# taz.de -- Halbzeit von Rot-Rot-Grün in Berlin: Masse macht nicht Klasse | |
> Die rot-rot-grüne Landesregierung rühmt sich zur Halbzeit vieler | |
> Wohltaten, doch die großen Brocken bleiben liegen. Eine Analyse. | |
Bild: Sind schon mal gut in Selbstvermarktung: Ramona Pop (Grüne), Michael Mü… | |
„R2G ist, wenn man sich in der Halbzeit den Schlusspfiff herbeisehnt.“ So | |
sieht es die CDU-Fraktion auf halbem Weg von der Abgeordnetenhauswahl im | |
September 2016, die erstmals in Berlin eine [1][rot-rot-grüne Regierung] | |
ins Amt brachte, bis zur nächsten, die normalerweise im Herbst 2021 | |
ansteht. Aber ist das so? Für die führenden Köpfe des Senats | |
erwartungsgemäß nicht – sie alle haben in diesen Tagen eine positive | |
Halbzeitbilanz gezogen. Bei einem Pressegespräch der Landesregierung lagen | |
dazu kleine Broschüren aus, in denen alle möglichen Vorhaben und | |
Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag als erledigt abgehakt waren. | |
Beeindruckend viele Häkchen waren das. Nur waren es meist Dinge, über die | |
es in einer linken Regierung auch kaum Streit geben kann: Gratisessen an | |
Grundschulen, freie BVG-Schülerkarte oder ein beitragsfreier Kitaplatz. | |
„Solidarisch“ ist ja auch eine der Überschriften des Koalitionsvertrags. | |
Und weil die Kasse, also der Landeshaushalt, voll ist, hielten auch jene | |
die Füße still, die es nicht so toll finden, dass auf Drängen der SPD auch | |
Gutverdienende für all das nichts zahlen müssen. Wobei die | |
Grünen-Fraktionsspitze vor zehn Tagen angedeutet hat, dass jetzt mal | |
Schluss sein soll mit der Kostenlos-für alle-Politik. | |
Die schwierigen Themen aber, die zugleich die zentralen Probleme der Stadt | |
sind, sie sind noch weitgehend offen: Wohnungsbau, Verkehr und Sicherheit. | |
Dort prallen Grundüberzeugungen oder Parteiinteressen aufeinander. | |
Wer baut wie viele Wohnungen wo, und wie teuer dürfen sie sein? Allein in | |
dieser Frage steckt viel Streitpotenzial, an dem sich vor allem SPD und | |
Linkspartei abarbeiten – mit dem Ergebnis, dass das von R2G selbst gesetzte | |
Ziel von 30.000 neuen Wohnungen bis ,zur nächsten Wahl schon jetzt | |
unerreichbar scheint. Ungeklärt auch: Darf der Staat schon bestehende | |
Wohnungen per Enteignung übernehmen? Ja, sagt die Linkspartei, Nein, die | |
SPD, als Jein lässt sich die Haltung der Grünen werten. | |
## Manchmal schwieriger als früher mit der CDU | |
Und wie ist der Straßenraum aufzuteilen zwischen den Verkehrsgruppen, wie | |
viel Platz bekommen künftig Busse, Radfahrer und Fußgänger neben | |
Autofahrern? Und warum dauert das so lange? Wie wiederum sind | |
Sicherheitsbedürfnis und Videoüberwachung einerseits und die Angst vor | |
Überwachung andererseits gegeneinander abzuwägen? Der SPD-Innensenator | |
setzt auf behutsamen Videoeinsatz, die Grünen schließen ihn nicht völlig | |
aus, während die Linken komplett dagegen sind. | |
Keine dieser zentralen Fragen hat der rot-rot-grüne Senat seit Amtsantritt | |
wirklich beantwortet. Bei der Bilanzpressekonferenz mit den Broschüren und | |
den vielen Häkchen ist es Regierungschef Michael Müller (SPD), der offenbar | |
in Richtung Linkspartei sagt, dass es nicht reiche, nur einen | |
Koalitionsvertrag abzuarbeiten – dann könne man sich auch hinlegen, | |
Beamte das erledigen lassen und zur nächsten Wahl wieder aufwachen. Müller | |
sagt zugleich, er fühle sich sehr wohl in dieser Koalition. Das muss kein | |
Widerspruch sein: Auch sonst ist in der SPD schon mal zu hören, menschlich | |
passe es zwischen den drei linken Parteien, aber Kompromisse zu finden sei | |
manchmal schwieriger als früher mit der CDU. | |
Zu zwei großen Fragen wird die Koalition zwangsläufig eine gemeinsame | |
Position finden müssen: Zum Thema Enteignung, das mit dem Großunternehmen | |
Deutsche Wohnen in den Fokus geraten ist, und zur Videoüberwachung stehen | |
Volksbegehren an. Hier zwingt die Landesverfassung den Senat, über seine | |
Haltung zu informieren – über die gemeinsame, nicht über die jeweilige von | |
SPD, Linkspartei oder Grünen. | |
Und dann ist da noch mehr und mehr Verkehr in der jährlich um 40.000 | |
Menschen wachsenden Stadt. Das von vielen Radfahrern mit großen Hoffnungen | |
erwartete und schließlich im Juni 2018 beschlossene Mobilitätsgesetz mündet | |
bislang gefühlt in eine Ankündigung, einen im Kern längst existierenden | |
Radschnellweg ausgebaut 2024 zu eröffnen, und in einen abgepollerten Radweg | |
in Lichterfelde. Dort, wo, soweit bekannt ist, kein Radfahrer je danach | |
gerufen hat und wo, weil die Straße breit ist, auch wenig Protest von | |
Autofahrern zu erwarten war – wo aber die in diesem Bereich federführenden | |
Grünen später sagen können, sie hätten soundso viele Kilometer dieser | |
[2][Protected Bike Lanes] bauen lassen. | |
## „Wünsch dir was“ – aber keine aktive Politik | |
Es fehlt der Mut, sich wirklich mit Autofahrern anzulegen, ihnen gerade an | |
gefährlichen Kreuzungen Platz und Parkplätze zu nehmen, damit Radfahrer und | |
Fußgänger besser zu sehen sind. Die Verantwortung von sich wegzuschieben | |
und wie Verkehrssenatorin Regine Günther zu fordern, die Leute sollten doch | |
ihr Auto abschaffen, ist „Wünsch dir was“, aber keine aktive Politik. | |
Das Widersprüchliche dabei ist, dass in Umfragen eine klare Mehrheit | |
unzufrieden mit dem Senat ist, trotzdem aber zweieinhalb Jahre nach der | |
Abgeordnetenhauswahl mehr Leute als damals für SPD, Linkspartei und Grüne | |
stimmen würden. Damals waren es knapp über 52 Prozent, nun sind es in der | |
jüngsten Umfrage 57 Prozent – jetzt mit den Grünen statt damals der SPD als | |
stärkster Kraft. Denn das heißt bloß: Alle anderen vorstellbaren | |
Regierungen erscheinen offenbar noch weniger fähig als R2G, die großen | |
Probleme der Stadt zu lösen. | |
Für Rot-Rot-Grün mag das beruhigend sein. Für Berlin ist es schade. | |
Der Text ist Bestandteil eines Schwerpunktes in der Printausgabe der | |
taz.berlin vom Wochenende 16./17. März 2019. | |
16 Mar 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.berlin.de/rbmskzl/regierender-buergermeister/senat/ | |
[2] https://www.adfc.de/pressemitteilung/adfc-erklaert-protected-bike-lanes/ | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
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