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# taz.de -- Urbanität in der Krise: Die Stadt nach Corona
> Die Pandemie hat das Leben in rasender Geschwindigkeit verändert. Könnte
> das Virus die klimaneutrale Stadt beschleunigen?
Bild: Die Arbeit im Homeoffice macht das Leben überall möglich, wo es Netzans…
Fotografien verwaister Metropolen sind ein beliebtes Sujet, um die
Auswirkungen der Pandemie zu illustrieren: der Markusplatz, der Times
Square, die Champs-Élysées – noch vor Kurzem voller Leben, heute
Leerstellen inmitten eng bebauter Städte. Je dichter die Bebauung, so
könnte man diese Bilder lesen, desto schneller breitet sich Covid-19 aus.
Vor hundert Jahren haben die unhygienischen, beengten Verhältnisse in
Europas Städten die [1][moderne Stadtplanung] eingeläutet: Aufgelockerte
Bautypologien wie Gartenstädte und Zeilenbauten entstanden. Heute geht die
Gleichung Dichte = Gesundheitsgefahr, zumindest in Europa, nicht mehr auf.
Entscheidend für die schnelle Ausbreitung ist eher die globale Ökonomie mit
Geschäftsreisenden und Touristen.
Ein Zurück zur Suburbia oder gar zur funktionsgetrennten, autogerechten
Stadt ist in Zeiten des Klimawandels ohnehin nicht mehr angezeigt. Dichte
und Mischung, wie sie 2007 in der Leipzig-Charta zur nachhaltigen
europäischen Stadt gefordert wurden, sind nach wie vor die Antwort auf das
globale Dilemma, dass sich immer mehr Menschen die knapper werdenden
Ressourcen und Flächen teilen müssen. Die Stadt kleinteilig nach innen und
in die Höhe entwickeln, bloß keine weiteren Flächen zersiedeln – diese
Maximen leiten auch in Deutschland die Stadtentwicklung.
Aus ökologischer Sicht ist weniger Dichte schlecht: Aber wer wünscht sich
gerade nicht mehr Platz und mehr Grün? Ist das Einfamilienhaus mit Garten
vielleicht doch nicht so übel? Von einer Krise der Stadt sind wir zwar weit
entfernt, doch die Pandemie könnte ländlichen Räumen durchaus eine gewisse
Renaissance bescheren: Die Arbeit im Homeoffice macht das Leben überall
möglich, wo es Netzanschluss gibt, und viele Kommunen würden sich über
Zuzug und mehr Steuereinnahmen freuen. Man könnte Dorfkerne wiederbeleben,
Schulen, Kindergärten, Läden und die soziale Versorgung erhalten.
Der Exodus aufs Land ist ein verführerischer Gedanke, doch ohne
Förderprogramme für den Umbau könnten die alten Fehler wiederholt werden:
Die Kommunen greifen in die Mottenkiste der Planung und weisen neues
Bauland aus. Die Zersiedelung geht weiter.
Die Stadt bietet im Prinzip alles, um Quarantänezeiten zu überstehen – wenn
man sie konsequent weiterplant. Idealerweise sähe das so aus: Jede Wohnung
hat einen Balkon oder eine Terrasse, flexible Räume zum Arbeiten, schnelles
Internet, öffentliche Grünflächen in Laufnähe, kurze Wege zum Einkaufen und
zum Arzt – und Gemeinschaftsräume, die man in Absprache mit der
Nachbarschaft nutzen kann, sei es für Kinderbetreuung, Quarantäne oder
Notfälle wie häusliche Gewalt. Jüngere Genossenschaften wie die Züricher
Kalkbreite oder die Münchner wagnisART mit ihrer Mischung aus verschiedenen
Wohnformen, Gemeinschaftsräumen, Büros und Gewerbe sind Alternativen zum
Einfamilienhaus und Vorboten der Zukunft. Und auch außerhalb der
Gründerzeitquartiere ist Luft nach oben, das zeigen Sanierungen des
Sozialen Wohnungsbaus der Nachkriegsmoderne, wie sie etwa das französische
Architekturbüro lacaton & vassal umsetzt – mit Grundrissänderungen und
breiten Loggien, auf denen Platz ist, um Gemüse anzubauen und die Yogamatte
auszurollen.
Die Coronakrise offenbart aber auch die Folgen ungenügender oder
nichtexistenter Planung. In informellen Siedlungen und Notunterkünften
weltweit fehlt die Möglichkeit, Hygieneregeln einzuhalten oder sich im
Krankheitsfall zu isolieren. Städte brauchen Wohnmodelle, die nicht nur auf
die Mittelschicht zugeschnitten sind, und auch hier gibt es Beispiele: das
VinziRast-mittendrin im Zentrum Wiens, wo Studierende mit ehemaligen
Obdachlosen leben und arbeiten, oder die Star Apartments in Los Angeles,
ein Wohnkomplex mit 120 Mikroapartments und Gemeinschaftsräumen, der für
Langzeitobdachlose entwickelt wurde. Coronahilfsfonds sollten auch in
Projekte wie diese fließen.
Covid-19 zwingt die Welt zur Neudefinition des Krisenmodus. Niemand weiß,
wie lange der Ausnahmezustand anhalten wird. Die Gesellschaft muss sich auf
unbestimmte Dauer auf wechselnde Routinen einstellen: Schulen und Kitas
werden, wenn überhaupt, in Schichten besucht, Sportereignisse und Konzerte
kurzfristig ins Internet verlegt, Unternehmen schicken Mitarbeiterinnen ins
Homeoffice und holen sie wieder ins Büro. Kommunen müssen ihre
Katastrophenschutzpläne überarbeiten, Kapazitäten müssen schnell hoch und
auch wieder heruntergefahren werden. Schwimmende Krankenhäuser wie die USNS
Comfort oder rollende Intensivstationen wie der umgebaute TGV sind
spektakuläre Beispiele der Katastrophenhilfe. Modulare Isolationseinheiten
und mobile Teststationen könnten bald zur Pandemie-Grundausstattung von
Städten gehören.
Wie plant man Städte für den On-off-Modus? Die klassische Stadtplanung ist
bisher eine langfristige Angelegenheit. Von der Projektidee bis zur
Fertigstellung vergehen Jahre, manchmal Jahrzehnte. Die prozessorientierte
Stadtentwicklung, wie sie an Urban-Design-Lehrstühlen weltweit gelehrt
wird, wird künftig an Bedeutung gewinnen. Städte entwickeln sich vor allem
dann positiv, wenn die Bevölkerung an Prozessen teilhaben kann und die
Probleme als ihre eigenen wahrnimmt. Nach der kollektiven Erfahrung der
Krise braucht es das kollektive Wissen, um auf immer neue Situationen
reagieren zu können.
## Städtische Landwirtschaft auf Freiflächen
Eine Pandemie ist, neben den Migrationsbewegungen und dem Klimawandel, nur
ein weiteres globales Phänomen, auf das sich die Stadtplanung einstellen
muss. Warum sollten Städte nicht Gebäude und Flächen vorhalten, die je nach
Bedarf Notunterkünfte für verschiedene Gruppen sind? Freiflächen, auf denen
städtische Landwirtschaft betrieben wird – nach dem Vorbild der
Urban-Gardening-Bewegung, nur in größerem Stil, gefördert, organisiert,
versorgungsrelevant? Das Tempelhofer Feld in Berlin ist eine dieser
Freiflächen: Es schützt in trockenen Sommern vor Überhitzung und bietet
genug Platz für Bewegung und Begegnung, auch unter Einhaltung der
Abstandsregeln.
Welche Rolle Daten spielen, auch das war in den letzten Wochen zu
beobachten. Apps, halten das städtische Leben am Laufen – was wäre die
Quarantäne ohne Lieferservice? Das Homeoffice ohne Zoom? Eine App, die
Infektionsketten zurückverfolgt, wäre vor wenigen Wochen noch als der
perfide, biopolitische Auswuchs eines Überwachungsstaates diskreditiert
worden. Heute können sich nach einer Umfrage des
Meinungsforschungsinstituts Civey 56 Prozent der Deutschen vorstellen, eine
„Corona-App“ zu installieren, um zu einer gewissen Normalität zurückkehren
zu können.
Das Funktionieren städtischer Abläufe könnte also bald auf digitale
Technologien angewiesen sein. Bislang sind es IT-Firmen, die städtische
Daten sammeln, über Leihroller oder Lieferdienste. Städte brauchen die
Hoheit über digitale Infrastrukturen. Um sich aus der Umklammerung großer
Technologiekonzerne lösen zu können, sind sie neben finanziellen Ressourcen
auf Open-Source-Modelle angewiesen: In Katalonien beispielsweise wird seit
2004 das offene IP-Netzwerke Guifi.net aufgebaut, die Stadt Wien
experimentiert mit dem Gemeinschaftsnetz FunkFeuer.
Die kollektive Erfahrung, dass sich das Leben plötzlich grundlegend
verändern kann, ist ein Weckruf: Wie viele Waldbrände, Dürren und
Überflutungen wollen wir noch abwarten, bis wir Prozesse umkehren?
Die Stille, die wir derzeit in Berlin erleben, lässt sich in Zahlen
ausdrücken: 54 Prozent weniger Autoverkehr und 95 Prozent weniger
Flugpassagiere. Wir bewegen uns, wenn auch unfreiwillig, in einer
Versuchsanordnung zur Zukunft der Stadt. Wir reisen nicht mehr, wir
schätzen, was die Nachbarschaft bietet, oder bleiben auf dem Balkon. Es
fühlt sich an wie ein nicht enden wollender autofreier Sonntag – eine
Situation, für die Umweltinitiativen seit den 1970er Jahren kämpfen. Auf
manche Straßen werden schon [2][provisorisch Radwege] geklebt. Natürlich
wird das nicht für immer so bleiben: Aber wer möchte zu 100 Prozent zurück
zur Normalität vor Corona? Der Ausnahmezustand ist eine zwiespältige
Erfahrung zwischen Utopie und Bedrohung.
## Die nächste Welle der Kommerzialisierung
Eine der größten Bedrohungen für Städte ist das Verschwinden der kleinen
Läden, Studios, Theater, [3][Clubs, Kinos, Kneipen], Restaurants. Wenn das
Gros der Kleinunternehmer und Kulturschaffenden die Krise nicht übersteht,
werden größere Player die leerstehenden Immobilien beziehen oder aufkaufen
und den Städten droht die nächste Welle der Kommerzialisierung und
Globalisierung. Wenn es Kaffee nur noch bei Starbucks gibt und zum
Übernachten lediglich internationale Hotelketten bleiben, wenn Theater nur
noch auf städtischen Bühnen spielt und die Clubszene weiter schrumpft,
verlieren gerade große Städte an Anziehung und Wirtschaftskraft. Um Städte
am Leben zu halten, müssten Coronahilfen dort ankommen. Das gilt auch für
andere Bereiche: Eine gesellschaftliche Pause wie diese bietet Gelegenheit,
um Inventur zu machen und zu definieren, was wir wirklich brauchen.
Was macht Städte resilient, nicht nur in Krisenzeiten? Es gibt Konzepte für
klimafreundliche Mobilität und regionale Wirtschaftskreisläufe, für urbane
Landwirtschaft und neue Nachbarschaften – wir müssen sie nur endlich ernst
nehmen und umsetzen. Niemand kann Städte gegen Pandemien absichern oder gar
„pandemietauglich“ bauen. Diese Vorstellungen erinnern an eine derzeit in
den Hintergrund getretene Diskussion: Kann man Städte sicherer machen gegen
den Terror?
Nein. Sowenig Poller und Betonblöcke eine Absicherung gegen Terroranschläge
sein können, so wenig kann man Städte virusresistent planen. Aber genauso,
wie in Coronazeiten die Politik der Wissenschaft vertraut, können Städte
ihren Bewohnerinnen vertrauen – das kollektive Mitwirken am „Abflachen der
Kurve“ hat ein Exempel statuiert.
17 May 2020
## LINKS
[1] /Chef-der-HafenCity-ueber-Homeoffice/!5681073
[2] /Neue-Spielstrassen-in-Berlin/!5681610
[3] /Clubsterben-in-Berlin/!5664751
## AUTOREN
Doris Kleilein
Friederike Meyer
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