Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Hausbesuch: Mit Fernweh und Heimweh
> Sie spielte mit Uwe Seeler Fußball, speiste mit Ivan Illich, protestierte
> gegen die Nato und schreibt Bücher gegen Konsumterror.
Bild: Gerne unterwegs, aber auch gerne zu Hause: Marianne Gronemeyer im heimisc…
Weniger ist mehr – was sich so salopp dahersagt, ist Grundlage der
wachstums- und konsumkritischen Philosophie. Die
Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer ist eine ihrer
Vordenkerinnen. Wer Konsum kritisiert, muss auf Genuss indes nicht
verzichten. Zu Besuch im Bahnhof der Gronemeyers in Friesenheim bei
Freiburg.
Draußen: Ein dreistöckiges altes Bahnhofgebäude, umgeben von einem grünen
Garten. Am Gebäude hängt noch das Ortsschild: „Friesenheim“. Die Uhr ist
auf halb sechs stehen geblieben. Der Bahnhof ist ein Glücksfall in
zweierlei Hinsicht: Marianne Gronemeyer und ihr Mann reisen gern, und sie
wohnen gern mit anderen zusammen. Als sie vor bald einem Vierteljahrhundert
zusammen mit ihren Studentinnen und Studenten ein Haus suchten, wurde ihnen
der Bahnhof angeboten. Seither haben sie alles auf einem Fleck, schließlich
sind Bahnhöfe der Inbegriff fürs Wegfahren und Ankommen, für Fernweh und
Heimweh.
Drinnen: Gleich hinter dem Eingang ist die große Wohnküche. Die Hausherrin
kocht gern und möglichst auch für viele. Gemüse holt sie aus dem eigenen
Garten. Heute wohnt hier keine WG mehr, dennoch ist der Bahnhof erweitertes
Lebensumfeld für die Nachbarschaft. „Unsere Tür zum Treppenhaus ist niemals
verschlossen.“
Sommertreffen: Einmal im Jahr findet in Haus und Garten die Friesenheimer
Sommer-Universität statt, zu der die Gronemeyers zusammen mit Freunden
einladen, um drei Tage lang über den Tellerrand blickend ein aktuelles
Thema gemeinsam zu diskutieren, zum Beispiel „Anderssein“, „Einfach leben…
oder „Ohn-Macht“.
Friedensforschung: Dass Marianne Gronemeyer heute Philosophin und Autorin
ist, hat sie der Friedensforschung zu verdanken. Denn um 1967 beschlossen
sie, die bis dahin Lehrerin war, und ihr Mann, ein Theologe mit
Berufsverbot, noch einmal zu studieren. „Damals musste das natürlich
Soziologie sein“, erzählt sie. Im Studium bekamen sie von Hans Eckard Bahr
die Mitarbeit in seinem Friedens- und Konfliktforschungsprojekt an der Uni
Bochum angeboten. „Es ging dabei bald auch um den Protest gegen die
Stationierung der Pershing-Raketen in der Eifel und in Mutlangen“, sagt
sie.
„Entrüstet Euch!“: Im November 1982 verfasste ihre Gruppe einen „Aufruf …
Aufbruch aus dem Irrenhaus – gegen die Nachrüstung“ und brachte diesen
kleinen Text unters Volk – auch in die taz. Auf dem Kirchentag verwandte
Gronemeyer ihre Redezeit darauf, diesen Text zu verlesen. Das war ein
Eklat, aber es brachte die erhoffte Aufmerksamkeit.
Lernen: Damals kritisierte die Studentenbewegung, der sie sich zugehörig
fühlte, die Verstaubtheit der Universitäten und Schulen. Auch
Friedensforscher und Soziologen interessierten sich für alternative Formen
des Lernens. Und so kam ihre Gruppe 1980 mit dem Friedensphilosophen Ivan
Illich in Kontakt. Seine Bücher tragen Titel wie: „Entschulung der
Gesellschaft“, „Schulen helfen nicht“, „Selbstbegrenzung“.
Der Denker: Ivan Illich kam im Wintersemester 1979/80 an die Kasseler
Universität und interessierte sich für kritische Erziehungswissenschaftler,
die sein Denken über die Entschulung der Gesellschaft kannten. Es entstand
ein Freundeskreis, der alljährlich mehrere Male zusammentraf, um mit Illich
über Fragen von Bildung und Bildungspolitik zu sprechen. Zum ersten Treff
sollten sie alle einen Text einreichen, Gronemeyer schrieb zu
Selbstorganisation im Alter und Naturfreunde. Als sie ankamen, begrüßte
Ivan Illich sie mit den Worten: „Sie sind also die, die den Text
geschrieben hat, den ich gerne selbst verfasst hätte! Allerdings gilt das
nur für die ersten drei Seiten. Mit dem Rest werden Sie ein Leben lang zu
tun haben.“ Als sie wieder nach Hause kam, schmiss sie ihre schon halb
fertige Habilitationsschrift in den Papierkorb und schrieb stattdessen das
Buch „Die Macht der Bedürfnisse“ – ein Plädoyer gegen den Konsum.
Konsum: Entmündigung durch die Konsumgesellschaft wurde fortan ihr Thema,
zu dem sie weitere Bücher schrieb, die Titel haben wie „Genug ist Genug“
oder „Das Leben als letzte Gelegenheit“ oder „Die Grenze – was uns
verbindet, indem es trennt“. Während heute die Grenzen zwischen Tod und
Leben, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit verschwinden, argumentiert
sie, entstehen neue Grenzen zwischen uns und den anderen, zwischen
Zugehörigen und Ausgeschlossenen, zwischen Arm und Reich.
Zusammenleben: Weil Ivan Illich ihr so viele CDs mit unpublizierten Texten
gab, gründete sie zehn Jahre nach dessen Tod zusammen mit KollegInnen die
Ivan Illich Stiftung „Convivial“ – zur Förderung des Denkens nach und mit
Ivan Illich. Angeschlossen ist ein Archiv mit Ladenlokal für
Diskussionsrunden in Wiesbaden. Für Ivan Illich war die „Convivialität“
zentral – er genoss die Tafelrunden nach seinen Bremer Vorlesungen und
betrachtete die Freundschaft und Gemeinsamkeit als Kern der
„Convivialität“.
Erinnerung: Momentan ist Marianne Gronemeyer allerdings mit etwas Anderem
beschäftigt. Erst jetzt kam sie an den Briefwechsel zwischen ihrer Mutter
und ihrer Großmutter in den letzten Kriegsmonaten. Die Briefe kamen vor
allem von der Großmutter, die mit einem Sohn einen Bauernhof in Karzig bei
Naugard in Pommern, heute Polen, bewirtschaftete, während ihre Mutter mit
ihren zwei Kindern, Marianne Gronemeyer kam 1941 zur Welt, in Hamburg
lebte. Als das Bombardement von Hamburg begann, flohen sie zeitweilig auch
zu Mariannes Großmutter nach Pommern. „Und so kam es, dass ich in meiner
frühen Kindheit noch einen voll funktionierenden Bauernhof mit Kühen,
Hühnern und Garten erleben konnte. Das war natürlich das Paradies.“ Abends
strickten die Frauen und hörten im Radio vom Vorrücken der Roten Armee. Als
die Front näher kam, mussten sie zurück nach Hamburg. Das war schrecklich.
Jede Nacht legten sich alle angezogen ins Bett und jede Nacht gab es
Bombenalarm, immer hinunter in den Keller, in den Bunker.
Großfamilie: Bei Kriegsende trafen sich alle Geflüchteten und Ausgebombten
in der 60-Quadratmeter-Wohnung ihrer Mutter. Zuletzt, als sich auch der auf
der Flucht verloren gegangene Cousin einfand, der über den Suchdienst des
Roten Kreuzes aufgespürt wurde, waren sie dort zu zwölft. „So hatte ich
indirekt noch zwei ältere Brüder, und das war für uns Kinder natürlich
toll.“
Hunger: Einfach allerdings war das Leben nicht. Die Mutter musste von ihren
Essensmarken, die für drei galten, für sie und ihre zwei Kinder, zeitweilig
alle miternähren. Die Kleinen fanden es ungerecht, dass die beiden älteren
Vettern – im Gegensatz zu ihnen – zwei Scheiben Brot bekamen, bloß weil sie
größer waren. Dann aber kamen die ersten Carepakete der Quäker und die
„Schwedenspeisen“ für ausgesucht bedürftige Kinder. Mit einem
Henkeltöpfchen mussten sie sich ihre Portion in einem bestimmten Lokal
holen und dort auch gleich essen. Das habe ihr, sie war damals fünf oder
sechs Jahre alt, fast das Herz zerrissen, „das war so grausam“, wieso bloß
durfte sie ihr Glück nicht mit den anderen teilen?
Uwe Seeler: „Als es wieder genug zu essen gab, war es eine wunderschöne
Kindheit“, sagt sie. Die Kinder aus der Nachbarschaft spielten zusammen. Es
gab nur zwei Regeln: 1. mit keinem „Mitschnacker“ mitgehen und 2. nicht auf
die Trümmergrundstücke. Sie hatten Fußballmannschaften in ihren Straßen,
ihre war die aus dem Lokstedter Weg. Uwe und Dieter Seeler gehörten dazu.
Heute staunt die Soziologin über die unendlichen Netzwerke dieser Familien
damals, „wie weit das reichte und wie viele der Nachbarn dazu gehörten!“.
Und alles hat man sich in den Briefen erzählt. „Diese Armutskindheit ist
das große Privileg meines Lebens“, sagt sie.
29 Mar 2019
## AUTOREN
Elisabeth Meyer-Renschhausen
## TAGS
Friedensforschung
Konsumkritik
Nachkriegszeit
Entschleunigung
Gentrifizierung
Selbstverteidigung
Gentrifizierung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Der Hausbesuch: Ein braver Revoluzzer
Es gibt noch Hausbesitzer, die nicht auf Teufel komm raus die Miete
erhöhen. Der Weltverbesserer Gerhard Oschmann aus Berlin ist so einer.
Der Hausbesuch: Das Ziel ist Deeskalation
Frauen, die Selbstverteidigung lernen, können damit auch schutzlose Momente
verarbeiten. Die Kickboxerin Claudia Fingerhuth macht es vor.
Der Hausbesuch: Ein Schnitt für jeden Körper
Aus Ghana kam Victor Ankobea nach Deutschland. In Berlin hat er ein
Nähatelier – noch. Das Haus wurde verkauft, sein Laden gekündigt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.