# taz.de -- Streit um Verkehrskonzept: Wie Wien autofrei werden will | |
> Österreichs Hauptstadt will motorisierten Verkehr aus dem Zentrum | |
> verbannen. Doch so einfach wird es nicht. | |
Bild: Wien mit Stau | |
Wien taz | Wiens Innenstadt soll autofrei werden. Nach Paris und anderen | |
europäischen Metropolen will auch Österreichs Hauptstadt den motorisierten | |
Verkehr aus dem Zentrum verbannen. Den Plan hat die grüne | |
Vizebürgermeisterin und Verkehrsstadträtin Birgit Hebein gemeinsam mit dem | |
Bezirksvorsteher der Inneren Stadt, Markus Figl (ÖVP), entworfen. | |
[1][Wiens Bürgermeister] Michael Ludwig (SPÖ) war allerdings nicht | |
eingebunden und zeigte sich entsprechend verstimmt. So sorgt er nun dafür, | |
dass das Projekt zumindest nicht vor den Kommunalwahlen am 11. Oktober | |
realisiert werden kann. Eine nicht öffentliche Verhandlung am Mittwoch, bei | |
der Interessenvertretungen, Vertreter von Nachbarbezirken und die Polizei | |
gehört wurden, brachte serienweise Einwände. | |
Zwischen Hofburg, Stephansdom und Stadtpark wälzen sich an einem normalen | |
Wochentag durchschnittlich 17.000 Autos durch die engen Gassen innerhalb | |
der Ringstraße. Reisebusse und größere Lkws wurden schon vor einiger Zeit | |
aus diesem Gebiet verbannt. Auspuffgase wird man aber im Stadtzentrum auch | |
künftig noch einatmen müssen, denn erste Entwürfe sehen rund zwei Dutzend | |
Ausnahmen vor. | |
Hebein wollte sich schon bei der Präsentation im Juni nicht festlegen, ob | |
es eher 20 oder 30 sein würden. Darunter sind Taxen und städtische | |
Kleinbusse, aber auch Autos, die eine Tiefgarage ansteuern oder aus einer | |
solchen kommen, Unternehmer mit Betriebsstandort im Zentrum, Beschäftigte | |
mit sehr frühen oder langen Dienstzeiten, Hotels, Personen mit | |
Behindertenausweis, Pflege- und Servicedienste, Lieferverkehr. | |
Trotzdem, so Hebein, werde „der unmittelbare Verkehrsrückgang bis zu 30 | |
Prozent betragen“. Nicht nur der fließende, auch der ruhende Verkehr werde | |
gesenkt. Weder für Mopeds noch für Elektroautos soll es Ausnahmen geben. | |
Während Hebein von der „ersten autofreien Stadt“ im deutschsprachigen Raum | |
schwärmte, gab sich Bezirksvorsteher Figl realistischer: Man wolle das | |
Zentrum Wiens „weitgehend zur autofreien Zone“ machen. Dem steht zunächst | |
noch Michael Ludwig entgegen. Spürbar verärgert durch den Alleingang der | |
grünen Koalitionspartnerin mit dem konservativen Bezirkschef ließ der rote | |
Bürgermeister wissen, er müsse zuerst die Meinung des Dompfarrers und der | |
Wirtschaft einholen. | |
Die Position der „Wirtschaft“ ist inzwischen bekannt. Leiter von | |
Nobelboutiquen, Juwelierläden und anderen teuren Etablissements fürchten um | |
ihr Geschäft, wenn die Klientel nicht mehr im Privatwagen vorfahren kann. | |
Die Coronakrise habe alle stark und nachhaltig getroffen. „Unseres | |
Erachtens nach wären die Auswirkungen einer Zufahrtsbeschränkung bzw. eines | |
Verbots eine Katastrophe“, so die Interessengemeinschaft der Kaufleute der | |
Wiener Innenstadt. Ähnlich war die Reaktion vor vier Jahrzehnten, als die | |
zentrale Kärntner Straße zur ersten Fußgängerzone erklärt wurde. Heute ist | |
es unvorstellbar, dass über diese Flaniermeile stinkende Motorfahrzeuge | |
rollen. | |
## Es wird ein Wahlkampfthema | |
Klar ist: Vor den Wahlen am 11. Oktober versuchen sich die | |
Koalitionspartner zu profilieren. Dabei kommt es zu ungewöhnlichen | |
Allianzen. Birgit Hebein hat während des Corona-Lockdowns mehrere | |
Pop-up-Radwege eröffnet, also Verkehrsflächen exklusiv für den Radverkehr | |
umgewidmet, sehr zum Ärger der Autofahrerlobby, aber auch der SPÖ. | |
Debatten über Verkehrsberuhigung und Einschränkungen des Individualverkehrs | |
werden immer wieder wie Glaubenskriege ausgetragen. Und die SPÖ, die seit | |
dem Krieg in Wien regiert, hat natürlich ein Auge auf ihre Wählerschaft. So | |
hat Ludwig gemeinsam mit dem FPÖ-Bezirkschef des 11. Bezirks einen solchen | |
improvisierten Radweg wieder stillgelegt. Mit seinen Einwänden hat Ludwig | |
zumindest erreicht, dass die verkehrsberuhigte City nicht vor den Wahlen | |
umgesetzt werden kann. Birgit Hebein hätte ja am liebsten im August schon | |
Nägel mit Köpfen gemacht, um mit diesem Erfolg für ihre Klientel in den | |
Wahlkampf ziehen zu können. | |
So manch andere wollen indes viel weiter gehen als die Grünen. Der | |
verkehrskritische [2][Verkehrsclub Österreich (VCÖ)] würde am liebsten auch | |
die fünfspurige Ringstraße in das Konzept einbeziehen. Und der | |
Verkehrsplaner Ulrich Leth von der Technischen Universität Wien weist im | |
Kultursender Österreich 1 darauf hin, dass der Schlüssel zur | |
Verkehrsberuhigung die Parkplatzreduktion sei. „Die Stellschraube ist der | |
Parkraum“, so Leth, denn dieser sei „Quelle und Ziel“ des Autoverkehrs. | |
Wenn man Dauerparkplätze im 1. Bezirk reduziere, würde auch der | |
motorisierte Verkehr zurückgehen. „Denn wenn der öffentliche Raum danach | |
immer noch so ausschaut wie jetzt, hat man von autofrei nicht viel.“ | |
17 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.wien.gv.at/kontakte/stadtregierung/buergermeister.html | |
[2] https://www.vcoe.at/ | |
## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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