof auf dem Weg nach Wien befindet sich in Ostrau. Vor
allem die Österreicher, die mit dem Zug der ÖBB reisen, dürften sich dort
halb heimisch fühlen. Einst war Schlesisch-Ostrau Teil der Donaumonarchie
und galt als das österreichische Ruhrgebiet. Von Ostrau ist es übrigens
nicht weit zur Oderquelle in den mährischen Oderbergen.
Will dann noch jemand weiterfahren nach Wien? Oder wartet man nicht besser
auf den Gegenzug? Und vielleicht steigt man ja in Rzepin um in den IC
„Swarożyc“ und fährt noch ein wenig mit dem polnischen Oderexpress nach
Stettin. Von da ist es auch nicht mehr weit ans Meer.
## Berlin, Wien, Lemberg, Sibiu
Lange Warteschlangen, wenig Platz und eine miserable Umweltbilanz –
Urlaubsreisen mit dem Flugzeug haben viele Nachteile. Aber es gibt ja
Alternativen per Bahn. Im Zug gibt es mehr Bewegungsfreiheit und keine
Flugscham. Und von Berlin aus kann man – sofern keine pandemiebedingten
Einschränkungen dazwischenkommen – viele Ziele in Mittel-, Ost- und
Südosteuropa ansteuern. Das ist meist recht preisgünstig und oft gar nicht
umständlich.
Natürlich kann man den Schwierigkeitsgrad auch erhöhen. Wer Beratung
wünscht, kann sie in Berlin in der Bahnagentur Schöneberg in der
Crellestraße bekommen. Gründer Peter Koller kennt sich bestens aus und hat
sogar einen Reiseführer über die Ukraine geschrieben. Sehr einfach und
schnell geht es von Berlin nach Warschau. „In Polen ist in den letzten
Jahren viel passiert“, sagt Koller. Es gab Investitionen in Wagenpark und
Infrastruktur.
Im Normalfall – also ohne Corona – fährt viermal am Tag der
„Warschau-Express“ von Berlin ab. Aktuell steht zumindest ab 17. Juni
täglich ein Zug in der Reiseauskunft. In rund sechs Stunden kommt man
direkt in die polnische Hauptstadt. Die ist an sich schon eine Reise wert,
eignet sich aber auch als Etappenziel auf dem Weg in die Ukraine, für deren
Besuch EU-Bürger kein Visum, sondern nur einen Reisepass benötigen. Von
Warschau fährt – im Normalfall – täglich am späten Nachmittag ein Nachtz…
Richtung Kiew.
„Auf der Strecke sind noch ältere Waggons unterwegs“, sagt Koller. Die
werden mitten in der Nacht in einer riesigen Werkhalle einzeln angehoben,
um die Fahrwerke auf die breitere osteuropäische Spur umzurüsten.
Wahrscheinlich ist man da aber ohnehin schon wach, weil kurz vorher
Grenzbeamte die Pässe kontrollieren. Je nachdem wie viel Pause man sich in
Warschau gönnt, kann der Dnipro also per Zug in einem Tag und einer Nacht
erreicht werden.
Kiew ist eine moderne Metropole, die ihre sowjetische Prägung mehr und mehr
verliert. Es gibt noch viele Gründerzeithäuser zu sehen – und eine
lebendige Kunst- und Musikszene. Viele jüngere Menschen verstehen Englisch,
dennoch ist es ganz hilfreich, wenn man zumindest die kyrillischen
Buchstaben lesen kann. Vom Krieg im Osten des Landes bekommt man im Alltag
kaum etwas mit, es gibt auch keine Reisewarnung für die Ukraine außerhalb
der Konfliktzone.
Innerhalb des Landes gibt es von Kyjiw, wie es auf Ukrainisch heißt, zu
allen anderen Großstädten tagsüber Verbindungen mit dem Intercity. Die
modernen Züge aus südkoreanischer Produktion fahren auf den Hauptstrecken
160 Kilometer pro Stunde. Langsamer fahren die Nachtzüge, die aber unter
anderem wegen des noch niedrigeren Fahrpreises beliebt sind. Wer die Nacht
zumindest in einem 4er-Abteil verbringen will, sollte als Kategorie „Kupe“
wählen. Hinter „Platskartna“ verbirgt sich ein offener Schlafsaal auf
Rädern, in dem man von den Mitreisenden alles mitbekommt.
Wer sich beim Ticketkauf den Dialog am Schalter ersparen will, kann sich
die App der Staatsbahn herunterladen. Ein anderer Weg in die Ukraine
beginnt abends in Berlin. Die Nachtzüge der österreichischen Bahn (ÖBB)
Richtung Wien und Budapest führen nämlich auch Kurswagen nach Przemysl mit.
Die Stadt liegt im Südosten Polens kurz vor der Grenze zur Ukraine. Dort
kommt der Zug um 8 Uhr morgens an. Weiter geht es gegen 13 Uhr mit dem
ukrainischen Intercity Richtung Kyjiw, das der Schnellzug am späten Abend
erreicht. Die Züge werden in der Fahrplanauskunft der ukrainischen Bahn
inzwischen wieder angezeigt, allerdings kann man derzeit keine Tickets
kaufen, weil die Grenze noch geschlossen ist.
Wenn sie wieder geöffnet wird, lohnt es sich auch, nach gut 100 Kilometern
in Lwiw (Lemberg) auszusteigen. Die alte Hauptstadt Galiziens hat viel
Geschichte, einen komplett erhaltenen historischen Stadtkern und eine immer
bessere Infrastruktur. Derzeit wird etwa die bisher ziemlich klapprige
Straßenbahn vom Bahnhof in die Altstadt saniert. „Das Unterkunftsangebot
ist gut und die Gastronomie großartig“, sagt Koller. Und bis zur
Gebirgskette der Karpaten ist es auch nicht weit.
Weiter südlich ist Budapest der Knotenpunkt für Reisen auf den Balkan. Aus
Berlin erreicht man die ungarische Hauptstadt am bequemsten umsteigefrei
mit einem Nachtzug der Österreichischen Bahn (ÖBB), die vor ein paar Jahren
auch die Nachtzüge der Deutschen Bahn übernommen hat und das Angebot
seither ausbaut. Bis zur Coronakrise fuhren die Züge täglich um 18.45 Uhr
von Berlin über Wroclaw in Polen und Ostrava in Tschechien. Ein Zugteil
steuerte Budapest an, ein anderer Wien. Während die Nachtzüge nach Wien ab
dem 28. Juni wieder angeboten werden, gibt es für die Direktfahrt nach
Budapest noch keine Auskunft. Üblicherweise kamen die Züge dort etwa um
8.30 Uhr an.
Von Budapest gibt es normalerweise viele Verbindungen nach Rumänien.
„Allerdings ist der internationale Zugverkehr noch unterbrochen“, so
Koller. Am bequemsten geht es per Nachtexpress Richtung Bukarest. Die
Waggons sind relativ modern und erreichen die rumänische Hauptstadt gegen
Mittag. Ohne Pandemie und geschlossene Grenzen sind es mit dem Zug also
zwei Nächte und ein Tag von Berlin nach Bukarest mit einem einzigen
Zugwechsel. Die Stadt erinnert mit ihren breiten Boulevards an Paris oder
Madrid und besitzt ein großes Kneipenviertel im Zentrum sowie einige
architektonische Zeugnisse der Gigantomanie des früheren Diktators
Ceausescu. Es bietet sich allerdings auch an, vorher in Sibiu, dem früheren
Hermannstadt, aus dem Zug aus Budapest auszusteigen.
Die alte Handelsstadt in Siebenbürgen war vor einigen Jahren
Kulturhauptstadt Europas und zieht seither mehr und mehr ausländische
Touristen an. Sibiu eignet sich auch als Ausgangspunkt für Wandertouren in
die südlichen Karpaten. „Der Fagaras-Höhenweg führt über 70 Kilometer an
bis zu 2.500 Meter hohen Gipfeln vorbei, teilweise mit
Klettersteigcharakter“, sagt Koller.Ähnlich interessant wie Sibiu ist
Brasov etwa 150 Kilometer weiter östlich im Karpatenbogen. Nicht weit
entfernt in Bran befindet sich eine der Burgen, in denen das historische
Vorbild für Graf Dracula (Vlad, der Pfähler) gelebt haben soll.
Fährt man innerhalb Rumäniens mehrfach mit dem Zug, lohnt sich die App der
Staatsbahn, die es auch auf Englisch gibt. Auch Umbuchungen sind damit
möglich. Wer nach vielen Ebenen und Gebirgen das Meer sehen will, kann von
Bukarest aus mehrmals täglich in rund zweieinhalb Stunden Constanța am
Schwarzen Meer erreichen. Gleich neben der historischen Altstadt der rund
2.800 Jahre alten griechischen Gründung beginnen kilometerlange
Sandstrände. Wer mehr Herausforderungen mag, kann sich auf die Reise
Richtung Bulgarien begeben. Die Route entspricht der des legendären
„Orient-Express“. Ausgangspunkt ist Budapest. Unter normalen Umständen
fährt täglich am späten Abend ein Nachtzug nach Belgrad, der auch
Schlafwagen mitführt.
Wer sich traut, die Tickets ohne Hilfe online auf der Seite der ungarischen
Bahn zu kaufen, sollte sich vergewissern, dass auch wirklich der
Schlafwagen reserviert wird. Die Webseite gibt es zwar auch auf Deutsch,
allerdings recht holprig übersetzt. Dank zahlreicher Zwischenstopps braucht
der Zug für die etwa 400 Kilometer rund acht Stunden. Man hat also Zeit zu
schlafen. Derzeit wird die Verbindung allerdings weder in der deutschen
noch in der ungarischen Fahrplanauskunft angezeigt.
Von Budapest gibt es aber Alternativen per Bus – die sind dann auch
schneller. Am Morgen erwartet die Reisenden in der serbischen Hauptstadt
einer der hässlichsten Bahnhöfe Europas: Beograd Centar. An dem
Betonungetüm wird seit den 70er Jahren gebaut – er ist sozusagen Serbiens
BER. Fertig ist der Bahnhof immer noch nicht, aber seit 2018 in Betrieb.
Und damit es nicht zu leicht wird, fährt der Zug nach Sofia von einem
anderen Bahnhof ab. Der Bahnhof Topcider ist nur wenige Kilometer von
Beograd Centar entfernt und deutlich kleiner – bietet aber den früheren
Wartesaal des jugoslawischen Königshauses und Titos. Von dort sind es mit
dem Schnellzug rund elf Stunden nach Sofia. Der Zug wird ab dem 23. Juni
wieder täglich um 9.15 Uhr angeboten.
Landschaftlich ist besonders die zweite Hälfte der Strecke mit Aussichten
auf schroffe Gipfel des Balkangebirges interessant. Die Tour nach Sofia ist
also nichts für eilige Menschen: In zwei Nächten und zwei Tagen kommt man
gut 1.700 Kilometer voran, überquert sechs Grenzen und lernt in Sofia die
dritte Währung nach dem ungarischen Forint und dem serbischen Dinar kennen.
Als Belohnung warten eine sehr vielfältige Küche, mindestens 5.000 Jahre
Geschichte und ein Hochgebirge am Stadtrand.
## Ein Tunnel nach Prag
Schroffe Felsen, Wälder und ein Fluss, der sich hindurchschlängelt. Das
Elbsandsteingebirge ist eine Urlaubsgegend, Bahnreisende wissen das zu
schätzen. Südlich von Dresden, wo sich das Elbtal verengt, schmiegt sich
die Bahnstrecke von Dresden nach Prag an den Fluss. Am anderen Ufer zieht
Bad Schandau vorbei. Und in Tschechien geht es so weiter: Kurve um Kurve
folgen die Gleise der Elbe. Richtung Prag folgt die Bahn schließlich der
Moldau. Auch dort geht es kurvenreich weiter, auch wenn die Hügel am Ufer
nicht mehr so hoch sind.
Doch Eisenbahnromantiker müssen nun stark sein, denn die seit Mitte des 19.
Jahrhunderts genutzte Strecke ist ein Auslaufmodell – jedenfalls, was den
Fernzugverkehr angeht. Stattdessen soll die Eisenbahn bei Heidenau hinter
Dresden bald in Deutschlands längstem Fernzugtunnel verschwinden und erst
auf der anderen Seite des östlichen Erzgebirges wieder ans Licht kommen,
von dort geht es entlang der Autobahn Richtung Prag. Statt auf Burgen und
Weinberge blicken die Reisenden dann auf 100 Kilometern Strecke auf Beton,
Tankstellen und Großmärkte. Vorteil: Auf der neuen Strecke können die Züge
nicht nur deutlich schneller fahren, sie ist auch kürzer. Statt etwa
zweieinhalb Stunden soll die Fahrt von Dresden nach Prag nur noch eine
Stunde dauern.
Auch Berlin rückt näher an Prag. Die Strecke nach Sachsen wird ohnehin für
Hochgeschwindigkeitszüge modernisiert. Wenn der Tunnel fertig ist, dauert
es von Berlin statt viereinhalb Stunden nur noch zweieinhalb. Doch das
Riesenprojekt steht noch am Anfang. Derzeit läuft in Sachsen das
Raumordnungsverfahren. Dabei wird geprüft, inwieweit das Vorhaben mit
anderen Erfordernissen der Landesplanung kollidiert. In den nächsten Wochen
erwarte die Deutsche Bahn, die das Projekt gemeinsam mit der Tschechischen
Bahn plant, ein Ergebnis, sagte ein Bahnsprecher der taz.
Im Januar und Februar waren die Pläne öffentlich ausgelegt worden. Bis Ende
März gingen insgesamt 5.600 Stellungnahmen ein. Seitdem prüft die Behörde.
Im Rennen sind sieben Varianten für die Tunnelstrecke auf deutscher Seite
(Grafik unten). „Fest steht bereits die ungefähre Lage des Einbindepunkts
in Heidenau sowie des Ausbindepunkts des Tunnels in Ústí nad Labem“, so die
DB. Auch, wo der Tunnel die Grenze unterquert, weil die Planung auf
tschechischer Seite schon weiter gediehen ist. Die Varianten, von denen
zwei von einer Bürgerinitiative vorgeschlagen wurden, unterscheiden sich in
ihrem Verlauf und ihrer Tiefe. Die BI möchte gern so viel wie möglich im
Tunnel verschwinden lassen. Je tiefer der aber startet, umso länger wird
er. Das könnte am Ende teurer werden. Die Varianten der DB verlaufen fast
alle östlich der bestehenden Autobahn und enthalten bis auf eine auch
oberirdische Streckenabschnitte.
Ob die Varianten auch technisch machbar sind, wird in einem nächsten
Schritt geprüft. Noch in diesem Jahr wollen die beiden Partner gemeinsam
die Projektsteuerung ausschreiben, hieß es. Dann soll eine Vorzugsvariante
herausgearbeitet werden, mit der die DB später ins
Planfeststellungsverfahren einsteigt, das ebenfalls im Dialog mit der
Region durchgezogen werden soll, um spätere Klagen zu vermeiden. So etwas
dauert erfahrungsgemäß Jahre. Mitte des Jahrzehnts könnte die Vorplanung
abgeschlossen sein. Dann müssen die Parlamente noch zustimmen.
Läuft es gut, kann gegen Ende dieses Jahrzehnts mit dem Bau begonnen
werden, gegen Ende des nächsten könnten die Züge fahren. Für die DB ist es
eine Premiere: Es ist ihr erster grenzüberschreitender Tunnel. Wie viel das
alles kostet, ist noch nicht klar. Seriös schätzen könne man die Höhe
ohnehin nicht, bevor auch genaue geologische Untersuchungen des
Trassenverlaufs stattgefunden hätten, so ein Bahnsprecher. Mit 25 bis 30
Kilometern wäre der neue Tunnel ungefähr halb so lang wie der
Brenner-Basistunnel, der derzeit von Italien und Österreich gebaut wird und
um die 8 Milliarden Euro kosten soll. Da es zwischen Dresden und Prag nicht
durch ein Hochgebirge geht, könnte es aber auch weniger sein.
Der deutsche Anteil kommt aus dem Bundeshaushalt. Bei der Bahn ist man
entsprechend schmerzfrei, was die Kosten angeht. Die Strecke steht bereits
im Bundesverkehrswegeplan als vordringlicher Bedarf. Außerdem ist sie Teil
des Paneuropäischen Transportkorridors 4. Dabei geht es um die Verbindung
zwischen den Häfen der Nordseeküste und Südosteuropa. Der Korridor soll die
Transportwege am Rhein und durch die Alpen östlich umgehen und entlasten.
Der Tunnel ist also Teil eines größeren Puzzles.Tatsächlich ist auch jetzt
schon viel los, vor allem im Güterverkehr. Der Grenzübergang im sächsischen
Schöna ist laut DB der am zweitstärksten frequentierte im deutschen
Schienennetz. Für 2030 werden täglich 32 Fernzüge und 101 Güterzüge
erwartet. Auch deshalb ist der Tunnelbau in der Region populär. Besonders
die Güterzüge machen viel Lärm, der im engen Elbtal zwischen den Felsen hin
und her schallt. Das kollidiert mit den touristischen Interessen in der
Region. Zwar hält der Eurocity in Bad Schandau, aber von den Güterzügen hat
man vor Ort nichts.
Auch beim Kundenverband Pro Bahn ist man vom Tunnel begeistert. Er sei eine
Chance, touristischen Verkehr vom Flugzeug auf die Schiene zu bringen. „Bei
zweieinhalb Stunden Fahrzeit zwischen Berlin und Prag lohnt sich die Fahrt
sogar für einen Tagesausflug“, sagt Sprecher Karl-Peter Naumann. Und bei
einer Stunde Fahrzeit würden Dresden und Prag praktisch Nachbarstädte
werden. Das sei auch für Berufspendler interessant. Die jetzige Strecke
durch das Elbtal sei zwar schön, aber langsam und laut. „Das entspricht
nicht mehr der Zeit.“
Naumann weist allerdings darauf hin, dass man den Güterverkehr nur
erfolgreich auf die neue Strecke bringe, wenn sie auch sehr lange und
schwere Züge aufnehmen könne. Dafür muss das Gefälle niedrig sein. Das
könnte die Baukosten erhöhen. Auch im Berliner Senat sieht man sich als
Gewinner. „Die Initiative zum Ausbau der Strecke
Rostock–Berlin–Dresden–Prag-Wien-Budapest ging auf die Länder Berlin,
Brandenburg, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern zurück“, heißt es aus der
Senatsverwaltung für Verkehr. Die ostdeutschen Länder hätten das
Bundesverkehrsministerium gebeten, eine Entlastungsstrecke mit einem
Tunneldurchstich nahe der neuen Autobahn nach Prag mit hoher Priorität in
den Bundesverkehrswegeplan aufzunehmen.
Für den Berliner Schienenfernverkehr in Richtung Prag, Bratislava, Wien,
Graz und Budapest könnten mit der neuen Tunnelstrecke attraktive Fahrzeiten
angeboten werden, die ähnlich wie bei der Schnellfahrstrecke Berlin–München
zu einem Verlagerungseffekt vom Flugzeug auf den klimafreundlichen
Schienenverkehr beitragen können. Dies gelte auch für den Güterverkehr.
Mit dem Wiederaufbau der 1952 stillgelegten Dresdner Bahn, die 2026
fertiggestellt sein soll, seien alle Voraussetzungen auf Berliner Gebiet
geschaffen. „Die Strecke wird von der Berliner Stadtgrenze bis Dresden mit
Tempo 200 befahrbar sein.“ Ein Trost für Fans der alten Strecke: Sie wird
weiterhin von Regionalzügen befahren.
13 Jun 2020
## AUTOREN
Uwe Rada
Marco Zschieck
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