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# taz.de -- Neuanfang in Frankfurt an der Oder: Stadt der Hoffnungen
> Frankfurt (Oder) steht gerade im Mittelpunkt der europäischen
> Migrationspolitik. Die Stadt ist von Umbrüchen gezeichnet.
Bild: Willkommen in Frankfurt (Oder)
Frankfurt (Oder) taz | Als Ammar, Ibrahim und Kadir nach einer knapp 1.000
Kilometer langen Strapaze ihr Ziel erreichen, scheint in Frankfurt an der
Oder die Sonne. Herbstliche Bäume säumen das Flussufer. Möwen ruhen sich
auf dem Wasser aus. Vielleicht bellt irgendwo ein Hund. Vielleicht läuten
die Kirchenglocken. Ammar, Ibrahim und Kadir, die aus Syrien kommen und
eigentlich anders heißen, hören das nicht. Sie sind froh, als sie von der
Bundespolizei aufgegriffen und in ein Industriegebiet am Rande der Stadt
gebracht werden – zur Registrierung.
Seit der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko für Geflüchtete aus
dem Nahen Osten Touristenvisa ausstellt, um sie [1][als Druckmittel in die
EU] zu schleusen, steigt auch in der deutsch-polnischen Grenzstadt
Frankfurt (Oder) die Zahl der Schutzsuchenden. Dort reagiert man bereits
auf den „steigenden Migrationsdruck“, wie es im Beamtendeutsch heißt: Seit
Anfang November ist die [2][zentrale „Bearbeitungsstraße“] im
Industriegebiet aktiv. Alle Geflüchteten, die in Brandenburg ankommen,
werden hier erkennungsdienstlich behandelt, erstversorgt und anschließend
zum Asylverfahren deutschlandweit auf die Gemeinden verteilt.
Ein paar Stunden nach ihrer Ankunft stehen die drei jungen Männer in jenem
Industriegebiet und fragen nach dem Weg. Sie wollen in die Stadt, um ihre
Dollars in Euro zu wechseln und Zigaretten zu kaufen. Ammar zeigt eine
Schramme in seinem Gesicht. Ibrahim hat etwas am Hinterkopf abbekommen.
Belarussische Polizisten hätten sie geschlagen und nach Polen gedrängt,
erzählen sie. Auch wenn die Verletzungen nicht eindeutig und ihre
Geschichten nicht überprüfbar sind, decken sie sich mit den Erzählungen
anderer Geflüchteter, die über dieselbe Route nach Brandenburg gekommen
sind.
Frankfurt (Oder) sei der zentrale Ort der Grenzübertritte, sagt Jens
Schobranski, Sprecher der Bundespolizei Berlin-Brandenburg. Und so steht
Frankfurt seit zwei Monaten im Mittelpunkt der europäischen
Migrationspolitik: eine Stadt, die als europäische Doppelstadt einzigartig
und von Umbrüchen gekennzeichnet ist, die schmerzhafte Einschnitte und
Rückschläge verzeichnen musste – wo es aber gerade, so scheint es, bergauf
gehen könnte.
## Die Stadt bekommt Selbstbewusstsein
Ein paar Kilometer vom Industriegebiet entfernt liegt zwischen dem roten
Backsteinhäusern und Plattenbauten – gegenüber der „Bierstube zur Molle�…
das Gemeindehaus St. Georg. Im ersten Stock serviert Pfarrerin Gabriele
Neumann Kaffee und Kekse. Die Stimmung in Frankfurt beschreibt sie als
optimistisch. Es beginne etwas in der Stadt zu wirken, sagt sie, das
Menschen in Politik und Zivilgesellschaft angestoßen hätten.
„Man sieht, dass das Stadtbild schöner wird. Die Stadt bekommt
Selbstbewusstsein“, sagt die 59-Jährige mit grauer Kurzhaarfrisur und
blauer Bluse. Ein bisschen sorge sie sich jedoch, dass die Stimmung mit der
sich zuspitzenden Migrationssituation umschlagen könne, auch wenn die
Zuwanderung in der Realität gar nicht stark sei.
René Wilke von der Linkspartei ist seit 2018 Oberbürgermeister von
Frankfurt (Oder) und teilt diese Einschätzung: Lediglich 40 Geflüchtete
müsse die Stadt nun zusätzlich aufnehmen. Das sei alles andere als eine
„Flut“. „Das kriegen wir hin“, zeigt sich Wilke merkelhaft gelassen.
Viel wichtiger: Auch Wilke nimmt einen positiven Trend in der Stadt wahr.
„Wir sind in einer Phase, in der Frankfurt sich aufrappelt, was mit
gewisser Spannung und Skepsis, aber auch mit Hoffnung betrachtet wird“,
erklärt Wilke am Telefon.
Besonders große Hoffnung setzt der 37-jährige Oberbürgermeister in das
„Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit“:
einen von der Bundesregierung geplanten Ort der Wissenschaft, Kultur und
Begegnung. Laut dem Ostbeauftragten, Marco Wanderwitz (CDU), wird sich das
Zentrum mit den Veränderungen der letzten 30 Jahren befassen, gleichzeitig
aber auch ein „Brückenschlag in die Zukunft“ sein.
Frankfurt hat sich neben einigen anderen ostdeutschen Städten beworben und
wäre laut Wilke der perfekte Standort. Er weiß allerdings auch um die
ambivalente Geschichte seiner Stadt – und dass es nicht einfach ist, den
Menschen noch Hoffnung zu machen.
In der DDR war das Halbleiterwerk Frankfurt (Oder) der größte Produzent von
Mikroelektronik. Die Stadt mauserte sich zum Industriestandort, zog
Arbeitskräfte an und das Stadtleben florierte.
Doch mit der Wende war es damit vorbei. Durch die Privatisierung der
Treuhand waren die 8.000 Arbeiterinnen und Arbeiter des Halbleiterwerks
schlagartig arbeitslos. Bei einer Bevölkerung von damals 88.000 war das
jeder Elfte. Seitdem wurde die Einwohnerzahl immer kleiner und die
Enttäuschung wuchs. Der Versuch, die Industrie mit einer Chipfabrik
wiederzubeleben, scheiterte kläglich. Heute leben etwa 57.000 Menschen in
Frankfurt. Erstmals seit 1990 ist die Einwohnerzahl konstant.
## Zukunftszentrum für Aufschwung
Das Zukunftszentrum, so hofft man hier, könnte endlich neuen Aufschwung
bringen. Falls es tatsächlich nach Frankfurt käme, könnte das wie ein
Katalysator wirken, der „Frequenz, Kaufkraft und Touristen in die Stadt“
bringt, glaubt Wilke.
Auch Julia von Blumenthal, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina,
sieht Potenzial: „Für ein Zentrum, in dem europäische Transformation und
deutsche Einheit erforscht, zusammengebracht und in den Dialog gestellt
wird, ist Frankfurt der ideale Ort.“ Sie sieht in dem Projekt einen
„Leuchtturm, der bundesweit Menschen anzieht“. Zudem könnte die Viadrina
mit der neuen Einrichtung in vielen Forschungsfeldern kooperieren.
Schon jetzt ist die Viadrina das akademische Aushängeschild der Stadt. Seit
1991 verschafft sie Frankfurt (Oder) wieder das Prädikat Universitätsstadt
und pflegt engen Kontakt zu ihrer Partneruni im polnischen Posen.
Słubice, auf der anderen Oderseite, ist die polnische Hälfte der
Doppelstadt. Bis 1945 war das Gebiet ein eigener Stadtteil Frankfurts, nach
dem Zweiten Weltkrieg fiel es an Polen. „Für mich war Europa noch nie so
unmittelbar sichtbar und erlebbar wie hier in Frankfurt“, erklärt von
Blumenthal. Auch Pfarrerin Gabriele Neumann glaubt an das europäische
Projekt. „Die große Zukunftsidee für diese Stadt ist, als Doppelstadt zu
existieren und dieses Pfund auch zu nutzen.“
Dass diese Idee nicht selbstverständlich ist, hat die Coronapandemie
gezeigt, als die Grenze aufgrund hoher Infektionszahlen geschlossen wurde.
Die Stadtbrücke, die nicht nur beide Länder, sondern auch Wohnorte mit
Arbeitsplätzen, Schulen, Sportvereinen und Einkaufsmöglichkeiten verbindet,
war plötzlich dicht.
Für Oberbürgermeister Wilke und die Stadtbevölkerung war das eine
„schmerzhafte Zeit“. Doch der Politiker sieht auch, wie sich die Stadt
erholt. „Mein Eindruck ist, dass es in dem Bewusstsein der Menschen einiges
geändert hat. Selbstverständlichkeiten werden jetzt mehr wertgeschätzt“,
sagt er über die damalige Grenzschließung.
Auch wirtschaftlich gebe es Hoffnung: Der Haushalt zeige in eine gute
Richtung, man habe ein paar Projekte und Unternehmensansiedlungen
realisieren können. Wilke ist darum zuversichtlich, dass es sich diesmal
auch lohnt, Hoffnung zu haben.
Ammar, Ibrahim und Kadir aus Syrien sind froh, in Frankfurt (Oder) gelandet
zu sein, auch wenn ihr Asylverfahren eine andere Stadt für sie vorsieht.
„Morgen fahren wir nach Suhl“, erzählen sie begeistert und wissen
vermutlich auch nicht mehr über diese Stadt im südlichen Thüringen wie über
Frankfurt.
Aber eines wissen sie: Wie Frankfurt stehen auch sie vor einem Neuanfang.
13 Nov 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Leonard Laurig
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