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# taz.de -- Urbanes Seilbahnsystem von La Paz: Revolution am Himmel
> Das Seilbahnsystem der bolivianischen Hauptstadt ist das größte der Welt.
> Es hat La Paz und die Nachbarstadt El Alto demokratisiert – mit Folgen.
Bild: Revolutionär: Ein Blick aus der Gondel auf La Paz
Die Vorstadt El Alto – die Hohe – auf einem Plateau westlich der
bolivianischen Hauptstadt La Paz ist ein Pulverfass. Vor allem Indigenas
aus allen Teilen des Landes haben sich hier in den letzten 30 Jahren
angesiedelt. Sie haben Hütten und Häuser gebaut und kleine Geschäfte oder
Handwerke begonnen. Viele haben sich ein neues Leben aufgebaut. Nun geht
ein Riss quer durch Al Alto.
Die Frage ist, ob man den zurückgetretenen Präsidenten Evo Morales mit
Blockaden und Gewalt unterstützen soll oder nicht. Dabei hat es schon Tote
gegeben. Auch viele Indigenas wünschen sich deshalb vor allem ein Ende der
Protestaktionen. Die neue Übergangspräsidentin Jeanine Áñez will die
umstrittenen Wahlen vom 20. Oktober annullieren lassen und [1][mit
Neuwahlen das Land] befrieden. Ausgang offen.
Eine Revolution ist dem Sozialisten Morales, der 2006 erster indigener
Präsident des Landes wurde, in jedem Fall gelungen: Er hat mit dem größten
urbanen Seilbahnsystem der Welt den Luftraum über der ständig wachsenden
Hauptstadt La Paz und ihrer Nachbarin El Alto demokratisiert – mit
weitreichenden Folgen.
„Wir sind darüber alle sehr glücklich“, sagt Rodrigo Vera Rozo und blinze…
in den wolkenlosen tiefblauen Himmel, wo die Gondeln der himmelblauen
Seilbahnlinie im 6-Sekunden-Takt vorüberziehen. Wer verstehen will, warum
der Mann sich über den neuen Nahverkehr so freut, der muss selbst an einem
Tag ohne Kundgebungen nur einmal in der dünnen Luft die wenigen Schritte
von der Franziskanerkirche an der Avenida Ismael Montes durch die Altstadt
hoch zum Parlamentsgebäude an der Plaza Murillo schnaufen.
## Den Verkehr nachhaltig entlastet
Kolonnen uralter Busse und Trufis – hiesiger Sammeltaxis – schieben sich
stotternd und tuckernd durch die engen steilen Straßen. Die schmalen
Bürgersteige werden von fliegenden Händlern in drei Schichten vom frühen
Morgen bis spät in die Nacht mit Bergen an Plastikspielzeug, dampfenden
Empanadas, billigen Radios, Küchenzubehör und Kleidung oft bis auf die
Fahrbahn zugestellt. Dazwischen suchen sich Männer in schwarzen Anzügen und
Frauen in bunten Röcken mit Tragekiepen und Strohhüten gleichberechtigt
bedächtig ob der Höhe von über 3.000 Metern ihren Weg durch das
Durcheinander. Hauptstraßen gibt es kaum. Staus sind Normalzustand.
Welch anderes Bild bietet sich wenige Meter weiter in der himmelblau
angemalten Endstation Prado der Linea Celeste. Gewienerte Böden,
freundliches Personal am Fahrkartenschalter, kostenlose Toiletten. Und
schwupps sitzt man mit einem Boleto für drei Soles Bolivianos – umgerechnet
40 Eurocent – auch schon drin in der inzwischen wichtigsten
Touristenattraktion von La Paz. Auf zehn farblich markierten Linien
schweben die Gondeln der öffentlichen Seilbahn Mi Teleferico – Meine
Seilbahn – fast geräuschlos über das Häusermeer des höchstgelegenen
Regierungssitzes weltweit.
Ursprünglich hatte dem jüngst zurückgetretenen sozialistischen
Staatpräsidenten Evo Morales 2014 eine Hochbahn vorgeschwebt. Die sollte
die rasant wachsende arme Oberstadt El Alto mit dem Zentrum von La Paz
verbinden, um den völligen Verkehrskollaps durch Hunderttausende Pendler
morgens und abends gerade noch abzuwenden. Doch die Topografie mit mehreren
tief eingeschnittenen Canyons und die extrem dichte Bebauung im
Ballungsraum mit 1,8 Millionen Einwohnern sprachen für eine Seilbahn.
Experten des Marktführers Doppelmayr aus Österreich haben die ersten drei
Linien für rund 230 Millionen Euro in wenigen Monaten Bauzeit realisiert.
Seither sind sie in La Paz dauerhaft engagiert. Die Gesamtinvestition von
rund 750 Millionen US-Dollar brachte dem Unternehmen den größten Auftrag in
der Firmengeschichte.
## Ein Segen für den Alltag
Bis zu 26.000 Menschen pro Stunde befördert das System in Höhen zwischen
3200 und 4100 Metern. Selbst auf ebenem Terrain – etwa auf der Strecke über
das Stadtgebiet von El Alto – hat das System Vorteile: Es greift kaum in
bestehende Bebauung ein und man entgeht den Staus am Boden. Wi i an Bord
ist in La Paz inklusive, ein Sitzplatz und Aussicht sind garantiert.
Gedränge in den Kabinen wird schon aus Sicherheitsgründen strikt vermieden.
Alten und Fußkranken helfen Servicekräfte an Bord der an den Stationen
langsam fahrenden Gondeln. Und wer Gepäck oder ein Rad dabei hat, der
bezahlt einfach doppelt.
„Die Seilbahn hat unser Leben vollkommen verändert“, sagt der Hotelmanager
Rodrigo Vera Rozo in akzentfreiem Deutsch. Er ist in Deutschland zur Schule
gegangen, hat später in Frankreich studiert. Einen Teil seiner Jugend hat
der 53-Jährige in Deutschland verbracht, wo seine Mutter in den 1980er
Jahren als Dissidentin Unterschlupf gefunden hatte. Da sei es so schön
ruhig und grün gewesen, erinnert er sich.
Für seinen Alltag ist die Seilbahn ein echter Segen. Die Fahrzeit von der
eigenständigen Millionenstadt El Alto auf dem Hochplateau unweit des
Titicacasees oder der gegenüberliegenden Zona Sur bis ins Zentrum habe sich
in der Rushhour von zwei Stunden auf 30 Minuten verkürzt, berichtet der
Geschäftsmann. Für die 2,5 beziehungsweise 4,7 Kilometer lange Fahrt selbst
braucht man nur 10 beziehungsweise 16 Minuten.
Die Viertel der Armen und Reichen seien seit der Inbetriebnahme der ersten
Linien 2014 zusammengewachsen. Er berichtet: „Viele Menschen aus den
Vorstädten waren vorher nie im Zentrum. In den ersten Monaten nach der
Inbetriebnahme 2014 haben sie jedes Wochenende Ausflüge gemacht und große
Straßenfeste gefeiert.“ Der Fahrpreis für die Gondel ist schließlich nur
halb so teuer wie das Busticket. Dabei hätten die Leute auch die Sauberkeit
in der Bahn und den Vierteln der Wohlhabenden erlebt. „Danach haben sie
auch bei sich kräftig aufgeräumt.“ Auch viele illegale Bauten seien von
oben aufgeflogen.
## Luxusvillen auf dem Hügel
Andersherum wurden die Bahnen zunächst nur von der ärmeren Bevölkerung
genutzt – und von Touristen aus Nordamerika und Europa. Wer es sich leisten
konnte, der saß weiterhin in seinem eigenen Auto. Doch mit der Zeit haben
auch Geschäftsleute, Studierende und Einkäufer trotz der robusten Holzbänke
die Vorzüge der Bahnen schätzen gelernt, die in der Stadt ganz nebenbei
Hunderte neuer Arbeitsplätze geschaffen haben.
Heute teilen sich bis zu zehn Personen einträchtig eine Kabine und halten
sie penibel sauber. Beschwerden über den Betrieb von sechs Uhr morgens bis
23 Uhr abends gibt es kaum. Wirklich einsehbar sind die unter den
Fahrgästen vorüberziehenden Häuser bei dem raschen Tempo der Kabinen nicht.
Und der Schattenwurf ist minimal. Geräusche machen nur die Stationen. Jeder
Bus ist allerdings lauter.
Besuchern bietet das Netz verbundener Linien in der dünnen Luft der
Hochanden eine ungewohnte Möglichkeit zur kostengünstigen Stadterkundung.
Aus Gründen der Praktikabilität haben sich die Betreiber gegen einen
ursprünglich geplanten, erheblich höheren Preis für Touristen entschieden.
Die Seilbahn-Experten von Doppelmayr haben für das Vorzeigeprojekt zudem
spektakuläre Streckenführungen realisiert.
Wie in einem Freizeitpark schweben die Gondeln der himmelblauen Linie über
ein Flusstal und unter mehreren Hängebrücken hindurch. Überdachte Gangways
verbinden am Ende der knapp drei Kilometer langen Strecke die hellblaue,
gelbe und grüne Linie miteinander. Die grünen Gondeln schweben besonders
niedrig über die Luxusvillen auf dem Hügel San Alberto hinüber, bevor sie
ins Tal der Zona Sur hinabgleiten, wo die meisten Europäer wohnen.
Die gelben Gondeln streben aufwärts ins Viertel Mirador, wo sich aus den
bodentiefen Fenstern der Bergstation ein spektakulärer Blick auf die bis in
steilste Lagen bebauten Hänge der Umgebung und auf La Paz’ 6.439 Meter
hohen Hausvulkan Illimani öffnet. Auch unterirdische Stationen gibt es, in
die die Bahnen dann einfahren. Insgesamt nehmen die Umstiegspunkte so wenig
Platz in Anspruch, dass Ortsfremde sie im Häusermeer der Metropole oft erst
ausfindig machen müssen.
Bürgermeister aus allen Erdteilen hätten sich das neue Nahverkehrskonzept
von La Paz zeigen lassen, berichtet Vera Rozo. Schon 2015 orderte die
kolumbianische Hauptstadt Bogotá ebenfalls eine Bahn, die in das dortige
Nahverkehrssystem integriert wurde. Auf einer Gesamtlänge von 33 Kilometern
sollen die Seilbahnen von La Paz nach den Plänen der Bauherren nicht nur
täglich bis zu 300.000 Passagiere befördern. Besucher können aus der
Vogelperspektive auch eine Runde über der Stadt drehen.
1 Dec 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Martin Wein
## TAGS
Reiseland Bolivien
Verkehr
Urbanität
Stadt
Uruguay
Evo Morales
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