# taz.de -- Kinderbücher, die vor Fremden warnen: Schmeißt diese Bücher weg! | |
> Unzählige Kinderbücher wollen vor sexualisierter Gewalt schützen. Aber | |
> die Botschaft „Ich gehe nicht mit Fremden mit“ ist fatal. | |
Bild: Ein Spielplatz im Regen. Wo sind all die Kinder hin? | |
Max, ein Kindergartenkind, ist mit seiner Mutter einkaufen. Irgendwann hat | |
er keine Lust mehr, seine Mutter sagt: Warte auf dem Spielplatz, wo dein | |
Freund Nico ist, ich hol dich dort ab. Max und Nico bauen Sandburgen, dann | |
beginnt es zu regnen. Alle Kinder und ihre Eltern gehen nach Hause. Max | |
bleibt allein zurück. | |
Da kommt ein Mann mit Regenschirm, der in der selben Straße wohnt, und | |
fragt, ob er Max nach Hause bringen soll. Max überlegt – seine Mutter hat | |
gesagt, er solle niemals mit einem Fremden mitgehen. „Wer weiß, was das für | |
einer ist“, denkt sich Max. „Eine verwandelte Hexe? Oder ein Kinderklauer?�… | |
Er sagt Nein, der Mann geht. Max ist bis auf die Haut nass. Dann kommt | |
seine Mutter und entschuldigt sich, dass sie so lange an der Kasse warten | |
musste. Sie sagt, Max habe alles richtig gemacht, und kocht ihm zu Hause | |
einen Kakao. | |
Das Buch heißt „Max geht nicht mit Fremden mit“ und hat auf Amazon 53-mal | |
fünf Sterne. „Ein wichtiges Thema, eine schöne Geschichte, ein perfektes | |
Ende.“ – „Die Geschichte ist gut gewählt, und meine Tochter hat die | |
Botschaft mit dem Kinderklauer und der Hexe sofort verinnerlicht.“ – | |
„Fazit: absolut empfehlenswert!“ | |
Ich finde: Der sympathischste Erwachsene in diesem Buch ist der Mann, der | |
Max Hilfe anbietet. | |
Wenn „Max geht nicht mit Fremden mit“ nur irgendeins in der viel zu großen | |
Bibliothek schlechter Kinderbücher wäre, würde es sich nicht lohnen, | |
darüber eine Zeitungsseite vollzuschreiben. Aber leider ist es Ausdruck von | |
etwas, das gesellschaftlich verdammt schiefläuft: der Art, wie wir über | |
sexualisierte Gewalt sprechen und wie wir versuchen, Menschen davor zu | |
schützen. | |
Es gibt da nämlich auch „Conni geht nicht mit Fremden mit“ und „Jule geht | |
nicht mit Fremden mit“. Alles Pixi-Bücher – diese kleinen, die man für 99 | |
Cent vom Wühltisch der Bahnhofsbuchhandlung fischt. Daneben gibt es | |
stapelweise andere Bücher mit derselben Botschaft, auch eins von Veronica | |
Ferres. „Ab 3 Jahren“, steht auf der Rückseite der Geschichte von Max. | |
Um es klar zu sagen: Bitte lesen Sie niemals Kleinkindern solche Bücher | |
vor. Und wenn Sie sie in Ihrem Regal finden: Schmeißen Sie sie in den Müll. | |
„Geh nicht mit Fremden mit“ ist der kleine Bruder von „Zieh keinen so | |
kurzen Rock an“. Es sind Handlungsratschläge an potenzielle Opfer. Sie | |
stellen einen Zusammenhang her zwischen ihrem Verhalten und der | |
Wahrscheinlichkeit, dass ihnen Gewalt geschieht. | |
In dem Buch „Ich kenn dich nicht, ich geh nicht mit!“ verhindert eine | |
ältere Frau aus der Nachbarschaft gerade noch, dass Hannah mit einem Mann | |
mitgeht, der ihr ein Welpenfoto gezeigt hat. Das Ende der Geschichte: „Mama | |
weint. Und da weint Hannah auch. ‚Es ist ja alles wieder gut‘, tröstet | |
Charlottes Mama. ‚Wie gut, dass zwei aufgepasst haben – Frau Winterhage und | |
Charlotte.‘ ‚Nein!‘, ruft Mama. 'Jedes Kind muss selbst aufpassen!“ | |
‚Ja‘, sagt Charlotte.“ | |
Jedes Kind muss auf sich selbst aufpassen. Das ist die Botschaft. Und wenn | |
ein Kind das im Ernstfall nicht schafft? | |
Ich befürchte: Mit der Auf-sich-aufpassen-Regel im Kopf ist es schwer, | |
sich nicht mitschuldig zu fühlen. Weil man sie verletzt hat. Dabei wäre das | |
wichtigste Mantra: Es ist immer – immer! – der Täter verantwortlich. Das | |
klingt banal. Aber es ist gerade erst vier Monate her, dass eine Anwältin | |
im Abschlussplädoyer eines Vergewaltigungsprozesses erwähnte, das | |
mutmaßliche Oper habe einen Tanga mit Spitze getragen. | |
## Erziehung mit Angst | |
Es ist verständlich, dass Menschen Angst davor haben, jemand könnte ihr | |
Kind verletzen. Ein Freund fragte mich: Wenn es ein einziges Kind gibt, | |
dass durch solche Geschichten eine Möglichkeit im Kopf hat, sich aus einer | |
Situation zu retten – reicht das nicht schon als Legitimation? | |
Ich finde: Nein. Denn diese Rechnung ignoriert den Schaden, den solche | |
Erzählungen anrichten. Es ist Erziehung, die mit Ängsten arbeitet statt mit | |
Ermächtigung. | |
„Du darfst niemals mit Fremden reden“, sagte eine Freundin ihrer Tochter, | |
fünf Jahre alt, die seit Kurzem samstags alleine die Brötchen holt. Ich als | |
Erwachsene verstehe, was sie meint. Aber was hört ein Kind? „Aber mit der | |
Verkäuferin darf ich reden, oder?“, fragte die Tochter zurück. | |
In der Großstadt begegnen einem Kind fast ausschließlich Fremde. Die | |
Gemüsehändlerin, die fragt, ob es einen Apfel möchte. Der Mensch, der in | |
der U-Bahn die blinkenden Gummistiefel feiert. Der Jugendliche, der ihm auf | |
der Straße hinterherruft, weil ein Handschuh liegen geblieben ist. Wollen | |
wir ihm verbieten, mit ihnen zu sprechen? Was für eine Gesellschaft | |
entsteht, wenn wir Kindern beibringen, dass von Fremden grundsätzlich etwas | |
Schlechtes zu erwarten ist? | |
## Nachts im Park | |
Die Idee, dass der Vergewaltiger ein fremder Mann ist, hat sich | |
eingebrannt. Ich fürchte mich nachts auf dem Heimweg durch den Park, dass | |
jemand in den Büschen lauern könnte. Obwohl ich weiß, dass es viel | |
wahrscheinlicher ist, von dem Typen vergewaltigt zu werden, der eben auf | |
der Party unbedingt noch weiterquatschen wollte. | |
Die harte Realität: Die allermeisten sexualisierten Übergriffe und die | |
allermeiste Gewalt an Kindern geschieht im Vertrauten. Nur etwa 20 Prozent | |
der Täter_innen sind für die Betroffenen Unbekannte. Und bei dieser Gruppe | |
geht es größtenteils um Exhibitionismus. | |
Im Vergleich: Allein 30 Prozent der Missbrauchenden kommen aus dem engsten | |
Familienkreis oder dem Haushalt des Kindes. Das sind die offiziellen Zahlen | |
der Polizei – alle Expertinnen gehen davon aus, dass der Prozentsatz noch | |
deutlich höher liegt, weil Vertraute viel seltener angezeigt werden. | |
Die Art wie Täter konstruiert werden, ist mehr als unbedarfte Pädagogik. | |
Der „Kinderschänder“ erfüllt eine gesellschaftliche Funktion. Er ist „d… | |
Andere“, möglichst fremd, möglichst weit weg. Damit lenken wir davon ab, | |
dass es um alle geht. | |
Wir überschreiten ständig Grenzen. Ich zwinge meinen Kindern meinen Willen | |
auf, lasse sie nicht über ihren Körper bestimmen, jeden Tag. Wenn ich sie | |
hochhebe, ohne zu fragen. Oder mit Sonnenmilch eincreme, obwohl sie das | |
nicht wollen. | |
Das ist etwas anderes. Aber auch dasselbe. | |
Es ist ziemlich gemütlich, seinen Kindern ein Buch vorzulesen über den | |
gefährlichen Mann mit dem Welpenbild, mit ihnen dreimal den Satz zu üben: | |
„Nein, mit Fremden geh ich nicht“, und dann mit dem guten Gefühl | |
einzuschlafen, etwas dafür getan zu haben, dass ihnen nichts geschieht. | |
## Prävention ist anstrengend | |
Ich kann das gut verstehen. Wirkliche Prävention von Missbrauch ist nämlich | |
anstrengend. Weil sie Dinge beinhaltet, die auch Erwachsene nicht richtig | |
können und die im Alltag oft nerven. | |
Zum Beispiel Kindern beizubringen, dass auch Erwachsene Fehler machen und | |
man ruhig sagen darf, wenn sich etwas nicht richtig anfühlt. Nein sagen. | |
Spüren lernen: Was fühlt sich gut an? Wie heißt dieses Gefühl? | |
Empfindungen äußern dürfen. Und die Erfahrung machen, dass sie dann nicht | |
sofort infrage gestellt werden. Über den eigenen Körper, über Nähe und | |
Distanz entscheiden dürfen. Nicht küssen, kuscheln, raufen müssen, selbst | |
wenn Tante Anna beleidigt ist. Geschlechtsteile benennen und so | |
selbstverständlich über sie reden wie über Zeh und Ellenbogen. Grenzen | |
setzen und die Grenzen anderer beachten. | |
Und im besten Fall: lernen, dass man in Notsituationen von anderen | |
Hilfe erwarten kann. „Denn alle, die groß sind, sollen sich um die kümmern, | |
die klein sind. So ist das.“ So endet ein tolles Kinderbuch zu Gewalt in | |
der Familie. | |
Ich habe lange überlegt, was ich zu Max gesagt hätte, der auf dem | |
Sandkastenrand sitzt. Vielleicht hätte ich ihm angeboten, gemeinsam mit dem | |
Regenschirm auf seine Mutter zu warten. Oder ihm zumindest den Regenschirm | |
geschenkt. | |
14 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Luise Strothmann | |
## TAGS | |
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