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# taz.de -- Berlin plant neues Vergabegesetz: Es ist fair angerichtet
> Großer Wurf oder Bürokratiemonster? Das Land will ab 2020 mit
> öffentlichen Aufträgen stärker gute Arbeit mit mehr Lohn und die Umwelt
> fördern.
Bild: Koch Sebastian Drews mit Zweihand-Schneebesen an der Bratwanne
Eine relevante Masse an vegetarischer Spaghetti bolognese blubbert im
Kochtopfbecken der Großküche. Sebastian Drews, einer von 30 Köchen hier,
rührt mit einem Zweihänder-Schneebesen durch 1.200 Portionen Tomatensauce.
Zuvor hat er 20 Kilo Zwiebeln in sehr viel Öl angeschwitzt. Gegenüber kocht
sein Kollege Marko Kaebert 2.000 Portionen Spaghetti. Zum Umrühren benutzt
er eine Schaumkelle, mit der man wohl notfalls auch ein Paddelboot
voranbringen könnte. Für das Abschrecken seiner drei Kochtrommeln mit je 40
Kilo Spaghetti benutzt er jeweils 150 Liter Wasser.
Rund 17.000 Essen werden hier täglich hergestellt. Das sind Mengen, bei
denen es einen Unterschied macht, ob das Essen Bio ist oder nicht. Und
allein in dieser Schicht kommen über 200 Kilogramm Bio-Nudeln in die Töpfe.
Die Firma Drei Köche ist ein auf Kitas und Schulen spezialisierter
Catering-Dienst, der vor wachsenden Herausforderungen steht. Denn der
Berliner Senat hat beschlossen, schon zum nächsten Schuljahr kostenloses
Schulessen für alle Schüler*innen von der ersten bis zur sechsten Klasse
einzuführen. Ein schneller und rigoroser Schritt, der teilweise die
Kapazitäten der Schulen überlastet.
Klaus Kühn, einer der Geschäftsführer des Caterers Drei Köche, findet den
Schritt dennoch richtig – insbesondere für Kinder aus armen Familien, weil
komplizierte Anträge für Kostenbefreiung wegfielen und niemand hungrig
bleiben müsse. „Einige Kinder kommen am Montag in die Schule und essen wie
ein erwachsener Mann, weil sie am Wochenende zu wenig bekommen haben“, sagt
Kühn. Der Caterer mit 30 Köchen und 270 Mitarbeiter*innen an den
Schulmensen bekocht im Auftrag des Landes Berlin bisher 65 Schulen und zehn
Kitas.
## Arbeitsnormen, Vergabemindestlohn, Bio-Lebensmittel
Die Firma ist eine von zahlreichen Betrieben, die an Berlins neuem
Vergabegesetz gebunden sind, das ab 2020 greifen soll. Um Schulen mit Essen
zu beliefern, muss das Unternehmen sich auf eine öffentliche Ausschreibung
bewerben, in der aufgeführt ist, was der Bezirk erwartet. Das beginnt bei
Arbeitsnormen und einem Vergabemindestlohn und geht weiter mit dem Anteil
der zu verwendenden Bio-Lebensmittel. Jede Bewerbung füllt einen ganzen
Aktenordner.
Rot-Rot-Grün hat beim Regierungsantritt 2016 im Koalitionsvertrag für die
Erneuerung des Vergabegesetzes zwei auf den ersten Blick widersprüchliche
Dinge versprochen: Das Vergaberecht sollte weniger Bürokratie für kleine
und mittelständische Unternehmen bedeuten und gleichzeitig wollte der Senat
soziale und ökologische Kriterien verschärfen – die in der Regel allerdings
mehr Papierkram bedeuten.
Anfang dieser Woche präsentierte die federführende Senatsverwaltung für
Wirtschaft von Ramona Pop (Grüne) einen Entwurf für ein neues
Vergabegesetz, das noch im Herbst im Abgeordnetenhaus beschlossen werden
und dann ab 2020 gelten könnte.
Und tatsächlich scheint Pop beides unter einen Hut zu bekommen: Es finden
sich nun sowohl weniger Bürokratie als auch mehr sozialökologische
Kriterien im neuen Vergabegesetz. Der Landesmindestlohn für öffentliche
Aufträge wird angehoben von 9 auf stattliche 11,90 Euro und Pop führt die
Tariftreue ein – eine der Kernforderungen der Gewerkschaften. Damit sind
Firmen bei staatlichen Aufträgen zumindest an die unterste Stufe des
öffentlichen Tarifs gebunden. Gleichzeitig sollen künftig ökologische und
nachhaltige Angebote bei Vergaben deutlich bevorzugt werden.
## Entbürokratisierung versprochen
Und die versprochene Entbürokratisierung soll es zumindest für kleinere und
mittelständische Unternehmen geben. Denn – und das ist das Zugeständnis an
die Wirtschaft – alle diese wiederum mit viel Papierkram nachzuweisenden
sozialökologischen Kriterien greifen erst ab einem Schwellenwert von 10.000
Euro für Liefer- und Dienstleistungen und ab 50.000 Euro für das
Baugewerbe. Unterhalb dieser Werte gibt es abgespeckte Vergabeverfahren.
Das heißt einerseits, dass kleine Bewerber eine Menge Papierkram sparen
können, andererseits bedeutet es aber auch, dass der Vergabe-Mindestlohn
von 11,90 nur für Aufträge ab 10.000 Euro gelten wird. Für alle darunter
zählt weiter der gesetzliche Lohn von 9,17 Euro – und sozialökologische
Kriterien sind freiwillig. Entsprechend verfängt an dieser Stelle Kritik.
Denn wie viel Gewicht hat ein Vergabegesetz mit sozialökologischen
Kriterien, wenn diese nur für einen Teil der Dienstleistungen und
öffentlichen Beschaffungen gelten?
Doch ganz so einfach ist es nicht. Was nämlich auch niemand will und schon
gar nicht die als Wirtschaftssenatorin für Unternehmen zuständige Pop:
wichtige Investoren mit überzogenen Vergabeforderungen zu verprellen.
Ansonsten drohen Vergabestellen auf wichtigen Ausschreibungen ohne Angebot
sitzen zu bleiben – wie es etwa bei Ausschreibungen für den Bau [1][von 30
Kita-Einrichtungen in modularer Holzbauweise in Charlottenburg-Wilmersdorf
der Fall war.] In dem Bezirk fehlen nun noch mehr Kita-Plätze als ohnehin
schon, und es musste eine neue Ausschreibung gestartet werden.
Zudem liegen laut Schätzungen der Verwaltung ohnehin 80 Prozent aller
Aufträge über den Schwellenwerten. Nachhaltigkeit werde also überwiegend
zur Pflicht. Pop sagte der taz: „Wir schlagen ein wirtschaftsfreundliches
Gesamtpaket vor, das auch soziale und ökologische Kriterien berücksichtigt
und die unterschiedlichen Interessen zusammenbringt.“ Das Land Berlin
brauche immense Investitionen von Unternehmen und sozialökologischen Ziele
– „wir haben allen Spielraum im Hinblick auf unsere politischen Ziele
genutzt“, sagt Pop.
## Auftragsvolumen von 5 Milliarden Euro
Tatsächlich ist das Vergaberecht ein politisch unterschätztes Instrument.
Denn der Senat hat mit einem geschätzten Auftragsvolumen von 5 Milliarden
Euro ein gehöriges Gewicht. Wenn es gelingt, einen großen Teil dieses
Geldes in gute Arbeit und nachhaltige Beschaffung zu lenken, wäre das ein
wichtiger Faktor. Überbietet die öffentliche Hand den gesetzlichen
Mindestlohn von 9,17 Euro, hebt sich das allgemeine Lohnniveau.
Darüber hinaus kaufen staatliche Stellen natürlich neben Dienstleistungen
nicht gerade wenige Produkte ein, von denen möglichst viele fair gehandelt
sein sollen. Allein wenn man sich die 30 Tonnen Reis, die 120.000 Bananen
oder die 20.000 Ananas vorstellt, die laut Schätzungen monatlich an Berlins
Schulen verzehrt werden und die möglichst bio sein sollen, bekommt man
schon eine Idee von der Dimension einer politisch gestalteten Vergabe. Wenn
sie denn funktioniert.
In der Großküche der Drei Köche sind bereits 55 Prozent der Zutaten
Bioprodukte. Die Nudeln und die Bolognese für heute sind bio, die
Kartoffeln für den Quark am kommenden Montag hingegen sind es nicht.
Geschäftsführer Kühn fährt mit einem SUV zu einer Grundschule am
Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg. Hier werde der wichtigste Teil der Arbeit
erledigt, sagt er: die Essensausgabe an die Schüler.
Dafür ist eine herzliche Frau verantwortlich: Kazimiera Centner, die jedes
Kind genau fragt, was es denn haben wolle. Freundlich, aber bestimmt
verteilt sie Eintopf, Kartoffeln, Fischfilet und Salat: „Heute nur
Kartoffeln und keine Soße? Ok, aber morgen dann wieder mit Gemüse, gut?“
Jedem Kind wünscht sie einen guten Appetit. Die Hortkinder, die gerade zu
Tisch gehen, bedanken sich. Wenn ein Kind keinen Fisch will – es ist
Freitag –, darf das nächste gern zwei haben, wenn es denn mag. Die Kinder
finden das gut, und tatsächlich schmeckt der verkostete Erbseneintopf wie
frisch gemacht und lecker.
## Spitzenreiter für Vergabemindestlohn
Kühn sagt, dass er Mitarbeiterinnen wie Centner, welche in seinem Betrieb
hauptsächlich an der Ausgabe arbeiteten, gern in größerem Umfang
beschäftigen würde. Die meisten der 270 Mitarbeiter*innen an der Ausgabe
arbeiteten nur in Teilzeit-Jobs und für den Mindestlohn. Viele müssten
ergänzend aufstocken. Tatsächlich ist die sogenannte Minijob-Falle eine
Form der prekären Beschäftigung, von der zum Großteil Frauen betroffen
sind. Bei den Drei Köchen haben laut Kühn nur zwei Mitarbeiter*innen
Mini-Jobs. Viele seien zwar in Teilzeit, aber zumindest
sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
In der öffentlichen Gemeinschaftsverpfelgung arbeiten ingesamt laut
Arbeitsagentur allerdings relativ viele Personen in Mini-Jobs auf
450-Euro-Minijob-Basis und müssen mit Sozialhilfe aufstocken. Das
begünstigt Altersarmut und betrifft oft alleinerziehende Mütter ((siehe
Kasten).
Mit der neuen Novelle steht Centner in jedem Fall ein besserer Mindestlohn
zu. Geschützt vor Altersarmut ist sie allein damit noch nicht. Auch
deswegen würde Kühn sich für die Schulverpflegung wünschen, dass Essen
integraler Bestandteil des Schulalltags würde. Er sagt: „Es wäre ideal,
wenn es eine Frühstücks-, Mittags- und Nachmittagsausgabe gebe würde, so
wie in der Kita auch – dann wären wir raus aus der Teilzeitfalle und
könnten die Ausgabekräfte länger beschäftigen. Sechs Stunden würden ja
schon reichen für eine bessere Altersvorsorge.“
Bundesweiter Spitzenreiter für Vergabemindestlohn wird Berlin mit der
Novelle in jedem Fall. Und auch die Implementierung von Nachhaltigkeits-
und Umweltkriterien sowie von beschäftigungspolitischen Maßnahmen ist nicht
selbstverständlich, wenn man in andere Länder schaut: Zuletzt gab es einen
Rollback in Nordrhein-Westfalen, wo Schwarz-Gelb [2][Regelungen] zu
Umweltschutz, Frauenförderung und Arbeitsrechten kassierte, und [3][im
Jamaika-regierten Schleswig-Holstein] ist [4][Nachhaltigkeit nur noch
freiwillig] – beide Gesetze widersprechen damit eigentlich dem Zeitgeist.
Denn die Vorzeichen des Vergaberechts haben sich in den vergangenen Jahren
geändert. Früher galt die eiserne Regel: Der Staat muss bei öffentlichen
Ausschreibungen und Einkäufen immer das billigste Angebot annehmen –
soziale und ökologische Kriterien galten als vergabefremd. Jurist*innen
streiten zwar noch immer darum, doch mittlerweile ist es dank maßgeblicher
EU-Richtlinien möglich, Vergaberecht auch zur politischen Gestaltung zu
nutzen.
## „Geisel der Ministerialverwaltung“
Die EU-Vorgaben sind zwar etwas schwammig, sehen aber nach Auffassung
vieler Jurist*innen ausdrücklich vor, dass sozialökologische Faktoren sehr
wohl eine Rolle spielen dürfen beim Ausgeben von Steuergeldern. Ganz
abgesehen davon können natürlich auch nachhaltige Produkte auf längere
Sicht günstiger sein, wenn längere Lebensdauer oder gar Klimaschäden
einberechnet werden.
Auf Klagen vor der Vergabekammer gegen die neuen Regelungen ist man in den
Behörden natürlich trotzdem eingestellt. In den Vergabestellen schwingt
laut einhelliger Meinung vieler Verwaltungsmitarbeiter*innen häufig auch
Angst mit, bei Vergabeverfahren Fehler zu begehen. Manche sagen sogar: „Das
Vergabegesetz ist die Geisel der Ministerialverwaltung.“ [5][Die klammen
Bezirke stünden zwischen den Stühlen] – zwischen Sparzwang und
Vergaberecht. Aus Furcht zögen sich Vergabestellen dann auf gerichtsfeste
Punkte zurück, bei denen sie sich ganz sicher seien – und landeten wiederum
bei niedrigen Preisen. Eine Folge davon sei die Niedrigpreiskonkurrenz und
schlechte Löhne.
Ein Problem dürfte dabei sicher fehlende Expertise sein. Berlin hat laut
Senat schätzungsweise über 1.000 unterschiedliche Vergabestellen. Jede noch
so poplige Verwaltungseinheit im Bezirk, jedes Amt, jedes Senatsreferat
kann Aufträge, Dienst- und Lieferleistungen öffentlich ausschreiben und
damit Vergabestelle sein. Wie viele Vergabestellen es in Berlin genau gibt,
weiß niemand. Ramona Pop will deswegen zentralisieren und Expert*innen in
je einer Vergabestelle pro Senatsverwaltung und Bezirk bündeln. Zudem soll
ein elektronisches Verfahren eingeführt werden.
Trotz der von Pop betonten Wirtschaftsfreundlichkeit des Gesetzes bekommt
die grüne Senatorin viel Widerspruch aus der wirtschaftsfreundlichen Ecke:
Die Kammern von Industrie- und Handwerk wehren sich. In einer [6][Berliner
Erklärung] etwa positionierten sie sich deutlich gegen das reformierte
Gesetz. Ein Hauptstreitpunkt sind dabei die Schwellenwerte. Die aktuell
vorgesehenen 10.000 Euro sind aus Sicht von IHK und Opposition deutlich zu
niedrig.
## „Hürden bleiben zu hoch“
Die CDU bezeichnet sie als „völlig untauglich, um das Vergabeprozedere zu
entschlacken“ und die FDP findet nach wie vor, dass sozialökologische
Kriterien „im Vergaberecht nichts verloren haben“.
Die IHK bemängelt, dass ein unterschiedlicher Mindestlohn in Berlin und
Brandenburg Probleme bei der Personalkostenabrechnung nach sich zöge. Man
hätte sich gewünscht, dass das Vergaberecht wirtschaftsfreundlicher würde:
„Die Hürden bleiben zu hoch. Schon jetzt bewerben sich drei von vier
Unternehmen erst gar nicht auf öffentliche Ausschreibungen“, sagt Susann
Budras, Expertin für Vergaberecht der IHK.
Auch die Unternehmen sind laut IHK daran interessiert, dass langfristige
Konzepte und teurere Angebote angenommen würden. Dafür brauche es mehr
Expert*innen in den Vergabestellen: „Wenn in den Vergabestellen weiter die
Angst vor Formfehlern regiere, werde auch künftig das günstigste und nicht
das wirtschaftlichste Angebot angenommen“, so Budras. Auch habe der Senat
es in seiner Novelle versäumt, mehr Innovationsfreundlichkeit zu fördern –
die IHK hätte es etwa gut gefunden, wenn innovative Konzepte und Techniken
einen Wettbewerbsvorteil ähnlich wie faires Wirtschaften einbringen würde.
Kritik gibt es auch von NGOs aus dem Fairgabebündnis, das sich für
nachhaltige öffentliche Beschaffung einsetzt. Von Michael Jopp etwa, dessen
offizielle Jobbezeichnung Fachpromoter für kommunale Entwicklungspolitik –
also Lobbyist für faire Vergabe – ist. Jopp ist Anfang 30, trägt seine
langen, dunklen Haare in einem Dutt, einen Backen- und Kinnbart, weißes
T-Shirt und kurze Hosen. Er ist Ansprechpartner für viele Mitarbeiter*innen
in der Verwaltung, wenn es um die Konkretisierung von fairer Vergabe geht.
Seine Stelle wird vom Bund und dem Land bezahlt und ist Teil der Initiative
„Eine Welt Stadt Berlin“.
## Zentralisiertes und digitalisiertes Beschaffungssystem
Trotz der Fortschritte beim Mindestlohn und sozialen Kriterien, sieht Jopp
das neue Vergabegesetz mit gemischten Gefühlen und hofft noch auf
Verbesserungen: „Man müsste die Wertgrenzen für Beschaffung eigentlich auf
500 Euro herabsetzen. Die nun festgelegten 10.000 Euro greifen nicht für
alltägliche wichtige Anschaffungen wie etwa dem Kaffee in Verwaltung und
Kantine oder dem kaputten Schreibtisch, den ein Mitarbeiter neu bestellt.“
Mit Freiwilligkeit unterhalb der Wertgrenzen käme man nicht weit: „Man muss
faire Beschaffung ganz klar auch in der Leistungsbeschreibung verankern
können. Eigenerklärungen oder Absichtsbekundungen helfen da nicht weiter:
Das ist dann auch nur der 18. Wisch, der unterschrieben und irgendwo
abgeheftet wird.“
Helfen könnte dabei aus Jopps Sicht ein zentralisiertes und digitalisiertes
Beschaffungssystem und eine Positivliste. „Es braucht eine Art fairen
Otto-Katalog, in dem sozial-ökologische Produkte und Dienstleistungen
aufgeführt sind, welche die geforderten Kriterien erfüllen.“ Insgesamt sei
er allerdings froh, „dass das neue Vergaberecht kommt, aber es muss
letztlich auch in der Praxis funktionieren“, sagt Jopp und hofft auf klare
Verwaltungsvorschriften für faire Kriterien.
Während es also bei der nachhaltigen Beschaffung und Fair Trade noch einige
Fragezeichen gibt, könnte die verankerte Tariftreue und der höhere
Mindestlohn deutlichere Folgen haben.
## Reinigungsgewerbe könnte profitieren
Ein Feld, wo sich rasch Erfolge einstellen könnten, sind etwa das
Reinigungsgewerbe und andere Niedriglohnsektoren. Viveka Ansorge von
Joboption Berlin, einem vom Senat geförderten Projekt für bessere
Arbeitsbedingungen, sagt zum neuen Vergabegesetz: „Wenn es richtig gemacht
wird, könnte Bewegung in prekäre Beschäftigungsfelder kommen – das betrifft
auch die sogenannte Minijob-Falle.“ Durch einen höheren Mindestlohn müssten
etwa Reinigungskräfte sehr viel weniger arbeiten, um 450 Euro zu erreichen.
„Bleiben sie jedoch bei der Stundenzahl, rutschen sie durch den höheren
Lohn in einen Midi-Job mit vollständiger Sozialversicherung. Das ist
positiv“, sagt Ansorge.
Einer, der sich mit praktischem Saubermachen auskennt, ist Christian
Heistermann. Er ist selbstständiger Meister in der Gebäudereinigung und ein
echter Tatortreiniger. Er ist Mitte 50, groß, hat ein breites Kreuz und
raucht Kette. Sein in Mahlsdorf sitzender Betrieb läuft gut – auch dank
voller Auftragsbücher aus der Privatwirtschaft. Sein Prestigeobjekt ist der
Fernsehturm am Alexanderplatz, den seine Fachkräfte nachts sauber machen.
Zu dem noch bestehenden Vergaberecht sagt Heistermann: „Öffentliche
Aufträge nehme ich grundsätzlich ungern an, weil ich meine Mitarbeiter
nicht so schlecht bezahlen will.“ Mit anständigen Löhnen sei man in
öffentlichen Ausschreibungen wie etwa bei der Schulreinigung nicht mal
entfernt konkurrenzfähig. Er selbst zahle zwischen 11 und 12 Euro. „Bei
dem, was die öffentliche Hand bezahlt, denke ich mir: ‚Mach doch deinen
Dreck alleine weg!‘“
## Mehr Lohn – aber dann weniger Stunden
Die Vorgabe, nach denen etwa Schulreinigung ausgeschrieben wäre, seien eine
Zumutung und nur zu schaffen, wenn man bestimmte Bereiche dreckig lässt –
„Wegdrücken“, wie es im Reinigungsgewerbe heißt. Und schlechte Aufträge
steigerten die Unzufriedenheit. Heistermann rechnet vor: Bei einer
öffentlichen Ausschreibung zur Schulreinigung müsste man bis zu 500
Quadratmeter in der Stunde putzen. „Man schaffe aber – wenn man gut ist –
bei zweistufigem Wischen höchstens die Hälfte.“ Faktisch sei die Arbeit
also nicht zu schaffen. Kein Wunder, dass viele Schüler nicht mehr aufs
Schulklo gehen.
Warum es dann trotzdem Angebote für die Ausschreibungen gibt? Heistermann
sagt: „Das ist nichts Neues in der Gebäudereinigung: Anbieter spielen
Arbeitnehmer gegeneinander aus und drücken die Kosten.“ Eine Erhöhung des
Vergabemindestlohns allein löse das Problem dabei noch nicht. Er
befürchtet, dass sich mit dem steigendem Lohn einfach die Zahl der Stunden
verringert, die für die selbe Fläche zum Putzen zur Verfügung steht. Es
bräuchte klare Vorgaben und realistische Zielsetzungen, was wirklich zu
schaffen ist. Für Leistungsbeschreibung in der freien Wirtschaft gebe es
sinnvolle Regeltabellen, die aus Heistermanns Sicht dringend auch die
Vergabestellen nutzen sollten.
Und natürlich sagt Heistermann – wie fast alle Unternehmer, die mit dem
Vergaberecht konfrontiert sind: der bürokratische Wahnsinn muss weg.
Verständnis für ökologische Kriterien hat er zwar, „aber dann soll man mir
doch bitte konkret sagen, welches Bio-Reinigungsmittel ich für welchen
Preis erwerben soll und das entsprechend in der Ausschreibung einpreisen“.
Dann würde er sich vielleicht mal wieder auf einen öffentlichen Auftrag
bewerben. Aber so richtig glaubt Heistermann nicht daran.
22 Jun 2019
## LINKS
[1] /Kitaplatzausbau-in-Berlin-stockt/!5579361
[2] https://www.bi-medien.de/artikel-25702-ad-tvgg-nrw.bi
[3] https://www.kn-online.de/Nachrichten/Schleswig-Holstein/Kieler-Landtag-Heft…
[4] https://www.bi-medien.de/artikel-31421-ad-vergabegesetz-sh-angenommen.bi
[5] https://www.arbeitgestaltengmbh.de/assets/Uploads/2011-11-13-Dokumentation-…
[6] https://www.ihk-berlin.de/presse/presseinfo/Neuer_Inhalt2019-06-05-nachbess…
## AUTOREN
Gareth Joswig
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