| # taz.de -- Berlin plant neues Vergabegesetz: Es ist fair angerichtet | |
| > Großer Wurf oder Bürokratiemonster? Das Land will ab 2020 mit | |
| > öffentlichen Aufträgen stärker gute Arbeit mit mehr Lohn und die Umwelt | |
| > fördern. | |
| Bild: Koch Sebastian Drews mit Zweihand-Schneebesen an der Bratwanne | |
| Eine relevante Masse an vegetarischer Spaghetti bolognese blubbert im | |
| Kochtopfbecken der Großküche. Sebastian Drews, einer von 30 Köchen hier, | |
| rührt mit einem Zweihänder-Schneebesen durch 1.200 Portionen Tomatensauce. | |
| Zuvor hat er 20 Kilo Zwiebeln in sehr viel Öl angeschwitzt. Gegenüber kocht | |
| sein Kollege Marko Kaebert 2.000 Portionen Spaghetti. Zum Umrühren benutzt | |
| er eine Schaumkelle, mit der man wohl notfalls auch ein Paddelboot | |
| voranbringen könnte. Für das Abschrecken seiner drei Kochtrommeln mit je 40 | |
| Kilo Spaghetti benutzt er jeweils 150 Liter Wasser. | |
| Rund 17.000 Essen werden hier täglich hergestellt. Das sind Mengen, bei | |
| denen es einen Unterschied macht, ob das Essen Bio ist oder nicht. Und | |
| allein in dieser Schicht kommen über 200 Kilogramm Bio-Nudeln in die Töpfe. | |
| Die Firma Drei Köche ist ein auf Kitas und Schulen spezialisierter | |
| Catering-Dienst, der vor wachsenden Herausforderungen steht. Denn der | |
| Berliner Senat hat beschlossen, schon zum nächsten Schuljahr kostenloses | |
| Schulessen für alle Schüler*innen von der ersten bis zur sechsten Klasse | |
| einzuführen. Ein schneller und rigoroser Schritt, der teilweise die | |
| Kapazitäten der Schulen überlastet. | |
| Klaus Kühn, einer der Geschäftsführer des Caterers Drei Köche, findet den | |
| Schritt dennoch richtig – insbesondere für Kinder aus armen Familien, weil | |
| komplizierte Anträge für Kostenbefreiung wegfielen und niemand hungrig | |
| bleiben müsse. „Einige Kinder kommen am Montag in die Schule und essen wie | |
| ein erwachsener Mann, weil sie am Wochenende zu wenig bekommen haben“, sagt | |
| Kühn. Der Caterer mit 30 Köchen und 270 Mitarbeiter*innen an den | |
| Schulmensen bekocht im Auftrag des Landes Berlin bisher 65 Schulen und zehn | |
| Kitas. | |
| ## Arbeitsnormen, Vergabemindestlohn, Bio-Lebensmittel | |
| Die Firma ist eine von zahlreichen Betrieben, die an Berlins neuem | |
| Vergabegesetz gebunden sind, das ab 2020 greifen soll. Um Schulen mit Essen | |
| zu beliefern, muss das Unternehmen sich auf eine öffentliche Ausschreibung | |
| bewerben, in der aufgeführt ist, was der Bezirk erwartet. Das beginnt bei | |
| Arbeitsnormen und einem Vergabemindestlohn und geht weiter mit dem Anteil | |
| der zu verwendenden Bio-Lebensmittel. Jede Bewerbung füllt einen ganzen | |
| Aktenordner. | |
| Rot-Rot-Grün hat beim Regierungsantritt 2016 im Koalitionsvertrag für die | |
| Erneuerung des Vergabegesetzes zwei auf den ersten Blick widersprüchliche | |
| Dinge versprochen: Das Vergaberecht sollte weniger Bürokratie für kleine | |
| und mittelständische Unternehmen bedeuten und gleichzeitig wollte der Senat | |
| soziale und ökologische Kriterien verschärfen – die in der Regel allerdings | |
| mehr Papierkram bedeuten. | |
| Anfang dieser Woche präsentierte die federführende Senatsverwaltung für | |
| Wirtschaft von Ramona Pop (Grüne) einen Entwurf für ein neues | |
| Vergabegesetz, das noch im Herbst im Abgeordnetenhaus beschlossen werden | |
| und dann ab 2020 gelten könnte. | |
| Und tatsächlich scheint Pop beides unter einen Hut zu bekommen: Es finden | |
| sich nun sowohl weniger Bürokratie als auch mehr sozialökologische | |
| Kriterien im neuen Vergabegesetz. Der Landesmindestlohn für öffentliche | |
| Aufträge wird angehoben von 9 auf stattliche 11,90 Euro und Pop führt die | |
| Tariftreue ein – eine der Kernforderungen der Gewerkschaften. Damit sind | |
| Firmen bei staatlichen Aufträgen zumindest an die unterste Stufe des | |
| öffentlichen Tarifs gebunden. Gleichzeitig sollen künftig ökologische und | |
| nachhaltige Angebote bei Vergaben deutlich bevorzugt werden. | |
| ## Entbürokratisierung versprochen | |
| Und die versprochene Entbürokratisierung soll es zumindest für kleinere und | |
| mittelständische Unternehmen geben. Denn – und das ist das Zugeständnis an | |
| die Wirtschaft – alle diese wiederum mit viel Papierkram nachzuweisenden | |
| sozialökologischen Kriterien greifen erst ab einem Schwellenwert von 10.000 | |
| Euro für Liefer- und Dienstleistungen und ab 50.000 Euro für das | |
| Baugewerbe. Unterhalb dieser Werte gibt es abgespeckte Vergabeverfahren. | |
| Das heißt einerseits, dass kleine Bewerber eine Menge Papierkram sparen | |
| können, andererseits bedeutet es aber auch, dass der Vergabe-Mindestlohn | |
| von 11,90 nur für Aufträge ab 10.000 Euro gelten wird. Für alle darunter | |
| zählt weiter der gesetzliche Lohn von 9,17 Euro – und sozialökologische | |
| Kriterien sind freiwillig. Entsprechend verfängt an dieser Stelle Kritik. | |
| Denn wie viel Gewicht hat ein Vergabegesetz mit sozialökologischen | |
| Kriterien, wenn diese nur für einen Teil der Dienstleistungen und | |
| öffentlichen Beschaffungen gelten? | |
| Doch ganz so einfach ist es nicht. Was nämlich auch niemand will und schon | |
| gar nicht die als Wirtschaftssenatorin für Unternehmen zuständige Pop: | |
| wichtige Investoren mit überzogenen Vergabeforderungen zu verprellen. | |
| Ansonsten drohen Vergabestellen auf wichtigen Ausschreibungen ohne Angebot | |
| sitzen zu bleiben – wie es etwa bei Ausschreibungen für den Bau [1][von 30 | |
| Kita-Einrichtungen in modularer Holzbauweise in Charlottenburg-Wilmersdorf | |
| der Fall war.] In dem Bezirk fehlen nun noch mehr Kita-Plätze als ohnehin | |
| schon, und es musste eine neue Ausschreibung gestartet werden. | |
| Zudem liegen laut Schätzungen der Verwaltung ohnehin 80 Prozent aller | |
| Aufträge über den Schwellenwerten. Nachhaltigkeit werde also überwiegend | |
| zur Pflicht. Pop sagte der taz: „Wir schlagen ein wirtschaftsfreundliches | |
| Gesamtpaket vor, das auch soziale und ökologische Kriterien berücksichtigt | |
| und die unterschiedlichen Interessen zusammenbringt.“ Das Land Berlin | |
| brauche immense Investitionen von Unternehmen und sozialökologischen Ziele | |
| – „wir haben allen Spielraum im Hinblick auf unsere politischen Ziele | |
| genutzt“, sagt Pop. | |
| ## Auftragsvolumen von 5 Milliarden Euro | |
| Tatsächlich ist das Vergaberecht ein politisch unterschätztes Instrument. | |
| Denn der Senat hat mit einem geschätzten Auftragsvolumen von 5 Milliarden | |
| Euro ein gehöriges Gewicht. Wenn es gelingt, einen großen Teil dieses | |
| Geldes in gute Arbeit und nachhaltige Beschaffung zu lenken, wäre das ein | |
| wichtiger Faktor. Überbietet die öffentliche Hand den gesetzlichen | |
| Mindestlohn von 9,17 Euro, hebt sich das allgemeine Lohnniveau. | |
| Darüber hinaus kaufen staatliche Stellen natürlich neben Dienstleistungen | |
| nicht gerade wenige Produkte ein, von denen möglichst viele fair gehandelt | |
| sein sollen. Allein wenn man sich die 30 Tonnen Reis, die 120.000 Bananen | |
| oder die 20.000 Ananas vorstellt, die laut Schätzungen monatlich an Berlins | |
| Schulen verzehrt werden und die möglichst bio sein sollen, bekommt man | |
| schon eine Idee von der Dimension einer politisch gestalteten Vergabe. Wenn | |
| sie denn funktioniert. | |
| In der Großküche der Drei Köche sind bereits 55 Prozent der Zutaten | |
| Bioprodukte. Die Nudeln und die Bolognese für heute sind bio, die | |
| Kartoffeln für den Quark am kommenden Montag hingegen sind es nicht. | |
| Geschäftsführer Kühn fährt mit einem SUV zu einer Grundschule am | |
| Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg. Hier werde der wichtigste Teil der Arbeit | |
| erledigt, sagt er: die Essensausgabe an die Schüler. | |
| Dafür ist eine herzliche Frau verantwortlich: Kazimiera Centner, die jedes | |
| Kind genau fragt, was es denn haben wolle. Freundlich, aber bestimmt | |
| verteilt sie Eintopf, Kartoffeln, Fischfilet und Salat: „Heute nur | |
| Kartoffeln und keine Soße? Ok, aber morgen dann wieder mit Gemüse, gut?“ | |
| Jedem Kind wünscht sie einen guten Appetit. Die Hortkinder, die gerade zu | |
| Tisch gehen, bedanken sich. Wenn ein Kind keinen Fisch will – es ist | |
| Freitag –, darf das nächste gern zwei haben, wenn es denn mag. Die Kinder | |
| finden das gut, und tatsächlich schmeckt der verkostete Erbseneintopf wie | |
| frisch gemacht und lecker. | |
| ## Spitzenreiter für Vergabemindestlohn | |
| Kühn sagt, dass er Mitarbeiterinnen wie Centner, welche in seinem Betrieb | |
| hauptsächlich an der Ausgabe arbeiteten, gern in größerem Umfang | |
| beschäftigen würde. Die meisten der 270 Mitarbeiter*innen an der Ausgabe | |
| arbeiteten nur in Teilzeit-Jobs und für den Mindestlohn. Viele müssten | |
| ergänzend aufstocken. Tatsächlich ist die sogenannte Minijob-Falle eine | |
| Form der prekären Beschäftigung, von der zum Großteil Frauen betroffen | |
| sind. Bei den Drei Köchen haben laut Kühn nur zwei Mitarbeiter*innen | |
| Mini-Jobs. Viele seien zwar in Teilzeit, aber zumindest | |
| sozialversicherungspflichtig beschäftigt. | |
| In der öffentlichen Gemeinschaftsverpfelgung arbeiten ingesamt laut | |
| Arbeitsagentur allerdings relativ viele Personen in Mini-Jobs auf | |
| 450-Euro-Minijob-Basis und müssen mit Sozialhilfe aufstocken. Das | |
| begünstigt Altersarmut und betrifft oft alleinerziehende Mütter ((siehe | |
| Kasten). | |
| Mit der neuen Novelle steht Centner in jedem Fall ein besserer Mindestlohn | |
| zu. Geschützt vor Altersarmut ist sie allein damit noch nicht. Auch | |
| deswegen würde Kühn sich für die Schulverpflegung wünschen, dass Essen | |
| integraler Bestandteil des Schulalltags würde. Er sagt: „Es wäre ideal, | |
| wenn es eine Frühstücks-, Mittags- und Nachmittagsausgabe gebe würde, so | |
| wie in der Kita auch – dann wären wir raus aus der Teilzeitfalle und | |
| könnten die Ausgabekräfte länger beschäftigen. Sechs Stunden würden ja | |
| schon reichen für eine bessere Altersvorsorge.“ | |
| Bundesweiter Spitzenreiter für Vergabemindestlohn wird Berlin mit der | |
| Novelle in jedem Fall. Und auch die Implementierung von Nachhaltigkeits- | |
| und Umweltkriterien sowie von beschäftigungspolitischen Maßnahmen ist nicht | |
| selbstverständlich, wenn man in andere Länder schaut: Zuletzt gab es einen | |
| Rollback in Nordrhein-Westfalen, wo Schwarz-Gelb [2][Regelungen] zu | |
| Umweltschutz, Frauenförderung und Arbeitsrechten kassierte, und [3][im | |
| Jamaika-regierten Schleswig-Holstein] ist [4][Nachhaltigkeit nur noch | |
| freiwillig] – beide Gesetze widersprechen damit eigentlich dem Zeitgeist. | |
| Denn die Vorzeichen des Vergaberechts haben sich in den vergangenen Jahren | |
| geändert. Früher galt die eiserne Regel: Der Staat muss bei öffentlichen | |
| Ausschreibungen und Einkäufen immer das billigste Angebot annehmen – | |
| soziale und ökologische Kriterien galten als vergabefremd. Jurist*innen | |
| streiten zwar noch immer darum, doch mittlerweile ist es dank maßgeblicher | |
| EU-Richtlinien möglich, Vergaberecht auch zur politischen Gestaltung zu | |
| nutzen. | |
| ## „Geisel der Ministerialverwaltung“ | |
| Die EU-Vorgaben sind zwar etwas schwammig, sehen aber nach Auffassung | |
| vieler Jurist*innen ausdrücklich vor, dass sozialökologische Faktoren sehr | |
| wohl eine Rolle spielen dürfen beim Ausgeben von Steuergeldern. Ganz | |
| abgesehen davon können natürlich auch nachhaltige Produkte auf längere | |
| Sicht günstiger sein, wenn längere Lebensdauer oder gar Klimaschäden | |
| einberechnet werden. | |
| Auf Klagen vor der Vergabekammer gegen die neuen Regelungen ist man in den | |
| Behörden natürlich trotzdem eingestellt. In den Vergabestellen schwingt | |
| laut einhelliger Meinung vieler Verwaltungsmitarbeiter*innen häufig auch | |
| Angst mit, bei Vergabeverfahren Fehler zu begehen. Manche sagen sogar: „Das | |
| Vergabegesetz ist die Geisel der Ministerialverwaltung.“ [5][Die klammen | |
| Bezirke stünden zwischen den Stühlen] – zwischen Sparzwang und | |
| Vergaberecht. Aus Furcht zögen sich Vergabestellen dann auf gerichtsfeste | |
| Punkte zurück, bei denen sie sich ganz sicher seien – und landeten wiederum | |
| bei niedrigen Preisen. Eine Folge davon sei die Niedrigpreiskonkurrenz und | |
| schlechte Löhne. | |
| Ein Problem dürfte dabei sicher fehlende Expertise sein. Berlin hat laut | |
| Senat schätzungsweise über 1.000 unterschiedliche Vergabestellen. Jede noch | |
| so poplige Verwaltungseinheit im Bezirk, jedes Amt, jedes Senatsreferat | |
| kann Aufträge, Dienst- und Lieferleistungen öffentlich ausschreiben und | |
| damit Vergabestelle sein. Wie viele Vergabestellen es in Berlin genau gibt, | |
| weiß niemand. Ramona Pop will deswegen zentralisieren und Expert*innen in | |
| je einer Vergabestelle pro Senatsverwaltung und Bezirk bündeln. Zudem soll | |
| ein elektronisches Verfahren eingeführt werden. | |
| Trotz der von Pop betonten Wirtschaftsfreundlichkeit des Gesetzes bekommt | |
| die grüne Senatorin viel Widerspruch aus der wirtschaftsfreundlichen Ecke: | |
| Die Kammern von Industrie- und Handwerk wehren sich. In einer [6][Berliner | |
| Erklärung] etwa positionierten sie sich deutlich gegen das reformierte | |
| Gesetz. Ein Hauptstreitpunkt sind dabei die Schwellenwerte. Die aktuell | |
| vorgesehenen 10.000 Euro sind aus Sicht von IHK und Opposition deutlich zu | |
| niedrig. | |
| ## „Hürden bleiben zu hoch“ | |
| Die CDU bezeichnet sie als „völlig untauglich, um das Vergabeprozedere zu | |
| entschlacken“ und die FDP findet nach wie vor, dass sozialökologische | |
| Kriterien „im Vergaberecht nichts verloren haben“. | |
| Die IHK bemängelt, dass ein unterschiedlicher Mindestlohn in Berlin und | |
| Brandenburg Probleme bei der Personalkostenabrechnung nach sich zöge. Man | |
| hätte sich gewünscht, dass das Vergaberecht wirtschaftsfreundlicher würde: | |
| „Die Hürden bleiben zu hoch. Schon jetzt bewerben sich drei von vier | |
| Unternehmen erst gar nicht auf öffentliche Ausschreibungen“, sagt Susann | |
| Budras, Expertin für Vergaberecht der IHK. | |
| Auch die Unternehmen sind laut IHK daran interessiert, dass langfristige | |
| Konzepte und teurere Angebote angenommen würden. Dafür brauche es mehr | |
| Expert*innen in den Vergabestellen: „Wenn in den Vergabestellen weiter die | |
| Angst vor Formfehlern regiere, werde auch künftig das günstigste und nicht | |
| das wirtschaftlichste Angebot angenommen“, so Budras. Auch habe der Senat | |
| es in seiner Novelle versäumt, mehr Innovationsfreundlichkeit zu fördern – | |
| die IHK hätte es etwa gut gefunden, wenn innovative Konzepte und Techniken | |
| einen Wettbewerbsvorteil ähnlich wie faires Wirtschaften einbringen würde. | |
| Kritik gibt es auch von NGOs aus dem Fairgabebündnis, das sich für | |
| nachhaltige öffentliche Beschaffung einsetzt. Von Michael Jopp etwa, dessen | |
| offizielle Jobbezeichnung Fachpromoter für kommunale Entwicklungspolitik – | |
| also Lobbyist für faire Vergabe – ist. Jopp ist Anfang 30, trägt seine | |
| langen, dunklen Haare in einem Dutt, einen Backen- und Kinnbart, weißes | |
| T-Shirt und kurze Hosen. Er ist Ansprechpartner für viele Mitarbeiter*innen | |
| in der Verwaltung, wenn es um die Konkretisierung von fairer Vergabe geht. | |
| Seine Stelle wird vom Bund und dem Land bezahlt und ist Teil der Initiative | |
| „Eine Welt Stadt Berlin“. | |
| ## Zentralisiertes und digitalisiertes Beschaffungssystem | |
| Trotz der Fortschritte beim Mindestlohn und sozialen Kriterien, sieht Jopp | |
| das neue Vergabegesetz mit gemischten Gefühlen und hofft noch auf | |
| Verbesserungen: „Man müsste die Wertgrenzen für Beschaffung eigentlich auf | |
| 500 Euro herabsetzen. Die nun festgelegten 10.000 Euro greifen nicht für | |
| alltägliche wichtige Anschaffungen wie etwa dem Kaffee in Verwaltung und | |
| Kantine oder dem kaputten Schreibtisch, den ein Mitarbeiter neu bestellt.“ | |
| Mit Freiwilligkeit unterhalb der Wertgrenzen käme man nicht weit: „Man muss | |
| faire Beschaffung ganz klar auch in der Leistungsbeschreibung verankern | |
| können. Eigenerklärungen oder Absichtsbekundungen helfen da nicht weiter: | |
| Das ist dann auch nur der 18. Wisch, der unterschrieben und irgendwo | |
| abgeheftet wird.“ | |
| Helfen könnte dabei aus Jopps Sicht ein zentralisiertes und digitalisiertes | |
| Beschaffungssystem und eine Positivliste. „Es braucht eine Art fairen | |
| Otto-Katalog, in dem sozial-ökologische Produkte und Dienstleistungen | |
| aufgeführt sind, welche die geforderten Kriterien erfüllen.“ Insgesamt sei | |
| er allerdings froh, „dass das neue Vergaberecht kommt, aber es muss | |
| letztlich auch in der Praxis funktionieren“, sagt Jopp und hofft auf klare | |
| Verwaltungsvorschriften für faire Kriterien. | |
| Während es also bei der nachhaltigen Beschaffung und Fair Trade noch einige | |
| Fragezeichen gibt, könnte die verankerte Tariftreue und der höhere | |
| Mindestlohn deutlichere Folgen haben. | |
| ## Reinigungsgewerbe könnte profitieren | |
| Ein Feld, wo sich rasch Erfolge einstellen könnten, sind etwa das | |
| Reinigungsgewerbe und andere Niedriglohnsektoren. Viveka Ansorge von | |
| Joboption Berlin, einem vom Senat geförderten Projekt für bessere | |
| Arbeitsbedingungen, sagt zum neuen Vergabegesetz: „Wenn es richtig gemacht | |
| wird, könnte Bewegung in prekäre Beschäftigungsfelder kommen – das betrifft | |
| auch die sogenannte Minijob-Falle.“ Durch einen höheren Mindestlohn müssten | |
| etwa Reinigungskräfte sehr viel weniger arbeiten, um 450 Euro zu erreichen. | |
| „Bleiben sie jedoch bei der Stundenzahl, rutschen sie durch den höheren | |
| Lohn in einen Midi-Job mit vollständiger Sozialversicherung. Das ist | |
| positiv“, sagt Ansorge. | |
| Einer, der sich mit praktischem Saubermachen auskennt, ist Christian | |
| Heistermann. Er ist selbstständiger Meister in der Gebäudereinigung und ein | |
| echter Tatortreiniger. Er ist Mitte 50, groß, hat ein breites Kreuz und | |
| raucht Kette. Sein in Mahlsdorf sitzender Betrieb läuft gut – auch dank | |
| voller Auftragsbücher aus der Privatwirtschaft. Sein Prestigeobjekt ist der | |
| Fernsehturm am Alexanderplatz, den seine Fachkräfte nachts sauber machen. | |
| Zu dem noch bestehenden Vergaberecht sagt Heistermann: „Öffentliche | |
| Aufträge nehme ich grundsätzlich ungern an, weil ich meine Mitarbeiter | |
| nicht so schlecht bezahlen will.“ Mit anständigen Löhnen sei man in | |
| öffentlichen Ausschreibungen wie etwa bei der Schulreinigung nicht mal | |
| entfernt konkurrenzfähig. Er selbst zahle zwischen 11 und 12 Euro. „Bei | |
| dem, was die öffentliche Hand bezahlt, denke ich mir: ‚Mach doch deinen | |
| Dreck alleine weg!‘“ | |
| ## Mehr Lohn – aber dann weniger Stunden | |
| Die Vorgabe, nach denen etwa Schulreinigung ausgeschrieben wäre, seien eine | |
| Zumutung und nur zu schaffen, wenn man bestimmte Bereiche dreckig lässt – | |
| „Wegdrücken“, wie es im Reinigungsgewerbe heißt. Und schlechte Aufträge | |
| steigerten die Unzufriedenheit. Heistermann rechnet vor: Bei einer | |
| öffentlichen Ausschreibung zur Schulreinigung müsste man bis zu 500 | |
| Quadratmeter in der Stunde putzen. „Man schaffe aber – wenn man gut ist – | |
| bei zweistufigem Wischen höchstens die Hälfte.“ Faktisch sei die Arbeit | |
| also nicht zu schaffen. Kein Wunder, dass viele Schüler nicht mehr aufs | |
| Schulklo gehen. | |
| Warum es dann trotzdem Angebote für die Ausschreibungen gibt? Heistermann | |
| sagt: „Das ist nichts Neues in der Gebäudereinigung: Anbieter spielen | |
| Arbeitnehmer gegeneinander aus und drücken die Kosten.“ Eine Erhöhung des | |
| Vergabemindestlohns allein löse das Problem dabei noch nicht. Er | |
| befürchtet, dass sich mit dem steigendem Lohn einfach die Zahl der Stunden | |
| verringert, die für die selbe Fläche zum Putzen zur Verfügung steht. Es | |
| bräuchte klare Vorgaben und realistische Zielsetzungen, was wirklich zu | |
| schaffen ist. Für Leistungsbeschreibung in der freien Wirtschaft gebe es | |
| sinnvolle Regeltabellen, die aus Heistermanns Sicht dringend auch die | |
| Vergabestellen nutzen sollten. | |
| Und natürlich sagt Heistermann – wie fast alle Unternehmer, die mit dem | |
| Vergaberecht konfrontiert sind: der bürokratische Wahnsinn muss weg. | |
| Verständnis für ökologische Kriterien hat er zwar, „aber dann soll man mir | |
| doch bitte konkret sagen, welches Bio-Reinigungsmittel ich für welchen | |
| Preis erwerben soll und das entsprechend in der Ausschreibung einpreisen“. | |
| Dann würde er sich vielleicht mal wieder auf einen öffentlichen Auftrag | |
| bewerben. Aber so richtig glaubt Heistermann nicht daran. | |
| 22 Jun 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kitaplatzausbau-in-Berlin-stockt/!5579361 | |
| [2] https://www.bi-medien.de/artikel-25702-ad-tvgg-nrw.bi | |
| [3] https://www.kn-online.de/Nachrichten/Schleswig-Holstein/Kieler-Landtag-Heft… | |
| [4] https://www.bi-medien.de/artikel-31421-ad-vergabegesetz-sh-angenommen.bi | |
| [5] https://www.arbeitgestaltengmbh.de/assets/Uploads/2011-11-13-Dokumentation-… | |
| [6] https://www.ihk-berlin.de/presse/presseinfo/Neuer_Inhalt2019-06-05-nachbess… | |
| ## AUTOREN | |
| Gareth Joswig | |
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