# taz.de -- Der Hausbesuch: Das Ziel ist Deeskalation | |
> Frauen, die Selbstverteidigung lernen, können damit auch schutzlose | |
> Momente verarbeiten. Die Kickboxerin Claudia Fingerhuth macht es vor. | |
Bild: Stillhalten fällt Fingerhuth schwer. Die 56-Jährige ist immer in Bewegu… | |
Vielen Frauen und Mädchen hat Claudia Fingerhuth Kick- und Thaiboxen | |
beigebracht. Zu Besuch bei ihr in den Trainingsräumen von Lowkick, dem | |
feministischem Verein für Kampfsport und Selbstverteidigung in | |
Berlin-Kreuzberg, den sie 2009 zusammen mit anderen gegründet hat. | |
Draußen: Nach Frühling riecht es am Hermannplatz, obwohl die Bäume noch | |
kahl sind. Der Platz ist ein Knotenpunkt für Menschen, Autos und U-Bahnen. | |
Oft sind die Straßen verstopft, an den Fußgängerampeln bilden sich | |
Menschentrauben, der Markt ist überlaufen und Karstadt ein Fluchtpunkt. Zu | |
Lowkick geht es an Casinos, Spielotheken, mehr Casinos und der legendären | |
Schwulenkneipe [1][„Ficken 3000“] vorbei. Am Eingang des | |
Selbstverteidigungs- und Kampfsportstudios hängen Bilder von Frauen in | |
kämpferischen Posen. „Willkommen“ steht auf Spanisch, Hebräisch, Polnisch, | |
Japanisch über der offenen Tür. | |
Drinnen: Sonne und Frühlingsluft kommen durch weit geöffnete Fenster in die | |
Trainingsräume. In der Mitte ein Boxring, umgeben von Spiegeln und | |
Sandsäcken. Die Wände sind weich, die Räume isoliert – manchmal wird | |
geschrien. Das Studio sei für Claudia Fingerhuth mehr als ein Arbeitsort, | |
sie und ihre Partnerin, die Trainerin Inken Waehner, verbringen dort mehr | |
Zeit als zu Hause. | |
Bewegung: Für die Fotos stillzuhalten fällt der 56-jährigen Berlinerin | |
schwer. Überhaupt, sich nicht zu bewegen, ist ihr unmöglich. Sie wechselt | |
im Laufen ihr T-Shirt, gehend trinkt sie Wasser aus einer grünen Flasche, | |
setzt sich auf den Boden, steht wieder auf, demonstriert mit dem Körper die | |
eine oder andere Kampfsportbewegung, springend, tretend. Schwere Sachen zu | |
transportieren indes sollte sie vermeiden: Ihre Knochen sind auf Höhe der | |
Hüfte von Metastasen ihres Brustkrebses befallen. Zweimal wurde sie in acht | |
Jahren Krankheit operiert. Sie sei froh, dass andere Organe nicht betroffen | |
seien und dass sie Energie habe. „Ich bin von Natur aus optimistisch.“ | |
Der Krebs: Sie darf weiterhin trainieren, doch viele Bewegungen tun weh. | |
Deshalb verbringt sie mehr Zeit im Büro als zuvor, „langweilig, aber okay“. | |
Claudia Fingerhuth sei es gewohnt, mit dem bösartigen Krebs offen | |
umzugehen: „Ich hoffe, niemandem zu nahe getreten zu sein, als ich mit | |
Glatze herumgelaufen bin. Aber ich habe nichts zu verstecken, Frauen müssen | |
sprechen“, sagt sie. | |
Vermehrung: Als Claudia 2014 nach einem Rückfall ein zweites Mal operiert | |
werden musste, bekam ihre Freundin Inken Waehner Angst und hatte die Idee, | |
das gemeinsame Leben in einer Biografie festzuhalten. „Wir werden keine | |
Kinder haben, und ein Buch ist dann unsere Art, der Welt etwas | |
weiterzugeben.“ Sie fände es schade, wenn Jahrzehnte voller Erlebnisse, | |
Jahrzehnte [2][des feministischen Kampfs, des Frauensports] und der Liebe | |
einfach verschwinden würden. „Wer schreibt, wird nicht vergessen“, habe sie | |
irgendwo gelesen. Eine befreundete Autorin, die seit Jahren bei ihnen | |
trainiert, schrieb dann ihre Geschichte auf. | |
„Die Sportlerin“: So heißt Fingerhuths Biografie, die Ende 2018 | |
veröffentlicht wurde. „Der Prozess, bis das Buch fertig war, war schön, | |
aber anstrengend“, sagt sie. „Wenn ich nicht jahrelang Therapie gemacht | |
hätte, wäre es nicht möglich gewesen, das alles zu erzählen.“ Drei Tage v… | |
der Buchpräsentation wurde sie unsicher. „Da kennen mich alle. Und was, | |
wenn sie das schlecht finden?“ Es lief anders: Sogar von Männern habe sie | |
gehört, die das Buch gut fanden. Ihre Geschichte zu erzählen war für | |
Fingerhuth wichtig, vor allem, um andere Frauen zu ermutigen, es ebenso zu | |
machen. „Es gibt die feministische Seite und den Frauensport. Aber auch den | |
Krebs und eine schwierige Kindheit mit Gewalt- und Missbrauchserfahrungen.“ | |
Freiräume: In dem Buch steht, wie Claudia Fingerhuth mit einer | |
alkoholkranken Mutter und einem Stiefvater, der sie missbrauchte, in einem | |
Bungalow in Berlin-Dahlem groß wurde und überlebte. Sie kümmerte sich um | |
den kleinen Bruder und den Haushalt und wusste, dass sie sich als | |
Erwachsene eine andere Wirklichkeit wünschte. Trotz traumatischer | |
Erlebnisse, habe Fingerhuth als Kind viel Freiheit gehabt. „Niemand | |
kontrollierte, was Kinder machten, wir waren nur draußen in der Natur, und | |
so kam ich zum Sport. Ich kletterte auf Bäume, spielte Ball, ging | |
schwimmen, laufen.“ | |
Action: Auch das Politische interessiert sie. „Mit zehn war ich bei | |
Amnesty, mit zwölf stellte ich bei einem Theaterstück die Rolle des Judas | |
als Verräter von Jesus infrage, mit 14 diskutierten wir über die RAF und | |
den Nationalsozialismus.“ Als sie in den 80er Jahren nach Kreuzberg zog, | |
habe sie jedoch nicht geahnt, dass die Frauenbewegung ihr Ding werden | |
würde. | |
Kick: „Siegen um jeden Preis und Fähnchen schwenkender Nationalismus waren | |
nicht mein Ding, damit kam eine ‚offizielle‘ Sportkarriere nicht in Frage�… | |
schreibt Claudia Fingerhuth auf ihrer Website. Deshalb blieb Sport am | |
Anfang etwas Privates. Sie lernte Tischlerei, studierte Pädagogik und | |
machte eine Maurerlehre dazu. Verschiedenste Berufe übte sie aus, bis sie | |
1988 Inken Waehner auf einer Demonstration vor dem Frauenknast in der | |
Lehrter Straße kennenlernte und diese ihr das Kickboxen zeigte. Claudia | |
Fingerhuth war da selbst schon zwei Monate in Untersuchungshaft gesessen, | |
nach einer Demo gegen Ronald Reagans Berlinbesuch 1987. Der Vorwurf: | |
Landfriedensbruch. Erst verliebte sich Fingerhuth ins Kickboxen und dann in | |
Inken Waehner. | |
Ausstrahlung: „Man guckt und spricht anders, wenn man sich nicht zum Opfer | |
machen lässt“, erklärt Fingerhuth. „Das Ziel ist zu deeskalieren, ‚nein… | |
sagen. Aber wenn es nicht klappt, weiß man, dass man das da hat“, sagt sie | |
und zeigt die Faust. „Kein Zufall“, sagt sie, dass von allen Sportarten, | |
die sie praktizierte, Selbstverteidigung ihre Sache fürs Leben wurde. Als | |
Kind habe sie sich nicht wehren können, als Erwachsene ermächtige sie | |
Frauen und Mädchen, ihre eigene Kraft zu erkennen und bei Gewalterfahrungen | |
agieren zu können. | |
Frauen, die über Frauen sprechen: Im Lowkick trainieren „Frauen, Inter- und | |
Trans-Personen, die gesellschaftliche Erfahrungen als Frauen machen“. Das | |
Pronomen „sie“ werde für alle benutzt. „Auch wenn wir die Diskussion üb… | |
nicht binäre Geschlechterrolle verfolgen, sind wir kein | |
queer-feministischer Raum“, sagt sie. „Wir, die aus der autonomen Frauen- | |
und Lesbenszene der 80er Jahren kommen, sind an Konfrontation gewöhnt“, | |
sagt sie. „Wir haben viel debattiert. Es ging darum, Schweigen zu brechen | |
etwa über Abtreibung, sexualisierte Gewalt, Beziehungsgewalt, | |
Kindermissbrauch und viele andere Tabus. | |
Was sie sich wünscht: „Dass Frauen weiterhin für Frauen solidarisch stehen. | |
Dass wir uns nicht verfeinden und nicht spalten lassen“, sagt sie. „Wir | |
brauchen uns, um gegen sexistische und rassistische Zustände zu kämpfen. | |
Und wenn wir Frauen selber unsere Geschichte nicht erzählen, wird es | |
niemand mehr machen“. | |
Glück: Wenn sie nach dem Training in leuchtende Augen gucke, sei sie | |
absolut zufrieden. „Dieses Glück, das ich in solchen Momenten empfinde, ist | |
die allerbeste Droge“, sagt sie. | |
13 Mar 2019 | |
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## AUTOREN | |
Luciana Ferrando | |
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