# taz.de -- Berlin plant neues Vergabegesetz: Es ist fair angerichtet | |
> Großer Wurf oder Bürokratiemonster? Das Land will ab 2020 mit | |
> öffentlichen Aufträgen stärker gute Arbeit mit mehr Lohn und die Umwelt | |
> fördern. | |
Bild: Koch Sebastian Drews mit Zweihand-Schneebesen an der Bratwanne | |
Eine relevante Masse an vegetarischer Spaghetti bolognese blubbert im | |
Kochtopfbecken der Großküche. Sebastian Drews, einer von 30 Köchen hier, | |
rührt mit einem Zweihänder-Schneebesen durch 1.200 Portionen Tomatensauce. | |
Zuvor hat er 20 Kilo Zwiebeln in sehr viel Öl angeschwitzt. Gegenüber kocht | |
sein Kollege Marko Kaebert 2.000 Portionen Spaghetti. Zum Umrühren benutzt | |
er eine Schaumkelle, mit der man wohl notfalls auch ein Paddelboot | |
voranbringen könnte. Für das Abschrecken seiner drei Kochtrommeln mit je 40 | |
Kilo Spaghetti benutzt er jeweils 150 Liter Wasser. | |
Rund 17.000 Essen werden hier täglich hergestellt. Das sind Mengen, bei | |
denen es einen Unterschied macht, ob das Essen Bio ist oder nicht. Und | |
allein in dieser Schicht kommen über 200 Kilogramm Bio-Nudeln in die Töpfe. | |
Die Firma Drei Köche ist ein auf Kitas und Schulen spezialisierter | |
Catering-Dienst, der vor wachsenden Herausforderungen steht. Denn der | |
Berliner Senat hat beschlossen, schon zum nächsten Schuljahr kostenloses | |
Schulessen für alle Schüler*innen von der ersten bis zur sechsten Klasse | |
einzuführen. Ein schneller und rigoroser Schritt, der teilweise die | |
Kapazitäten der Schulen überlastet. | |
Klaus Kühn, einer der Geschäftsführer des Caterers Drei Köche, findet den | |
Schritt dennoch richtig – insbesondere für Kinder aus armen Familien, weil | |
komplizierte Anträge für Kostenbefreiung wegfielen und niemand hungrig | |
bleiben müsse. „Einige Kinder kommen am Montag in die Schule und essen wie | |
ein erwachsener Mann, weil sie am Wochenende zu wenig bekommen haben“, sagt | |
Kühn. Der Caterer mit 30 Köchen und 270 Mitarbeiter*innen an den | |
Schulmensen bekocht im Auftrag des Landes Berlin bisher 65 Schulen und zehn | |
Kitas. | |
## Arbeitsnormen, Vergabemindestlohn, Bio-Lebensmittel | |
Die Firma ist eine von zahlreichen Betrieben, die an Berlins neuem | |
Vergabegesetz gebunden sind, das ab 2020 greifen soll. Um Schulen mit Essen | |
zu beliefern, muss das Unternehmen sich auf eine öffentliche Ausschreibung | |
bewerben, in der aufgeführt ist, was der Bezirk erwartet. Das beginnt bei | |
Arbeitsnormen und einem Vergabemindestlohn und geht weiter mit dem Anteil | |
der zu verwendenden Bio-Lebensmittel. Jede Bewerbung füllt einen ganzen | |
Aktenordner. | |
Rot-Rot-Grün hat beim Regierungsantritt 2016 im Koalitionsvertrag für die | |
Erneuerung des Vergabegesetzes zwei auf den ersten Blick widersprüchliche | |
Dinge versprochen: Das Vergaberecht sollte weniger Bürokratie für kleine | |
und mittelständische Unternehmen bedeuten und gleichzeitig wollte der Senat | |
soziale und ökologische Kriterien verschärfen – die in der Regel allerdings | |
mehr Papierkram bedeuten. | |
Anfang dieser Woche präsentierte die federführende Senatsverwaltung für | |
Wirtschaft von Ramona Pop (Grüne) einen Entwurf für ein neues | |
Vergabegesetz, das noch im Herbst im Abgeordnetenhaus beschlossen werden | |
und dann ab 2020 gelten könnte. | |
Und tatsächlich scheint Pop beides unter einen Hut zu bekommen: Es finden | |
sich nun sowohl weniger Bürokratie als auch mehr sozialökologische | |
Kriterien im neuen Vergabegesetz. Der Landesmindestlohn für öffentliche | |
Aufträge wird angehoben von 9 auf stattliche 11,90 Euro und Pop führt die | |
Tariftreue ein – eine der Kernforderungen der Gewerkschaften. Damit sind | |
Firmen bei staatlichen Aufträgen zumindest an die unterste Stufe des | |
öffentlichen Tarifs gebunden. Gleichzeitig sollen künftig ökologische und | |
nachhaltige Angebote bei Vergaben deutlich bevorzugt werden. | |
## Entbürokratisierung versprochen | |
Und die versprochene Entbürokratisierung soll es zumindest für kleinere und | |
mittelständische Unternehmen geben. Denn – und das ist das Zugeständnis an | |
die Wirtschaft – alle diese wiederum mit viel Papierkram nachzuweisenden | |
sozialökologischen Kriterien greifen erst ab einem Schwellenwert von 10.000 | |
Euro für Liefer- und Dienstleistungen und ab 50.000 Euro für das | |
Baugewerbe. Unterhalb dieser Werte gibt es abgespeckte Vergabeverfahren. | |
Das heißt einerseits, dass kleine Bewerber eine Menge Papierkram sparen | |
können, andererseits bedeutet es aber auch, dass der Vergabe-Mindestlohn | |
von 11,90 nur für Aufträge ab 10.000 Euro gelten wird. Für alle darunter | |
zählt weiter der gesetzliche Lohn von 9,17 Euro – und sozialökologische | |
Kriterien sind freiwillig. Entsprechend verfängt an dieser Stelle Kritik. | |
Denn wie viel Gewicht hat ein Vergabegesetz mit sozialökologischen | |
Kriterien, wenn diese nur für einen Teil der Dienstleistungen und | |
öffentlichen Beschaffungen gelten? | |
Doch ganz so einfach ist es nicht. Was nämlich auch niemand will und schon | |
gar nicht die als Wirtschaftssenatorin für Unternehmen zuständige Pop: | |
wichtige Investoren mit überzogenen Vergabeforderungen zu verprellen. | |
Ansonsten drohen Vergabestellen auf wichtigen Ausschreibungen ohne Angebot | |
sitzen zu bleiben – wie es etwa bei Ausschreibungen für den Bau [1][von 30 | |
Kita-Einrichtungen in modularer Holzbauweise in Charlottenburg-Wilmersdorf | |
der Fall war.] In dem Bezirk fehlen nun noch mehr Kita-Plätze als ohnehin | |
schon, und es musste eine neue Ausschreibung gestartet werden. | |
Zudem liegen laut Schätzungen der Verwaltung ohnehin 80 Prozent aller | |
Aufträge über den Schwellenwerten. Nachhaltigkeit werde also überwiegend | |
zur Pflicht. Pop sagte der taz: „Wir schlagen ein wirtschaftsfreundliches | |
Gesamtpaket vor, das auch soziale und ökologische Kriterien berücksichtigt | |
und die unterschiedlichen Interessen zusammenbringt.“ Das Land Berlin | |
brauche immense Investitionen von Unternehmen und sozialökologischen Ziele | |
– „wir haben allen Spielraum im Hinblick auf unsere politischen Ziele | |
genutzt“, sagt Pop. | |
## Auftragsvolumen von 5 Milliarden Euro | |
Tatsächlich ist das Vergaberecht ein politisch unterschätztes Instrument. | |
Denn der Senat hat mit einem geschätzten Auftragsvolumen von 5 Milliarden | |
Euro ein gehöriges Gewicht. Wenn es gelingt, einen großen Teil dieses | |
Geldes in gute Arbeit und nachhaltige Beschaffung zu lenken, wäre das ein | |
wichtiger Faktor. Überbietet die öffentliche Hand den gesetzlichen | |
Mindestlohn von 9,17 Euro, hebt sich das allgemeine Lohnniveau. | |
Darüber hinaus kaufen staatliche Stellen natürlich neben Dienstleistungen | |
nicht gerade wenige Produkte ein, von denen möglichst viele fair gehandelt | |
sein sollen. Allein wenn man sich die 30 Tonnen Reis, die 120.000 Bananen | |
oder die 20.000 Ananas vorstellt, die laut Schätzungen monatlich an Berlins | |
Schulen verzehrt werden und die möglichst bio sein sollen, bekommt man | |
schon eine Idee von der Dimension einer politisch gestalteten Vergabe. Wenn | |
sie denn funktioniert. | |
In der Großküche der Drei Köche sind bereits 55 Prozent der Zutaten | |
Bioprodukte. Die Nudeln und die Bolognese für heute sind bio, die | |
Kartoffeln für den Quark am kommenden Montag hingegen sind es nicht. | |
Geschäftsführer Kühn fährt mit einem SUV zu einer Grundschule am | |
Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg. Hier werde der wichtigste Teil der Arbeit | |
erledigt, sagt er: die Essensausgabe an die Schüler. | |
Dafür ist eine herzliche Frau verantwortlich: Kazimiera Centner, die jedes | |
Kind genau fragt, was es denn haben wolle. Freundlich, aber bestimmt | |
verteilt sie Eintopf, Kartoffeln, Fischfilet und Salat: „Heute nur | |
Kartoffeln und keine Soße? Ok, aber morgen dann wieder mit Gemüse, gut?“ | |
Jedem Kind wünscht sie einen guten Appetit. Die Hortkinder, die gerade zu | |
Tisch gehen, bedanken sich. Wenn ein Kind keinen Fisch will – es ist | |
Freitag –, darf das nächste gern zwei haben, wenn es denn mag. Die Kinder | |
finden das gut, und tatsächlich schmeckt der verkostete Erbseneintopf wie | |
frisch gemacht und lecker. | |
## Spitzenreiter für Vergabemindestlohn | |
Kühn sagt, dass er Mitarbeiterinnen wie Centner, welche in seinem Betrieb | |
hauptsächlich an der Ausgabe arbeiteten, gern in größerem Umfang | |
beschäftigen würde. Die meisten der 270 Mitarbeiter*innen an der Ausgabe | |
arbeiteten nur in Teilzeit-Jobs und für den Mindestlohn. Viele müssten | |
ergänzend aufstocken. Tatsächlich ist die sogenannte Minijob-Falle eine | |
Form der prekären Beschäftigung, von der zum Großteil Frauen betroffen | |
sind. Bei den Drei Köchen haben laut Kühn nur zwei Mitarbeiter*innen | |
Mini-Jobs. Viele seien zwar in Teilzeit, aber zumindest | |
sozialversicherungspflichtig beschäftigt. | |
In der öffentlichen Gemeinschaftsverpfelgung arbeiten ingesamt laut | |
Arbeitsagentur allerdings relativ viele Personen in Mini-Jobs auf | |
450-Euro-Minijob-Basis und müssen mit Sozialhilfe aufstocken. Das | |
begünstigt Altersarmut und betrifft oft alleinerziehende Mütter ((siehe | |
Kasten). | |
Mit der neuen Novelle steht Centner in jedem Fall ein besserer Mindestlohn | |
zu. Geschützt vor Altersarmut ist sie allein damit noch nicht. Auch | |
deswegen würde Kühn sich für die Schulverpflegung wünschen, dass Essen | |
integraler Bestandteil des Schulalltags würde. Er sagt: „Es wäre ideal, | |
wenn es eine Frühstücks-, Mittags- und Nachmittagsausgabe gebe würde, so | |
wie in der Kita auch – dann wären wir raus aus der Teilzeitfalle und | |
könnten die Ausgabekräfte länger beschäftigen. Sechs Stunden würden ja | |
schon reichen für eine bessere Altersvorsorge.“ | |
Bundesweiter Spitzenreiter für Vergabemindestlohn wird Berlin mit der | |
Novelle in jedem Fall. Und auch die Implementierung von Nachhaltigkeits- | |
und Umweltkriterien sowie von beschäftigungspolitischen Maßnahmen ist nicht | |
selbstverständlich, wenn man in andere Länder schaut: Zuletzt gab es einen | |
Rollback in Nordrhein-Westfalen, wo Schwarz-Gelb [2][Regelungen] zu | |
Umweltschutz, Frauenförderung und Arbeitsrechten kassierte, und [3][im | |
Jamaika-regierten Schleswig-Holstein] ist [4][Nachhaltigkeit nur noch | |
freiwillig] – beide Gesetze widersprechen damit eigentlich dem Zeitgeist. | |
Denn die Vorzeichen des Vergaberechts haben sich in den vergangenen Jahren | |
geändert. Früher galt die eiserne Regel: Der Staat muss bei öffentlichen | |
Ausschreibungen und Einkäufen immer das billigste Angebot annehmen – | |
soziale und ökologische Kriterien galten als vergabefremd. Jurist*innen | |
streiten zwar noch immer darum, doch mittlerweile ist es dank maßgeblicher | |
EU-Richtlinien möglich, Vergaberecht auch zur politischen Gestaltung zu | |
nutzen. | |
## „Geisel der Ministerialverwaltung“ | |
Die EU-Vorgaben sind zwar etwas schwammig, sehen aber nach Auffassung | |
vieler Jurist*innen ausdrücklich vor, dass sozialökologische Faktoren sehr | |
wohl eine Rolle spielen dürfen beim Ausgeben von Steuergeldern. Ganz | |
abgesehen davon können natürlich auch nachhaltige Produkte auf längere | |
Sicht günstiger sein, wenn längere Lebensdauer oder gar Klimaschäden | |
einberechnet werden. | |
Auf Klagen vor der Vergabekammer gegen die neuen Regelungen ist man in den | |
Behörden natürlich trotzdem eingestellt. In den Vergabestellen schwingt | |
laut einhelliger Meinung vieler Verwaltungsmitarbeiter*innen häufig auch | |
Angst mit, bei Vergabeverfahren Fehler zu begehen. Manche sagen sogar: „Das | |
Vergabegesetz ist die Geisel der Ministerialverwaltung.“ [5][Die klammen | |
Bezirke stünden zwischen den Stühlen] – zwischen Sparzwang und | |
Vergaberecht. Aus Furcht zögen sich Vergabestellen dann auf gerichtsfeste | |
Punkte zurück, bei denen sie sich ganz sicher seien – und landeten wiederum | |
bei niedrigen Preisen. Eine Folge davon sei die Niedrigpreiskonkurrenz und | |
schlechte Löhne. | |
Ein Problem dürfte dabei sicher fehlende Expertise sein. Berlin hat laut | |
Senat schätzungsweise über 1.000 unterschiedliche Vergabestellen. Jede noch | |
so poplige Verwaltungseinheit im Bezirk, jedes Amt, jedes Senatsreferat | |
kann Aufträge, Dienst- und Lieferleistungen öffentlich ausschreiben und | |
damit Vergabestelle sein. Wie viele Vergabestellen es in Berlin genau gibt, | |
weiß niemand. Ramona Pop will deswegen zentralisieren und Expert*innen in | |
je einer Vergabestelle pro Senatsverwaltung und Bezirk bündeln. Zudem soll | |
ein elektronisches Verfahren eingeführt werden. | |
Trotz der von Pop betonten Wirtschaftsfreundlichkeit des Gesetzes bekommt | |
die grüne Senatorin viel Widerspruch aus der wirtschaftsfreundlichen Ecke: | |
Die Kammern von Industrie- und Handwerk wehren sich. In einer [6][Berliner | |
Erklärung] etwa positionierten sie sich deutlich gegen das reformierte | |
Gesetz. Ein Hauptstreitpunkt sind dabei die Schwellenwerte. Die aktuell | |
vorgesehenen 10.000 Euro sind aus Sicht von IHK und Opposition deutlich zu | |
niedrig. | |
## „Hürden bleiben zu hoch“ | |
Die CDU bezeichnet sie als „völlig untauglich, um das Vergabeprozedere zu | |
entschlacken“ und die FDP findet nach wie vor, dass sozialökologische | |
Kriterien „im Vergaberecht nichts verloren haben“. | |
Die IHK bemängelt, dass ein unterschiedlicher Mindestlohn in Berlin und | |
Brandenburg Probleme bei der Personalkostenabrechnung nach sich zöge. Man | |
hätte sich gewünscht, dass das Vergaberecht wirtschaftsfreundlicher würde: | |
„Die Hürden bleiben zu hoch. Schon jetzt bewerben sich drei von vier | |
Unternehmen erst gar nicht auf öffentliche Ausschreibungen“, sagt Susann | |
Budras, Expertin für Vergaberecht der IHK. | |
Auch die Unternehmen sind laut IHK daran interessiert, dass langfristige | |
Konzepte und teurere Angebote angenommen würden. Dafür brauche es mehr | |
Expert*innen in den Vergabestellen: „Wenn in den Vergabestellen weiter die | |
Angst vor Formfehlern regiere, werde auch künftig das günstigste und nicht | |
das wirtschaftlichste Angebot angenommen“, so Budras. Auch habe der Senat | |
es in seiner Novelle versäumt, mehr Innovationsfreundlichkeit zu fördern – | |
die IHK hätte es etwa gut gefunden, wenn innovative Konzepte und Techniken | |
einen Wettbewerbsvorteil ähnlich wie faires Wirtschaften einbringen würde. | |
Kritik gibt es auch von NGOs aus dem Fairgabebündnis, das sich für | |
nachhaltige öffentliche Beschaffung einsetzt. Von Michael Jopp etwa, dessen | |
offizielle Jobbezeichnung Fachpromoter für kommunale Entwicklungspolitik – | |
also Lobbyist für faire Vergabe – ist. Jopp ist Anfang 30, trägt seine | |
langen, dunklen Haare in einem Dutt, einen Backen- und Kinnbart, weißes | |
T-Shirt und kurze Hosen. Er ist Ansprechpartner für viele Mitarbeiter*innen | |
in der Verwaltung, wenn es um die Konkretisierung von fairer Vergabe geht. | |
Seine Stelle wird vom Bund und dem Land bezahlt und ist Teil der Initiative | |
„Eine Welt Stadt Berlin“. | |
## Zentralisiertes und digitalisiertes Beschaffungssystem | |
Trotz der Fortschritte beim Mindestlohn und sozialen Kriterien, sieht Jopp | |
das neue Vergabegesetz mit gemischten Gefühlen und hofft noch auf | |
Verbesserungen: „Man müsste die Wertgrenzen für Beschaffung eigentlich auf | |
500 Euro herabsetzen. Die nun festgelegten 10.000 Euro greifen nicht für | |
alltägliche wichtige Anschaffungen wie etwa dem Kaffee in Verwaltung und | |
Kantine oder dem kaputten Schreibtisch, den ein Mitarbeiter neu bestellt.“ | |
Mit Freiwilligkeit unterhalb der Wertgrenzen käme man nicht weit: „Man muss | |
faire Beschaffung ganz klar auch in der Leistungsbeschreibung verankern | |
können. Eigenerklärungen oder Absichtsbekundungen helfen da nicht weiter: | |
Das ist dann auch nur der 18. Wisch, der unterschrieben und irgendwo | |
abgeheftet wird.“ | |
Helfen könnte dabei aus Jopps Sicht ein zentralisiertes und digitalisiertes | |
Beschaffungssystem und eine Positivliste. „Es braucht eine Art fairen | |
Otto-Katalog, in dem sozial-ökologische Produkte und Dienstleistungen | |
aufgeführt sind, welche die geforderten Kriterien erfüllen.“ Insgesamt sei | |
er allerdings froh, „dass das neue Vergaberecht kommt, aber es muss | |
letztlich auch in der Praxis funktionieren“, sagt Jopp und hofft auf klare | |
Verwaltungsvorschriften für faire Kriterien. | |
Während es also bei der nachhaltigen Beschaffung und Fair Trade noch einige | |
Fragezeichen gibt, könnte die verankerte Tariftreue und der höhere | |
Mindestlohn deutlichere Folgen haben. | |
## Reinigungsgewerbe könnte profitieren | |
Ein Feld, wo sich rasch Erfolge einstellen könnten, sind etwa das | |
Reinigungsgewerbe und andere Niedriglohnsektoren. Viveka Ansorge von | |
Joboption Berlin, einem vom Senat geförderten Projekt für bessere | |
Arbeitsbedingungen, sagt zum neuen Vergabegesetz: „Wenn es richtig gemacht | |
wird, könnte Bewegung in prekäre Beschäftigungsfelder kommen – das betrifft | |
auch die sogenannte Minijob-Falle.“ Durch einen höheren Mindestlohn müssten | |
etwa Reinigungskräfte sehr viel weniger arbeiten, um 450 Euro zu erreichen. | |
„Bleiben sie jedoch bei der Stundenzahl, rutschen sie durch den höheren | |
Lohn in einen Midi-Job mit vollständiger Sozialversicherung. Das ist | |
positiv“, sagt Ansorge. | |
Einer, der sich mit praktischem Saubermachen auskennt, ist Christian | |
Heistermann. Er ist selbstständiger Meister in der Gebäudereinigung und ein | |
echter Tatortreiniger. Er ist Mitte 50, groß, hat ein breites Kreuz und | |
raucht Kette. Sein in Mahlsdorf sitzender Betrieb läuft gut – auch dank | |
voller Auftragsbücher aus der Privatwirtschaft. Sein Prestigeobjekt ist der | |
Fernsehturm am Alexanderplatz, den seine Fachkräfte nachts sauber machen. | |
Zu dem noch bestehenden Vergaberecht sagt Heistermann: „Öffentliche | |
Aufträge nehme ich grundsätzlich ungern an, weil ich meine Mitarbeiter | |
nicht so schlecht bezahlen will.“ Mit anständigen Löhnen sei man in | |
öffentlichen Ausschreibungen wie etwa bei der Schulreinigung nicht mal | |
entfernt konkurrenzfähig. Er selbst zahle zwischen 11 und 12 Euro. „Bei | |
dem, was die öffentliche Hand bezahlt, denke ich mir: ‚Mach doch deinen | |
Dreck alleine weg!‘“ | |
## Mehr Lohn – aber dann weniger Stunden | |
Die Vorgabe, nach denen etwa Schulreinigung ausgeschrieben wäre, seien eine | |
Zumutung und nur zu schaffen, wenn man bestimmte Bereiche dreckig lässt – | |
„Wegdrücken“, wie es im Reinigungsgewerbe heißt. Und schlechte Aufträge | |
steigerten die Unzufriedenheit. Heistermann rechnet vor: Bei einer | |
öffentlichen Ausschreibung zur Schulreinigung müsste man bis zu 500 | |
Quadratmeter in der Stunde putzen. „Man schaffe aber – wenn man gut ist – | |
bei zweistufigem Wischen höchstens die Hälfte.“ Faktisch sei die Arbeit | |
also nicht zu schaffen. Kein Wunder, dass viele Schüler nicht mehr aufs | |
Schulklo gehen. | |
Warum es dann trotzdem Angebote für die Ausschreibungen gibt? Heistermann | |
sagt: „Das ist nichts Neues in der Gebäudereinigung: Anbieter spielen | |
Arbeitnehmer gegeneinander aus und drücken die Kosten.“ Eine Erhöhung des | |
Vergabemindestlohns allein löse das Problem dabei noch nicht. Er | |
befürchtet, dass sich mit dem steigendem Lohn einfach die Zahl der Stunden | |
verringert, die für die selbe Fläche zum Putzen zur Verfügung steht. Es | |
bräuchte klare Vorgaben und realistische Zielsetzungen, was wirklich zu | |
schaffen ist. Für Leistungsbeschreibung in der freien Wirtschaft gebe es | |
sinnvolle Regeltabellen, die aus Heistermanns Sicht dringend auch die | |
Vergabestellen nutzen sollten. | |
Und natürlich sagt Heistermann – wie fast alle Unternehmer, die mit dem | |
Vergaberecht konfrontiert sind: der bürokratische Wahnsinn muss weg. | |
Verständnis für ökologische Kriterien hat er zwar, „aber dann soll man mir | |
doch bitte konkret sagen, welches Bio-Reinigungsmittel ich für welchen | |
Preis erwerben soll und das entsprechend in der Ausschreibung einpreisen“. | |
Dann würde er sich vielleicht mal wieder auf einen öffentlichen Auftrag | |
bewerben. Aber so richtig glaubt Heistermann nicht daran. | |
22 Jun 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Kitaplatzausbau-in-Berlin-stockt/!5579361 | |
[2] https://www.bi-medien.de/artikel-25702-ad-tvgg-nrw.bi | |
[3] https://www.kn-online.de/Nachrichten/Schleswig-Holstein/Kieler-Landtag-Heft… | |
[4] https://www.bi-medien.de/artikel-31421-ad-vergabegesetz-sh-angenommen.bi | |
[5] https://www.arbeitgestaltengmbh.de/assets/Uploads/2011-11-13-Dokumentation-… | |
[6] https://www.ihk-berlin.de/presse/presseinfo/Neuer_Inhalt2019-06-05-nachbess… | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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