| # taz.de -- Proteste und Morales-Sturz in Bolivien: Wir alle waren verliebt in … | |
| > Evo Morales war mehr als ein Präsident, für die Indigenen Boliviens, für | |
| > Linke in aller Welt. Jetzt ist er im Exil – und spaltet, statt zu | |
| > versöhnen. | |
| La Paz taz | Es lag etwas in der Luft, sagt die Politikwissenschaftlerin | |
| Nadia Guevara. Sie denkt an mindestens drei verschiedene Märsche, die am | |
| Sonntag vergangener Woche durch die Stadt La Paz im Westen Boliviens zogen. | |
| Einer davon war organisiert für die Rechte der Frauen, ein anderer von den | |
| Bergarbeitern aus der Region Potosí, ein weiterer von pensionierten | |
| Polizisten. Sie alle richteten sich gegen die Regierung von Boliviens | |
| Präsident Evo Morales. | |
| Genau drei Wochen zuvor hatte es Wahlen gegeben, bei denen Morales im Amt | |
| bestätigt werden wollte, zum vierten Mal, obwohl die Verfassung nur eine | |
| Wiederwahl zulässt. Am Wahlabend sah es so aus, als müsste er in die | |
| Stichwahl gegen den Oppositionskandidaten Carlos Mesa. Der würde die | |
| Unterstützung der ausgeschiedenen Kandidaten erhalten und die Stichwahl | |
| wohl gewinnen. Dann brach plötzlich die Veröffentlichung neuer | |
| Wahlergebnisse ab, ohne Begründung. | |
| Er werde mit den Stimmen der ländlichen Provinzen die Wahl noch in der | |
| ersten Runde gewinnen, prophezeite Morales. Bei der nächsten | |
| Veröffentlichung über 24 Stunden später sagten die Zahlen genau das: | |
| Morales hatte mehr als 10 Prozentpunkte Vorsprung und wäre damit Sieger | |
| ohne Stichwahl. Gleichzeitig häuften sich Berichte über Wahlbetrug. Von | |
| einer „unerklärlichen Trendwende“ sprach die Beobachtermission der | |
| Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Und im ganzen Land gingen | |
| Menschen auf die Straße und protestierten. | |
| An jenem Sonntag vor einer Woche dann die Wende. Am Morgen kündigte Morales | |
| Neuwahlen an, sprach von „neuen politischen Akteuren“. „Alle feierten, es | |
| war verrückt“, erinnert sich Nadia Guevara. Sie war mittendrin, Fahne in | |
| der Hand, das Baby im Tragetuch auf dem Rücken, ihr Mann hatte die Tochter | |
| an der Hand. Von der Regierungspartei Movimento al Socialismo (MAS) trat | |
| ein Politiker nach dem anderen zurück. | |
| Sie waren gerade zur Haustür herein, da verkündete Morales seinen | |
| Rücktritt. Kurz zuvor hatte Militärchef Williams Kaliman den Präsidenten | |
| dazu aufgefordert – und Nadia Guevara und ihre Familie kehrten wieder um, | |
| sie wollten feiern. „Es war bewegend“, sagt sie. „Alle schrien: Somos | |
| libre!“ (Wir sind frei!) | |
| Dann kamen die ersten Nachrichten von Freunden der oberhalb von La Paz | |
| gelegenen Nachbarstadt El Alto aufs Handy – und damit die Angst: „Feiert | |
| nicht. El Alto brennt.“ „Haut ab mit den Kindern, sie kommen herunter.“ | |
| Sie, damit seien die Unterstützer der MAS-Partei gemeint gewesen. Im | |
| Fernsehen liefen die ersten Bilder von brennenden Häusern in El Alto und | |
| der Zona Sur in La Paz. In der Nacht hörte sie grölende Gruppen ans | |
| Metalltor der Wohnanlage schlagen, wo Guevara und 84 andere Familien | |
| leben. „Es war eine Horrornacht.“ | |
| Seitdem kommen die Menschen nicht zu Ruhe. Auf beiden Seiten. Sebastián | |
| González, 18 Jahre alt, will seinen richtigen Namen nicht nennen. Seit | |
| Tagen kann er nicht mehr schlafen. Der Musikstudent hat am 20. Oktober für | |
| Evo Morales gestimmt, wie die meisten in seiner Familie. Er hat Angst. Um | |
| seine Familie, um seine Großmutter und seine Tante, die in El Alto leben. | |
| In ihrem Viertel wurde ebenfalls geplündert. „Meine Großmutter ist | |
| verängstigt, weil eines ihrer Kinder in Santa Cruz lebt. Sie kamen dort mit | |
| Motorrädern und zerstörten die Läden, die einzige Einnahmequelle der | |
| einfachen Leute.“ Sie, das sind in diesem Fall die anderen. Die Gegner von | |
| Morales, die Rechten, die Polizisten, die sich gegen Morales gestellt | |
| haben. | |
| Auf Videos sind weinende, verzweifelte Menschen zu sehen. González hat | |
| viele Videos gesehen in den letzten Wochen. „Sie fingen an, die Menschen in | |
| El Alto zu beschimpfen, sie seien Schweine, dreckig. Früher waren masistas | |
| einfach Anhänger der MAS-Partei, jetzt ist es wie eine Beleidigung“, sagt | |
| er. „Hier zeigen die Medien fast nur die Seite der Opposition. Wie die | |
| indigenen und ländlichen Gemeinschaften eingeschüchtert werden, zeigen sie | |
| nicht.“ | |
| Wie alle MAS-Anhänger spricht er von einem Staatsstreich, und wie die | |
| meisten in seiner Familie hat er seither alle verräterischen Bilder von | |
| seinen sozialen Medien gelöscht, kommentiert nicht mehr und passt auf, was | |
| er sagt. | |
| Sebastián wohnt mit seinen Eltern und seinen beiden jüngeren Geschwistern | |
| im selben Viertel wie Nadia Guevara, die Politikwissenschaftlerin, | |
| vielleicht eine halbe Stunde zu Fuß entfernt. Sein Vater ist Argentinier. | |
| Sebastiáns Großeltern waren links und beide engagierte Gewerkschafter in | |
| Zeiten der argentinischen Militärdiktatur. Eines Tages gaben sie Sebastiáns | |
| Vater und dessen Schwester bei einer Nachbarin ab und baten sie, sie als | |
| ihre Kinder auszugeben. | |
| Dann kamen Soldaten, nahmen die Großeltern mit. Sie tauchten nie wieder | |
| auf. „Damals wollten sie alle Linken in Südamerika ausrotten“, sagt | |
| Sebastián. Sein Vater kam als Kind nach Bolivien, engagierte sich später in | |
| linken Bewegungen, gegen Diktatur und Privatisierung. Aus seinen | |
| Erzählungen weiß Sebastián, was eine Diktatur ist. | |
| Sebastiáns Großmutter mütterlicherseits ist eine Indigene, eine señora de | |
| pollera, wie die Frauen wegen ihrer vielen Röcke genannt werden. Sie lebt | |
| heute in El Alto, wo ein Großteil der ärmeren Bevölkerung Evo Morales | |
| unterstützt und das wegen Straßenschlachten und Brandstiftungen durch die | |
| Medien ging. | |
| ## Morales gab ihnen Stolz | |
| Ihr Mann verbot der Großmutter, der Tochter ihre indigene Sprache Aymara | |
| beizubringen, weil es damals eine Schande war. Später wollten die | |
| Großeltern Sebastiáns Mutter nicht studieren lassen – wohl aus Angst, dass | |
| sie wegen ihrer indigenen Gesichtszüge an der Uni diskriminiert würde. | |
| Genau das passierte. „Als ich im privaten Kindergarten war, gab es dort | |
| kaum Kinder mit dunkler Hautfarbe“, sagt Sebastián. Später in seinem | |
| öffentlichen Colegio war es umgekehrt. Die öffentliche Schule war genauso | |
| gut wie die private. „Aber wenn es um den Eintritt ins Berufsleben ging, | |
| blieben die Dunkelhäutigen immer in der Hierarchie zurück“, sagt er. | |
| „Als Evo Morales Präsident wurde, kam mein kleiner Bruder in denselben | |
| privaten Kindergarten. Und Überraschung: Auf einmal kamen Frauen mit | |
| polleras und brachten ihre Kinder dorthin. Ich glaube, das änderte sich, | |
| weil sie sahen, dass der Präsident auch dunkle Haut hatte, vom Land kam, | |
| gelitten hatte – das war ein Symbol, das gab ihnen Stolz. Auch ich fühle | |
| mich stolz.“ | |
| 2003 lag unter Präsident Gonzalo Sánchez de Losada und seinem damaligen | |
| Vize Carlos Mesa der Mindestlohn bei 440 Bolivianos. Heute liegt er bei | |
| über 2.000, führt er noch an. | |
| Nadia Guevara, 39 Jahre alt, lebt mit ihren beiden Töchtern, ihrem Mann und | |
| ihrem Hund im Viertel Sopocachi Alto. Ihre Familie will sie zur Sicherheit | |
| nicht in der Zeitung zeigen. Ihr Vater, Hernán Guevara Rivero, war ein | |
| indigener Elektriker aus Cochabamba, der sich sein Leben lang in linken | |
| Bewegungen und gegen die Diktatur engagierte. Die Familie mütterlicherseits | |
| betätigte sich aufseiten der Konservativen. | |
| Guevara bat schon als Kind ihre Großmutter, mit ihr auf Demos zu gehen. | |
| Später engagierte sie sich in der Menschenrechtsarbeit. Am letzten Marsch | |
| des damaligen Abgeordneten Evo Morales nahm sie teil. Als die Polizei die | |
| friedlichen Demonstrierenden angriff, brach sie ihr drei Rippen. Als | |
| Morales zum ersten Mal Präsident wurde, sei alles rosarot gewesen. „Wir | |
| alle waren verliebt in ihn. Ich mochte die Ideen eines geeinten Boliviens, | |
| in dem Indigene eine Stimme haben, wo die Umwelt geschützt wird.“ | |
| Während bei Sebastián González die Liebe anhielt, ist sie bei Guevara von | |
| der zweiten Amtszeit an erkaltet. „Der indigene Diskurs verschwand, der | |
| Antikapitalismus kam. Es ging nicht mehr um Leistung, sondern um Freund | |
| oder Feind. Die Partei wurde undemokratischer, Kritiker mundtot gemacht“, | |
| sagt Guevara. Als im Sommer in Chiquitanía wochenlang der Wald brannte und | |
| der Präsident die Demonstranten, die ein Notstandsdekret zur Rettung | |
| forderten, auslachte, reichte es ihr endgültig. Sie ging auf die Straße. | |
| Und sie protestierte erneut, als für sie klar war, dass Morales sich nach | |
| dem 20. Oktober mit Wahlbetrug zum Sieger erklärte. | |
| Sebastián González blieb zu Hause. | |
| Als am Montag nach Morales’ Rücktritt plündernde Mobs von El Alto nach La | |
| Paz zogen, verbarrikadierten sich beide mit ihrer Familie und Nachbarschaft | |
| aus lauter Angst im Wohnblock. Als die Armee am selben Tage ankündigte, | |
| dass sie die Polizei unterstützen würde, herrschte bei Nadia Guevara | |
| Erleichterung und bei Sebastián González blankes Entsetzen: „Ich hatte | |
| Angst um meine Freunde und Familie in El Alto, um die Familie meiner | |
| Mutter, die auf dem Land lebt. Ich habe gelesen, dass sie in der Geschichte | |
| immer die Linken als Erste haben suchen und verschwinden lassen. Unsere | |
| Familie in Argentinien sagte: Wenn es schlimm wird, ist hier alles bereit | |
| für euch“, sagt Sebastián. | |
| ## Die Gewaltspirale schraubt sich immer weiter | |
| Dass einige Anhänger der Opposition und Polizisten die plurinationale Fahne | |
| Wiphala verbrannten, die die indigenen Wurzeln und die Vielfalt | |
| symbolisiert, löste eine Welle an Gewalt aus. Die heißt Sebastián nicht | |
| gut, aber er kann sie verstehen. | |
| Angst macht ihm auch das Erscheinen des weißen, bibelschwingenden | |
| Unternehmers Luis Fernando Camacho. Der war der Chef eines „Comité Cívico�… | |
| eines sogenannten Bürgerkomitees in Santa Cruz, seit jeher die Hochburg der | |
| Morales-Gegner. Von dort rief Camacho zum Generalstreik gegen Morales auf, | |
| von dort zog er nach La Paz, um provokativ eine Rücktrittserklärung in den | |
| Präsidentenpalast zu bringen. „Camacho ist ein Rassist, der zu Gewalt und | |
| Diskriminierung der Indigenen aufruft“, sagt González. „Camacho ist ein | |
| populistischer Opportunist, für den im Hochland kaum jemand stimmen würde“, | |
| sagt auch Guevara. | |
| Die Gewaltspirale schraube sich immer weiter, sagen beide. Die Videos, die | |
| WhatsApp-Nachrichten, die Falschmeldungen. | |
| „Jetzt ist der Präsident weg. Es fühlt sich ruhig an. Aber es ist eine | |
| ungute Ruhe“, sagt Sebastián González. | |
| „Die Gewalt wird mit noch so viel Tränengas, Polizei und Armee nicht | |
| aufhören“, sagt Nadia Guevara. „Beide Seiten müssen sich zusammensetzen u… | |
| endlich miteinander reden.“ | |
| 16 Nov 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Wojczenko | |
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