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# taz.de -- Nach Präsidentschaftswahlen in Bolivien: Vor dem Neuanfang
> Die Linkspartei MAS gewinnt die Wahlen in Bolivien klar. Ihr Kandidat
> Arce hat versprochen, anders zu regieren als früher. Andere sinnen auf
> Rache.
Bild: Jubel von Arce-Unterstützer*innen in La Paz nach Bekanntgabe der ersten …
Bogota taz | Es ist ruhig in Bolivien nach dem Wahlsonntag – und das ist
eine Nachricht. [1][Keine Proteste auf den Straßen] in La Paz. Keine
Polizei und Armee. Die umstrittene Übergangspräsidentin Jeanine Áñez und
der unterlegene Expräsident und Historiker Carlos Mesa (Comunidad
Ciudadana) haben [2][Luis Arce, dem Kandidaten der MAS] (Bewegung zum
Sozialismus) von Expräsident Evo Morales, schon vor Tagen zum Sieg
gratuliert.
„Das ist sicher ein Grund, weshalb es ruhig geblieben ist“, sagt
Musikstudent Rolando Benito. Benito hat für Arce gestimmt. Dem Wahlergebnis
vertraut er, „vor allem wegen der internationalen Wahlbeobachtung“.
Vereinzelte Proteste in Santa Cruz, Cochabamba, Sucre und Potosí kommen von
Gruppen, die dem drittplatzierten Kandidaten Luis Fernando Camacho
nahestehen. Der ultrarechte evangelikale Unternehmer aus der
Agrarindustriehochburg Santa Cruz im Tiefland war 2019 ein Anführer der
Opposition gegen Morales gewesen. Obwohl er betont, kein Politiker zu sein,
erzielte er mit seiner Bewegung Creemos („Wir glauben“) nach derzeitigem
Stand 14 Prozent.
Drohungen gibt es dennoch. Der Menschenrechtsaktivist und ehemalige Rektor
der Universität UMSA in La Paz, Waldo Albarracín, machte am Dienstag
öffentlich, dass er Morddrohungen erhalten habe und um die Sicherheit
seiner Familie fürchte. Im November 2019 hatten Morales-Anhänger sein Haus
angezündet.
Politikwissenschaftlerin Nadia Guevara berichtet, dass Bekannte sich wegen
Drohungen und anonymen Anrufen aus MAS-Kreisen überlegt haben, das Land zu
verlassen. Sie hat auf Facebook Freunde gelöscht, die nach dem Wahlsonntag
eine aggressive MAS-Drohrhetorik an den Tag gelegt hatten.
## Gräben in der bolivianischen Gesellschaft
Über ähnliche Attacken in umgekehrte Richtung hatte Rolando Benito – aus
Angst damals unter Pseudonym – 2019 nach dem Rücktritt von Morales
berichtet. Freunde hörten auf, mit ihm zu reden, weil er MAS-Anhänger war.
Jetzt ändert sich das wieder.
„Wie geht es dir? Wie gut, dass das jetzt vorbei ist“, hätten ihm
mindestens sieben Freunde nach der Wahl geschrieben, sagt er – nach Monaten
Funkstille. Er antwortete ihnen. Aber er vermeide politische Themen. Es
wird dauern, bis die Gräben in der bolivianischen Gesellschaft überwunden
sind.
Donnerstagmorgen waren über 90 Prozent der Stimmen ausgezählt. Luís Arce
(MAS) lag mit über 54 Prozent vorn, der zweitplatzierte Carlos Mesa
(Comunidad Ciudadana) bei 29 Prozent. Das ist für Arce deutlich mehr als
Umfragen vor der Wahl prognostiziert hatten, sogar mehr, als Morales bei
der umstrittenen Wahl 2019 erzielt haben soll. Zudem [3][herrschte am
Sonntag Rekordwahlbeteiligung].
Der Technokrat Luís Arce habe wegen drei Versprechen mehr als 50 Prozent
der Stimmen erreicht, [4][analysiert der Journalist Pablo Ortiz]: Erstens
habe er die Amtsführung von Morales kritisiert und eine Regierung mit einem
neuen, jungen Führungsteam versprochen. Zweitens habe Arce versprochen, nur
fünf Jahre zu regieren, und so die Angst zerstreut, die MAS würde die Macht
nie wieder loslassen. Drittens habe er versprochen, dass mit ihm keine
politische Verfolgung und Revanchismus zurückkämen.
## MAS-Anhänger*innen verunglimpft
Politikwissenschaftlerin Guevara, die Angst vor Revanchismus hat, war vor
einem Jahr [5][gegen eine vierte Amtszeit von Morales auf die Straße]
gegangen. Heute kann sie verstehen, dass eine Mehrheit für MAS gestimmt
hat. Die protestierende Jugend habe 2019 einen Wandel nach 14 Jahren „Evo“
gewollt und mehr Demokratie – stattdessen bekam sie
[6][Übergangspräsidentin Jeanine Áñez] mit dem ultrarechten,
bibel-schwenkenden Camacho.
„Uralte ultrakonservative Führungspersonen schlossen sich an“, sagt
Guevara. MAS-Anhänger*innen seien als dumm verunglimpft worden. „Das ging
soweit, dass Leute ohne Mundschutz auf der Straße mit masistas
gleichgesetzt wurden.“
Der unterlegene rechte Kandidat Carlos Mesa habe sich von diesen
Ultrarechten nicht deutlich distanziert, sagt Guevara. Das habe ihn Stimmen
gekostet. Vor allem aber habe er anders als 2019 überhaupt keinen Wahlkampf
bei den einfachen Leuten gemacht, nur im Fernsehen und in den sozialen
Medien. Dabei haben viele Menschen in Bolivien kein stabiles Internet. Arce
und sogar Camacho gingen hingegen hinaus in die ärmeren Viertel und aufs
Land.
„Mesa ist super intelligent, ein Intellektueller“, sagt Guevara über den
Wahlverlierer. „Es ist eine Freude, ihm zuzuhören. Aber ich kann mir nicht
vorstellen, dass er schon einmal auf dem Markt Gemüse eingekauft hat.“ Ihm
fehle Empathie für Menschen außerhalb seiner bürgerlichen Akademikerwelt.
Sein Vize sei ähnlich, während Arce mit einem indigenen Vize punktete.
Bolivien steckt tief in der Krise. Wahrscheinlich muss die Währung
abgewertet werden. „Von Arce werden die einfachen Leute diesen Schritt eher
akzeptieren, weil sie ihn mögen“, meint Guevara. Auch in der Covidpandemie
könnte Arce besser durchgreifen: „Wenn wir wieder in Quarantäne müssen,
kann niemand mehr sagen, das sei eine Verschwörung der Rechten.“
23 Oct 2020
## LINKS
[1] /Proteste-in-Bolivien/!5643040
[2] /Boliviens-neuer-Praesident/!5720409
[3] /Praesidentschaftswahl-in-Bolivien/!5721818
[4] https://nuso.org/articulo/Bolivia-Luis-Arce-Evo-Morales/?fbclid=IwAR0mHzi6z…
[5] /Proteste-und-Morales-Sturz-in-Bolivien/!5638564
[6] /Boliviens-Interimspraesidentin/!5638253
## AUTOREN
Katharina Wojczenko
## TAGS
Bolivien
Evo Morales
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Luis Arce
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Lesestück Recherche und Reportage
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